Thanksgiving im Irak: Opfer eines grandiosen Wahns

Der Blitzbesuch des US-Präsidenten George Bush auf dem Flughafen von Bagdad war nur einer von vielen Auftritten auf der viel genutzten politischen Bühne Irak.

Am Sonntag nach der Thanksgiving-Stippvisite von US-Präsident George Bush bei den Truppen im Irak besuche ich eine kleine ärmliche Kirche in einem abgelegenen Teil Neuenglands. Es ist der erste Advent. Eine blonde Frau mittleren Alters im farbenfrohen und etwas aus der Mode gekommenen Hippiekleid zündet mit ihrem kleinen lateinamerikanischen Adoptivsohn eine Kerze des Friedens an. Dann spricht sie von ihrem andern Sohn, der im Irak Militärdienst leistet. Sie holt eine Zeitung hervor und zeigt aufs Titelbild: Da, der junge Mann, der zusammen mit dem Präsidenten der USA in Bagdad den riesigen Truthahn serviert, das ist ihr Sohn. Die Frau leuchtet vor Stolz; die ganze Gemeinde – eine arme und durch Bushs Politik weder steuermässig noch sonst wie begünstigte Gemeinde – strahlt, als habe sie soeben ein zweites grandioses Weihnachtswunder erlebt. Beim obligaten Kirchenkaffee erzählt mir die Frau, wie sie am Morgen des Erntedankfestes einen Stossseufzer zum Himmel geschickt habe – wäre mein Sohn doch hier! –, und auf ganz wunderbare Weise sei der Sohn ihr darauf nahe gebracht worden. In ihrer Bedürftigkeit sieht die Mutter in Bushs Inszenierung im Irak, was sie sehen will: ein Zeichen des Himmels; ihren Sohn in Sicherheit; eine seltene Möglichkeit zur Selbstbestätigung.

In den USA sehen zurzeit im Irak alle das, was sie sehen wollen. So viele Gruppierungen – von kriegerischen Neokonservativen, Kriegsgewinnlern und patriotisch fixierten Working Poor bis hin zu Liberalen und Linken – benutzen den Irak nach dem Fall Saddam Husseins als Bühne, als Projektionsfläche für ihre eigenen Pläne, Hoffnungen und Befürchtungen, ohne sich gross für die Realität, das Land selbst und seine Bevölkerung zu interessieren. Allen voran tut das natürlich Präsident Bush. Es stört ihn offenbar nicht, dass er, der selbst ernannte Befreier von Bagdad, hochgeheim und durch die Hintertür in den Internationalen Flughafen von Bagdad eingeschleust werden muss und in dieser Hochsicherheitszone gefangen bleibt. Es ist auch egal, dass in der irakischen Hauptstadt wie so oft in den letzten Wochen und Monaten die Lichter ausgehen, während der Chef der Besatzungsmacht im Rampenlicht und Fotogeblitze den übermästeten Truthahn präsentiert. Die TV-Szene ist ja nicht für die IrakerInnen, sondern für das wahlberechtigte Publikum in den USA konzipiert. Und hat dort offenbar die erwartete Kurzzeitwirkung getan: Die Popularität des Präsidenten stieg in den Tagen nach dem zweistündigen Truppenbesuch merklich an.

Die US-Medien haben die informationsarmen Thanksgiving-Tage gerne mit Bush in Bagdad überbrückt. Allerdings unterschätzten der Präsident und seine PR-Berater die Dynamik der Massenmedien. Präsident und Puter allein geben nicht Fernsehstoff für mehrere Tage her. Erst zogen die JournalistInnen so ehrwürdige historische Präsidentenbesuche wie das Treffen Franklin D. Roosevelts mit Winston Churchill während des Zweiten Weltkrieges oder John F. Kennedys geheime Rückkehr ins Weisse Haus 1962 wegen der Kuba-Krise zum Vergleich heran. Mit der Zeit aber tauchten immer häufiger andere, politisch heiklere Parallelen auf: Am prominentesten und hartnäckigsten wurden die Besuche von Lyndon B. Johnson und Richard Nixon Ende der sechziger Jahre in Vietnam ins Bild gerückt.

Ist der Irak ein zweites Vietnam? Die Rechten scheuen Vietnam-Vergleiche wie der Teufel das Weihwasser. Die Linken erinnern umso beharrlicher an diesen Teil der US-Geschichte. Seit die Anzahl der toten US-Soldaten im Irak steigt, klauben auch die Mainstreammedien in den USA diese Verbindung aus den Archiven. Aus dem Irak selber hört man forsche US-Offiziere, die sagen, dies sei kein Vietnam, die USA seien Nummer eins und würden gewinnen. Man vernimmt verunsicherte Soldaten, die nach ihren Hausdurchsuchungen und -zerstörungen verängstigte Frauen und Kinder zurücklassen oder auf ihren nächtlichen Patrouillen ein patziges «Salam aleikum» in die unheimliche Stille hinauswerfen, halb blind in einer fremden Umgebung, ganz wie in Vietnam. Wer immer in den USA heute die Vietnam-Parallele sucht oder scheut, meint damit Sieg und Niederlage der eigenen Nation und nicht die Beschaffenheit und historische Situation der irakischen und der vietnamesischen Gesellschaft. Vietnam – und nun der Irak – sind in diesem Zusammenhang keine konkreten Orte mit konkreten Menschen, sondern Plattform für amerikanischen Kriegstaumel oder amerikanische Kriegstraumata.

