Ukraine: Die Tanten von Lemberg

In ihren Biografien spiegelt sich die Geschichte der Ukraine seit dem Zweiten Weltkrieg: Die Schwestern Irena und Jadwiga Zappe haben Repression, Hunger und Hass überlebt. Heute geniessen sie in Lwiw Legendenstatus.

Das Haus soll einmal ein Prachtstück gewesen sein. Wie ganz Lemberg (ukrainisch Lwiw). Bunte Rosen im kleinen Vorgarten zwischen Fassade und Gehsteig, blühende Bäume im Hinterhof. Im Stiegenhaus Jugendstilglasmalereien, Eisengitterornamente an der Eingangstür. Heute bröckelt überall der Putz, die Rosensträucher sind längst ausgerissen, die bunten Glasscheiben ausgeschlagen. Dort, wo auf den Stiegen Halterungen für den Teppichläufer angebracht waren, klaffen Löcher.

Puschkin-Strasse hiess über Jahrzehnte die Adresse. Bis nach der Unabhängigkeit der Ukraine die Strasse nach General Taras Tschuprynka benannt wurde, einem ukrainischen Nationalistenführer und überzeugten Polenhasser. Nun wohnen die Polinnen Irena und Jadwiga Zappe also in der Tschuprynka-Strasse, Zufahrt über die Bandera-Strasse – auch dieser Namensgeber ein glühender Nationalist. Noch vor knapp zehn Jahren trug die Bandera-Strasse den Namen des grossen polnischen Dichters Juliusz Slowacki. «Früher hatten wir hier zwei Dichter, jetzt haben wir zwei Generäle. So ändern sich eben die Zeiten», sagt Irena verschmitzt.

Tschuprynka-Strasse also, zweiter Stock, Familienwohnung der Zappes. Knapp unter achtzig ist Jadwiga, wenig darüber Irena. Beide trotz ihrem Alter hellwach, beide – obwohl es noch gar nicht so kalt ist – in dicke Jacken gehüllt, an den Füssen grosskarierte Filzpantoffeln. Beide klein und zierlich. In der rund 50 000 Menschen starken polnischen Minderheit von Lemberg haben die Schwestern so etwas wie Legendenstatus. Nicht nur wegen ihres andauernden Einsatzes dafür, was die Polen hier «unser Erbe» nennen; in den persönlichen Geschichten von Irena und Jadwiga Zappe widerspiegelt sich auch nahezu ein ganzes Jahrhundert Lemberger Stadtgeschichte – und die Komplexität der polnisch-ukrainischen Verwicklungen dazu.

Grossvaters Flucht

Dass die Zappe-Schwestern in Lemberg leben, haben sie ihrem Grossvater zu verdanken. Grossvater Zappe war polnischer Freiheitskämpfer im russischen Zarenreich oder, besser gesagt: im russischen Teil des zwischen Russland, Preussen und Österreich geteilten Polen. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, war er vor allem damit beschäftigt, gegen die zaristischen Besatzer zu konspirieren. Als es für ihn nach einem fehlgeschlagenen Aufstand auf russischem Boden zu gefährlich wird, gibt es nur einen Ausweg: die Flucht in den relativ liberalen, österreichischen Teil. Zum Glück kennt Zappe einen Pfarrer, auf den Verlass ist. Als er mitten in der Nacht bei ihm anklopft, zögert Monsignore keine Sekunde. Er lässt die Pferde vorspannen und kutschiert den verfolgten Landsmann persönlich über die Grenze. «Solche Pfarrer, die den Leuten sofort helfen, die gibt es heute nicht mehr», bedauert Frau Jadwiga, als sie die Fluchtgeschichte ihres Grossvaters nacherzählt.

Pfarrer, die gestrandete Aufständische durch dunkle Wälder ausser Landes schmuggeln, mögen heute tatsächlich Seltenheitswert haben; den Glauben an Gott kann das den Schwestern nicht nehmen. Im Wohnzimmer der beiden steht eine Statue der Mutter Gottes auf der Kredenz, daneben unzählige Vasen mit frischen Blumen. Wie auch könnten Polinnen ausgerechnet in Lemberg Gott abtrünnig werden, wo doch die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben ein elementares Erkennungszeichen der hiesigen polnischen Minderheit ist. Einer Minderheit, die über lange Jahrzehnte die Stadt politisch, wirtschaftlich und kulturell dominierte, um später selbst verfolgt, geächtet, an den Rand gedrängt zu werden. In den Strassen von Lemberg wird Polnisch heute vor allem von TouristInnen gesprochen, doch in den Kirchen der Altstadt ist es anders. Allenthalben ist ein seltsam antiquiertes, lang gezogen melodisches Polnisch zu hören, das typisch ist für die «kresy», die polnischen Randgebiete, wie die Polen den galizischen Teil der Ukraine auch heute noch nennen.

