Und abends zum Stephansdom

Wiens Zentrum, der Platz um den Stephansdom, ist seit dem Beginn der Nato-Aggression gegen Jugoslawien fest in serbischer Hand. Täglich demonstrieren hier zwischen 1000 und 3000 jugoslawische GastarbeiterInnen, an Wochenenden finden sich auch schon mal 10 000 Protestierende ein. Organisiert vom Verband jugoslawischer und serbischer Kulturvereine, versammeln sich die KriegsgegnerInnen ab 20 Uhr. Die Bühne fungiert als offenes Forum, aus den Lautsprechern tönen abwechselnd Volkslieder und Jugo-Rock, täglich erklingt die Nationalhymne und die Mehrheit der Anwesenden singt mit. Über eine Satellitenanlage werden direkt Bilder des Belgrader Fernsehens auf eine grosse Videowand geworfen. Die Stimmung ist gut bis nachdenklich, Informationsaustausch über Bombenziele und Familienkontakte spielen eine grosse Rolle. Trillerpfeifen und Trompetenlärm geben den Kundgebungen fallweise das Flair eines Fussballstadions, manch ein Jugendlicher trägt das T-Shirt seines Stars von «Roter Stern Belgrad». Auch die vielen Kids in modischem Outfit mit Handys am Ohr wirken für demonstrationsgewohnte Linke etwas seltsam. Die Nato-Bomben haben, das ist offesichtlich, unterschiedliche Generationen und Klassen vereint. Und kaum ein Abend, an dem sich nicht auch der jugoslawische Botschafter oder die eloquente Konsulin blicken lässt.

Es wird serbokroatisch gesprochen, deutsch ist nur in Ausnahmefällen zu hören. Dann etwa, wenn ein Brief des Schriftstellers Peter Handke verlesen wird, dessen Texte hier am Stephansplatz Beifall bekommen. Auch der eine oder andere Linksradikale aus der Wiener Szene hält seine Rede auf Deutsch. Das Publikum ist durchweg zweisprachig, doch österreichische DemonstrantInnen gegen die Nato sind rar. Bei den meisten Grünen und Linken erschöpft sich die Multikulturalität im abendlichen Restaurantbesuch, der Rechtfertigungsdruck seitens der Kriegstreiber tut ein Übriges.

Etwa 300 000 SerbInnen und MontenegrinerInnen leben und arbeiten in Österreich, fast die Hälfte von ihnen in Wien, dort bilden sie die grösste AusländerInnengruppe, auch wenn jedeR Vierte bereits die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hat. Die Wiener Polizei ist bislang beauftragt, deeskalierend zu wirken. Selbst bei den Demonstrationen an den Wochenenden, an denen die Jugoslawinnen und Jugoslawen erst durch die Stadt ziehen, bevor sie sich abschliessend vor dem Dom versammeln, werden kaum Uniformierte gesichtet. Fallweise Schlägereien, die sich am Rande der Demonstrationen in den U-Bahn-Stationen zwischen jugendlichen Serben und Skinheads entwickeln, werden von Veranstaltern und Polizei gemeinsam aufgelöst. Die serbische Gemeinde in Wien hat sich in wenigen Wochen einen öffentlichen Raum geschaffen, der zwar von den Medien totgeschwiegen wird, im Wiener Stadtbild jedoch nicht zu übersehen ist.

Grüne und Linke wirken demgegenüber ratlos, verschreckt. Gemeinsames Auftreten mit den serbischen und jugoslawischen Organisationen kommt für viele schon deshalb nicht in Frage, weil sie beim Anblick von Nationalfahnen, und deren gibt es auf den allabendlichen Demonstrationen genug, einen unbestimmten Distanzierungsdruck verspüren. Die heimischen KriegsgegnerInnen bevorzugen geschlossene Räume, um über etwaige Aktionen gegen den Krieg zu diskutieren. Verwirrung und klammheimliche Nato-Komplizenschaft bestimmen über weite Strecken die Debatten. So wurde beispielsweise kürzlich ein Aufruf lanciert, der unter dem Titel «Waffenstillstand» als Voraussetzung für die Räumung des «besetzten Kosovo» durch die serbische Armee fordert. Ein solches Verständnis, wonach der Kosovo von Belgrad besetzt gehalten würde und folgerichtig befreit werden müsse, prägte bereits das Nicht-Verhandlungsklima in Rambouillet. Das Wort «Jugoslawien» kam im Aufrufstext übrigens gar nicht mehr vor. Die erwünschte Bündnisbreite dieser Aktion gelang dennoch nicht.

Wesentlich klarer hat sich demgegenüber ein Komitee «Kultur und Politik» positioniert, das ein Ende des Krieges in Jugoslawien, die Einstellung der Bombardierungen durch die Nato und den Rückzug der serbischen Armee aus dem Kosovo fordert. Zu den mittlerweile über 800 prominenten UnterstützerInnen gehören beispielsweise Finanzminister a. D. Ferdinand Lacina, Aussenminister a. D. Erwin Lanc, Frauenministerin a. D. Johanna Dohnal oder Staatsoperndirektor Ioan Holander.