Als «Bühne im globalen Krieg gegen Terrorismus» bezeichnet US-Aussenminister Colin Powell für gewöhnlich den Irak. Zwar glaubt selbst in den entsprechend indoktrinierten USA bloss eine Minderheit der Bevölkerung, dass der Irak-Krieg massgeblich der Terrorbekämpfung dient oder etwas mit dem Terrornetzwerk al-Kaida zu tun hat. Aber die Regierung Bush hat seit den Anschlägen vom 11. September 2001 den Begriff Terrorismus stetig erweitert, der nun, weitreichender als es das Feindbild «Kommunismus» je vermochte, Feinde jeglicher Art diffamiert. Gemäss der neusten republikanischen Wahlpropaganda fallen darunter auch die meisten demokratischen Kandidaten, die «den Präsidenten angreifen, weil er die Terroristen angreift». Zum Entsetzen vieler aussenpolitischer Regierungsbeamter macht der Präsidentschaftskandidat Bush all ihre Versuche eines Imagewechsels vom Cowboy zum Staatsmann zunichte. Bush präsentiert sich seinen WählerInnen unbeirrt als Obersheriff, der zuerst schiesst und – wenn überhaupt – erst nachher denkt.

Der Irak sei das wichtigste politische Projekt für die USA, verkünden massgebliche US-Kommentatoren mit liberalem Selbstverständnis. Sie fragen, ob der Irak von Saddam Hussein zu Thomas Jefferson finde, ohne Ajatollah Chomeini als Zwischenstation – als ob der weisse, Sklaven haltende Gründervater der USA Jefferson ein universal gültiges Modell für Demokratie abgäbe. Doch während man auf der politischen Bühne Iraks vorläufig noch Scheingefechte austrägt, werden auf der militärischen und wirtschaftlichen Ebene wichtige Weichen gestellt. Im Schatten der Diskussion um Stärke und zeitliche Präsenz der US-Besatzungstruppen werden im Irak – wie auch in andern strategisch wichtigen Regionen wie am Horn von Afrika, in Zentral- und Südostasien, in ehemaligen Sowjetrepubliken und den ehemaligen sozialistischen Staaten – die US-amerikanischen Basen ausgebaut. Es entsteht ein ganzes Basenimperium, das von seinen speziellen «Gated Communities» aus, von den eingezäunten Sondergebieten mit eigener Sonderrechtssprechung, so wichtige Dinge wie Ölressourcen kontrolliert. Der Irak ist zurzeit so etwas wie eine überdimensionierte US-Basis: Im ganzen Land geniessen GIs Sonderrechte. Bereits letzten Juni haben die USA den irakischen Gerichten verboten, Klagen gegen US-Soldaten, andere fremde Truppen oder Beamte auch nur anzuhören.

«Die armen irakischen Geschäftsleute», höhnte kürzlich die «New York Times», «nach mehr als vierzig Jahren Dahinsiechen in einer staatlichen Planwirtschaft begegnen sie nun einer neuen Bedrohung: dem Wettbewerb.» Die Besorgnis der irakischen Unternehmer ist jedoch verständlich. Ohne Rücksprache mit den Betroffenen wurde im Oktober von US-Statthalter Paul Bremer und einem eher widerstrebenden irakischen Regierungsrat ein Gesetz erlassen, das das irakische System mit einem Schlag zur am wenigsten regulierten freien Marktwirtschaft der arabischen Welt macht. Es erlaubt AusländerInnen den hundertprozentigen Besitz von Geschäften, selbst Banken, im Irak. Es kürzt die Importzölle auf fünf Prozent und limitiert den maximalen Steuersatz für Privatpersonen und Geschäfte auf magere fünfzehn Prozent. «Die ganze Republikanische Partei der USA ist neidisch auf das neue irakische Steuergesetz», witzelte Michael Fleischer, Chef der provisorischen Aufsicht über die Entwicklung des Privatsektors, und dozierte vor der irakischen Handelsvereinigung: «Das Gesetz des Marktes ist hart. Nur die Besten von euch werden überleben.» Doch diesen Besten verspricht Fleischer «ein ökonomisches Wunder zwischen Euphrat und Tigris».

Am Ausführlichsten wird zurzeit in den USA der Irak als «Krieg nach dem Krieg» diskutiert: die Taktiken von Militär und Aufständischen, die bürokratischen Fehlleistungen vor und während der Besatzung, die Fehleinschätzung des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, der gesagt hatte, es sei kaum vorstellbar, dass es mehr Streitkräfte brauche, um Stabilität im Post-Saddam-Irak zu garantieren, als für den Krieg selber. Doch der linke Medienbeobachter Norman Solomon erinnert daran, dass nicht die Art der Besatzung, sondern deren Legitimität im Zentrum der Kritik stehen sollte. Und natürlich deren Beendigung: Wie können die USA eine politische Autorität «übergeben», die sie gar nie besessen haben?

Ghassan Salamé, ein Experte für internationale Beziehungen, Kulturminister des Libanon und ehemaliger Berater des Uno-Gesandten für den Irak, hat kürzlich in London den «wahrhaft imperialen Ehrgeiz» der US-britischen Koalition verurteilt, die im Irak eine ganze Reihe eigener grosser Pläne verwirklichen wolle: den Aufbau einer strategischen Festung, die Errichtung eines beispielhaften Demokratiemodells, eine Lösung für den Nahostkonflikt, den Kreuzzug gegen den Terrorismus... Wenn der Irak nicht von der Bürde befreit werde, eine Rolle zu spielen, die seine Möglichkeiten übersteige, so Salamé, dann bleibe das Land wie zu Saddam Husseins Zeiten Opfer eines grandiosen Willens oder Wahns.