Terrorfreie Katastrophe in New York: Die Börse triumphiert

New Yorker Augenzeugen erlebten den erneuten Absturz eines Flugzeugs aus heiterem Himmel als Wiederholung des 11. September. Die Börse reagierte positiv.

Einen Tag nachdem der A300-Airbus der American Airlines auf seinem Flug 587 mit 251 Passagieren und 9 Besatzungsmitgliedern an Bord auf Wohnhäuser der Halbinsel Rockaway in New York krachte, stieg der Dow-Jones-Index um 95,63 Punkte oder 1 Prozent und der Nasdaq gar um 37,26 Punkte oder 2,02 Prozent. «Wir sind erleichtert, dass der Absturz offenbar nicht terrorismusbedingt ist», sagte einer der Wall-Street-Makler und fügte an: «Die Leute hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist, das hilft uns ebenfalls.» Er hatte offenbar bereits die Dienstagmorgennachrichten gehört, die landesweit den Einmarsch der afghanischen Nordallianz nach Kabul feierten. Die Börse nimmt, das ist nicht anders zu erwarten, beide Ereignisse – den Flugzeugabsturz mit über 260 Toten und den Krieg in Afghanistan, ob US-Bomben oder handfestes Gemetzel zwischen den verschiedenen Warlords – nur insofern wahr, als sie im Augenblick gut oder schlecht sind fürs Geschäft.

Doch auch die offizielle US-Politik hat zurzeit einen ausserordentlich verengten Blick. Die Hauptakteure, die beiden Republikaner Präsident George W. Bush und Noch-Bürgermeister Rudolph W. Giuliani, sind beide in den Niederungen des politischen Alltags eher unprofilierte Charaktere, da durch komplexe gesellschaftliche Probleme schnell mal überfordert. Doch nach dem neuesten Absturz auf New York liefen sie wie schon in vorhergehenden Krisensituationen – von der Kunstausstellung bis zum Krieg der Kulturen –, in denen sie vielschichtige Politik mit schwarz-weisser Moral und forschem Militarismus ersetzen konnten, zu ihrer männlich-klaren Höchstform auf.

Sie übten die neuen Terrorszenarien – Brücken sperren, Flughäfen schliessen, Luftraumüberwachung intensivieren. Und sie lobten die New YorkerInnen als «die mutigsten, stärksten und entschlossensten Bürger des Landes». Das sei nur ein weiterer Test, versicherten sie sich gegenseitig am Telefon, und die Stadt werde auch diese Prüfung bestehen. «Die Stadt bleibt offen fürs Geschäft», bestätigte Giuliani. Eine Beschwörung der Normalität, die mittlerweile Eingang in die politische Karikatur gefunden hat: Ein Paar hört die Standardfloskel am Fernsehen. O.k., sagt der Mann in Camouflage zur Gattin, du kaufst ein und ich gebe dir MG-Deckung.

Die Medien wissen nicht recht, ob sie den Unfall publizistisch an den 11. September «anhängen» sollen, um die einmalige Publikumsbindung zu nutzen und zu stärken. Immerhin gibt es viele Augenzeugen, die den 12. November in Queens als Wiederholung des Schreckens in Manhattan erlebten: Wieder fallen Flugzeugteile, fallen Menschen vom Himmel, wieder dieser beissende Fleischgestank in schwelenden Trümmern. Ausserdem stürzte der Airbus auf ein Wohnquartier, das Dutzende von Opfern der World-Trade-Center-Attentate zu beklagen hat und wo das neue Unglück mehrere Gedenkgottesdienste für die im September Verstorbenen, mehrheitlich Feuerwehrleute, unterbrach.

Doch nach wochenlangen Warnungen und Entwarnungen und immer neuen Biowaffen-Szenarien sind die MedienkonsumentInnen terrormüde geworden, abgestumpft. Die neuesten Anthrax-Funde, am Dienstag etwa in der Howard University in Washington D.C., oder die aktuellsten Anthrax-Theorien – das FBI tendiert gerade mal wieder zum hausgemachten Bioterror – schaffen es kaum mehr in die Schlagzeilen. Ein technischer Unfall, eine vergleichsweise unpolitische Tragödie wird in diesem Umfeld beinahe schon zur guten oder jedenfalls entlastenden Nachricht; auch wenn der interviewte Mann von der Strasse schon mal zu bedenken gibt, dass auch die ersten Anthrax-Fälle als «nicht terroristisch» eingestuft wurden.

Die Aviatikexperten streiten sich über die Wahrscheinlichkeit einer solch totalen Explosion aufgrund von Maschinenversagen und über die Güte und Verlässlichkeit der Airbus-Motoren – ein europäisches Produkt, wie sie gern betonen – im Allgemeinen. Sie spekulieren über die Gründlichkeit der Kontrollen, die aufgrund von bekannten Materialproblemen vermehrt vorgenommen wurden; die letzte davon nur einen Tag vor dem Unglück. Die Wirtschaftsvertreter jammern über den erneuten Schlag gegen die Flugindustrie und speziell über die nach dem 11. September verfünffachten und nun erneut massiv erhöhten Versicherungskosten.

Niemand redet über die hunderttausenden von ArbeitnehmerInnen in der Reisebranche, die in den letzten Monaten ohne Sozialnetz entlassen worden sind. Oder über die hunderttausenden von PilotInnen, FlugbegleiterInnen, Sicherheitsleuten, Mechanikern, die überfordert und unterbezahlt weiterarbeiten müssen. Sogar in der gegenwärtigen Ausnahmesituation weigert sich die US-Regierung bekanntlich, das Sicherheitspersonal in den Flughäfen, wie das in Europa üblich ist, zu staatlichen Beamten zu machen; noch mehr als muslimische Terroristen fürchtet sie offenbar gewerkschaftlich organisierte Männer und Frauen.

Weil die Bushs und die Börsen dieser Welt sehr kurzfristig und sehr egozentrisch denken, mögen sie im Augenblick triumphieren – der Flugzeugabsturz bloss ein technisches Versagen, der Marsch auf Kabul ein militärischer Teilsieg für die USA. Doch die humanitäre Krise in Afghanistan und die Verletzbarkeit hoch technisierter Gesellschaften wird ihre Tageskurse auch in Zukunft wild ausschlagen lassen. Unmittelbar nach den Berichten und Bildern von rauchenden Trümmern in New York las ich am Dienstagmorgen den Augenzeugenbericht des erfahrenen Kriegsreporters David Rohde über plündernde und mordende Soldaten der von den USA unterstützten Nordallianz. Für einmal waren auch Bilder dabei, grausame Dokumente des jüngsten Krieges in Afghanistan, der, anders als der optimistische Börsenhändler glaubt, noch lange kein gutes Ende nehmen wird.