Besatzung, Hass, Mord

Doch zurück zu Grossvater Zappe. Das kleine Dorf unweit Lemberg, in das ihn der Pfarrer brachte, wurde für Zappe letztlich zur Heimat für sein restliches Leben. Als Agronom war Zappe im Dorf willkommen und angesehen. «Den ukrainischen Bauern», erzählt Jadwiga, «hat er viel beigebracht. Die hatten ja nichts, die lebten fast wie im Mittelalter.» Bald stieg Zappe zum Dorfverwalter auf. Die österreichischen Behörden hatten nichts einzuwenden. Es war ohnehin ein altes Prinzip der österreichischen Monarchie, ihre Völker gegeneinander auszuspielen. In dieses Bild passt daher gut, dass Wien Verwaltungsposten eher an Polen vergab, gleichzeitig aber unter den ukrainischen Bauern diskret gegen die Polen Stimmung machten.

Seinen Höhepunkt erreichte der Hass der Ukrainer gegen die als Besatzer empfundenen Polen aber erst in der Zwischenkriegszeit, als die Westukraine polnisches Staatsgebiet wurde, polnische Nationalisten orthodoxe Kirchen zerstörten und alle Ukrainer bedrohten, die sich nicht zum Polentum bekannten. Damals wurde der Grundstein für eine Tragödie gelegt, deren Opfer bald auch die Familie Zappe werden sollte.

1941, als die deutsche Armee immer weiter nach Osten vorrückt, erlebt die Ukraine eine kurze Zeit nationalen Rausches. Unter deutschem Protektorat, so die trügerische Hoffnung, werde eine unabhängige Ukraine auferstehen, eine Ukraine ohne die polnischen Unterdrücker. Noch bevor die deutschen Truppen das Land unter Kontrolle bringen, beginnen in den Dörfern nationalistische Ukrainer schon vorsorglich damit, ihre polnischen NachbarInnen zu morden. Als Waffe dient, was zur Hand ist: Messer, Heugabeln, Sensen. Das Dorf, in dem Grossvater Zappe Verwalter war und wo die Familie – obwohl inzwischen in Lemberg sesshaft – noch immer ein Haus hat, bleibt von den Unruhen nicht verschont. Zwei Geschwister von Irena und Jadwiga, die dort mit Verwandten Ferien machen, werden nachts von einem Nachbarn in ihren Bettchen gelyncht.

Vier Grad im Wohnzimmer

Es vergehen mehrere Tage, bis die Familie vom Unglück erfährt. Als die Gerüchte über die Rachemorde in der Umgebung zunehmen, fährt der Vater mit dem Zug von Lemberg hinaus aufs Dorf. «Er hatte rabenschwarze Haare», erzählt Jadwiga. «Als er an diesem Abend zurückkam, waren sie schlohweiss. Er sagte kein Wort, setzte sich aufs Bett und fing an zu weinen. Ich habe ihn nie so weinen gesehen, nicht vorher und auch nicht nachher.»

Das Unglück stürzt die Familie in ein tiefes Loch. Die Mutter wird vom Verlust so schwer mitgenommen, dass ihre Beine von einem Tag auf den anderen den Dienst versagen. Monatelang liegt sie im Bett. Jadwiga, die ursprünglich ihre Ferien auch in dem Dorf verbringen sollte, macht sich Vorwürfe, dass sie den Tod ihrer Geschwister überlebte. Das junge Mädchen versinkt in Depressionen. Dass sie die kranke Mutter pflegen musste, habe sie, sagt Jadwiga heute, wahrscheinlich vor einem Selbstmord bewahrt. Später kehrt nach und nach der Lebensmut zurück.

Doch die Zeiten sind schwer: Je länger der Krieg dauert, desto rarer werden Lebensmittel und Heizmaterial. An manchen Tagen sind im Wohnzimmer gerade vier Grad über null. Ihr einziger Lichtblick in dieser Zeit, erzählt Jadwiga, ist ausgerechnet ein Besatzer, ein Deutscher. «Er hatte in Lemberg ein technisches Büro und nahm mich im Frühling als Zeichnerin auf. Immer wenn die Sonne schien und es warm war, drückte er mir einen Brief in die Hand. 'Bring ihn zum Briefkasten', sagte er, 'aber nicht zum nächstgelegenen, sondern schau, dass du am Park vorbeikommst. Bleib dort ein bisschen sitzen. Ich will dich erst in zwei Stunden wieder sehen.'»

Als Lemberg nach dem Krieg wieder in sowjetische Hände kommt, kann für Jadwiga der Job beim freundlichen Deutschen leicht zum Verhängnis werden: Die Firma hat unter anderem Landkarten für die Wehrmacht gezeichnet und war somit Teil der deutschen Kriegsmaschinerie. Zum Glück kümmert sich in den Nachkriegswirren keiner darum.

«Politisch unzuverlässig»

Probleme mit der Staatssicherheit sollten die beiden Frauen dennoch bald kriegen. Beide gelten sie ihres offenen Bekenntnisses zum katholischen Glauben wegen als politisch unzuverlässig. Ihre Studien lässt man sie noch beenden: Jadwiga wird Bibliothekarin und kommt in der Universitätsbibliothek unter, Irena schliesst ihr Studium der Veterinärmedizin ab. Doch nachdem sie sich als Assistentin und Vortragende an der Uni allmählich einen Namen zu machen beginnt, kommt prompt eine Vorladung von den Herren vom KGB. Weit hat sie es nicht, die Wächter über die Sowjetideologie residieren ein paar Häuserecken vom Haus der Schwestern entfernt.

«Sie sind doch Katholikin?», fragt der Oberst in strengem Ton. «Sie wissen doch, dass Katholiken nicht mit der Jugend arbeiten dürfen. Sie dürfen nicht an der Universität unterrichten.» «Wenn ich das nicht darf, dann gibt es nur einen Ausweg», gibt Irena zurück, «dann müssen Sie mich entlassen.» Die Kündigung bleibt aus. Doch bis zum letzten Tag ihrer Berufslaufbahn wird Irena nicht wie eine Professorin, sondern wie eine technische Hilfskraft bezahlt. Wissenschaftliche Artikel, die sie schreibt, dürfen nicht unter ihrem Namen erscheinen.

Und trotzdem, nicht alles war damals nur schlecht, sagen die Schwestern heute. Der russisch dominierte Sowjetstaat habe seine Untertanenvölker vielleicht schlecht behandelt, aber er behandelte sie wenigstens alle gleich schlecht. Für die polnische Minderheit in Lemberg war die Sowjetmacht daher auch eine gewisse Absicherung gegen den ukrainischen Nationalismus, sagen die Frauen. In den Sowjetjahren haben Polen und Ukrainer in Lemberg auch wieder gelernt, irgendwie miteinander auszukommen. Das Misstrauen ist dennoch bis heute geblieben. «Schauen Sie!», sagt Jadwiga und holt einen soeben erschienenen Bildband über Lemberg hervor, «die Fotos in diesem Buch sind wunderbar, aber was die da schreiben: alles Lügen. Die Ukrainer tun doch so, als ob wir Polen mit dieser Stadt nichts zu tun hätten.» Irena kommt mit Tee und Keksen ins Zimmer. «Es sind ukrainische Kekse, sie schmecken aber trotzdem gut», versichert sie.

Die mutigen Kinder

Mehrmals noch werden die beiden in den Lemberger KGB-Sitz beordert. 1976 erwischt es Jadwiga – und fast werden dreizehn Jahre Haft daraus. Die Anklageschrift ist bereits fertig. Der Vorwurf: Die Polin hätte in ihrem Haus nicht nur, was sie tatsächlich tat, polnischen Kindern Nachhilfe gegeben, sondern, was sie nicht tat, dafür Geld genommen und gegen die Sowjetmacht agitiert. Die Anklageschrift war mit den KGB-üblichen Methoden vorbereitet worden: Die als Zeugen angeführten Kinder holte man von der Schule ab und zwang sie zu den Aussagen, die der leitende Offizier zur Anklage brauchte. Doch die Mädchen und Buben liessen sich nicht gänzlich einschüchtern: Sie kamen zu den «Tanten» und beichteten, oft weinend, was passiert sei. Alle – und es waren über zwanzig – widerriefen später ihre Aussagen. Jadwiga hat Tränen in den Augen, als sie das erzählt: «Das waren Zwölf-, Dreizehnjährige. Und sie hatten so viel Mut.» Vom Sofa blicken ein alter Teddybär, ein abgegriffener Plüschaffe und ein Spielzeughund herüber. «Wissen Sie», sagt Irena, «das waren oft Kinder aus sehr armen Familien, viele ohne Mutter, ohne Vater. Wir haben versucht, diesen Kindern ein Zuhause zu geben. Dafür haben uns manche ihr letztes Spielzeug geschenkt.»

Schauen, dann urteilen

Heute sind viele der früheren Zöglinge von Irena und Jadwiga geachtete Leute in Lemberg. Sie arbeiten im Radio, als Ärzte, haben Unternehmen gegründet. «Sie kommen bis heute zu uns», erzählt Irena. «Und sie wollen uns dauernd helfen», lacht sie, «auch wenn es gar nichts zu helfen gibt. Gestern war wieder einer da. Der hat sich so gefreut, dass er wenigstens den Müll entsorgen durfte.»

Die Unterstützung durch «unsere Kinder» und durch den Teil der Familie, der inzwischen in Polen lebt, ermöglichen es heute den beiden Frauen, trotz ihren kargen Mindestpensionen einigermassen über die Runden zu kommen. «Uns geht es gut», versichern sie unisono. «Wir sind bis heute nicht verhungert und werden es auch morgen nicht sein.» Obwohl, das geben sie schon zu, für alte Leute sei die Lage in den letzten Jahren immer schwieriger geworden: «Es gab früher nicht so viele Reiche wie jetzt, aber auch nicht so viele Arme.»

Und die Präsidentschaftswahlen, die Chancen auf eine Wende? Irena und Jadwiga winken ab. «Wir haben hier so viele wechselnde Herrscher und Politiker erlebt, dass wir uns angewöhnt haben, zuerst einmal zu schauen, was kommt. Urteilen kann man dann immer noch.»

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