US-Wahlen: Extrem überwachte Zone

Die Soziologin Saskia Sassen über den Feldzug im Irak, fehlende demokratische Kontrolle und die beiden Präsidentschaftskandidaten John Kerry und George Bush.

WOZ: Wie heisst der nächste Präsident der USA?
Saskia Sassen: Ich sehe die Bush-Regierung in einer Position, die man vielleicht so beschreiben könnte: Es geht nicht darum, eine Wahl zu gewinnen, sondern darum, unter allen Umständen im Weissen Haus zu bleiben. Ich bin sehr beunruhigt darüber, dass die Regierung mehrere Male erwähnte, sie befürchte vor den Wahlen einen massiven, katastrophalen Anschlag. Zur gleichen Zeit beauftragte der Präsident das Justizministerium zu prüfen, ob es möglich wäre, Wahlen angesichts eines solchen Anschlags zu annullieren. Ich habe das mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter überprüft: Noch nie wurde eine Präsidentschaftswahl in den USA annulliert; das gab es nur bei ein paar kleineren Lokalwahlen. Und die Verfassung gibt dem Präsidenten nicht die Macht, so etwas zu veranlassen. Aber ich glaube, diese Regierung ist zu allem fähig. Ihr Projekt sind nicht die Wahlen, es ist das Weisse Haus, in dem sie unbedingt bleiben will. Stellen Sie sich vor, wie verwundbar sie auf einmal wäre, wenn Bush die Wahl verlieren würde. Diese Exekutive hat die Macht in bislang kaum gesehener Weise missbraucht.

Sehen Sie in den aussenpolitischen Grundlagen grosse Unterschiede zwischen George Bush und John Kerry?
Ja und nein. Ja, weil Kerry eine multilaterale Politik bevorzugt und bei internationalen Krisen weniger zu militärischen Lösungen neigt. Er ist ein amerikanischer Leftie. Sein Abstimmungsverhalten im Kongress weist ihn als einen der liberalsten Abgeordneten aus. Aber dies bedeutet heute wenig. Kerry hat sich verwirrend über die Fakten und Kriegsgründe im Irak geäussert.

Nein, weil der Militarismus tief im amerikanischen Selbstverständnis von internationaler Politik verwurzelt ist. Und es gibt eine grosse Armee im Irak, die in einer heiklen Lage festsitzt. Es wird einiges brauchen, um sie dort wieder herauszuholen, und das wird Gewalt beinhalten. Gewalt brachte sie dorthin, und ohne Gewalt wird sie auch nicht wieder herauskommen. Ich hoffe dennoch, dass Kerry gewinnt und es zu einem Rückzug kommt.

Wie schätzen Sie bezüglich der Intervention im Irak heute die Stimmung in den USA ein?
Sie ist gespalten. Eine Mehrheit denkt, dass es a) schlecht läuft und b) auch insgesamt eine schlechte Idee war. Viele assoziieren aber den Irak mit Terrorismus in den USA. Präsident Bush hat das Talent, die Ignoranz der US-Öffentlichkeit zu schüren. Und Vizepräsident Dick Cheney betont diese angebliche Verbindung immer wieder, obwohl in der Untersuchungskommission zum 11. September 2001 weder Demokraten noch Republikaner einen Beweis für die Spur in den Irak fanden. Aber eine Mehrheit der Amerikaner hält nach den Umfragen heute die Politik im Irak für einen Fehler und möchte sie beenden.

Wie gross sind hierbei die regionalen Unterschiede in den USA zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, Ost- und Westküste?
Da stehen wir am Beginn einer neuen Ära. Vieles ist in Bewegung. Der Süden zum Beispiel war immer eine solide Bastion der Republikaner, heute gibt es dort starke demografische Veränderungen. Die wachsende Gruppe der Latinos nimmt an Bedeutung zu und tendiert mehrheitlich zu den Demokraten, gerade bei den Erstwählern. Zugleich gehen alte Hochburgen der Demokraten wie New Jersey oder New York an Bush verloren. Die Mittelklasse schwenkt zum Konservatismus, ist gegen Immigration, fürchtet sich vor Terrorismus. Hier zeigt sich ein neuer Typ US-amerikanischer Kultur.

Was sagen die Intellektuellen, gibt es da Reaktionen, die Sie überrascht haben?
Da gibt es einige: Philip Roths neuer Roman erregte die Gemüter, da es so scheint, als würde er darin Bush beschreiben. Art Spiegelman, Autor der Bildgeschichte «Maus», tourt zurzeit mit einem neuen Comic-Roman über den 11. September 2001, lässt sich aber nicht in Verbindung zu den Republikanern bringen. Generell sind jedoch viele der bekannten Intellektuellen über die Situation und ihre eigene Bedeutungslosigkeit bedrückt.

Nach den Attentaten vom 11. September 2001 blieben bislang weitere grosse Anschläge in den USA aus. Wie schätzen Sie selbst die Sicherheitslage ein?
Es geht weniger um die Frage der Sicherheit als um die extreme Übertreibung der terroristischen Bedrohung durch die amerikanische Regierung. Jedes Jahr sterben 50 000 Menschen bei Autounfällen in den USA, eine grosse Anzahl stirbt an Schussverletzungen oder wegen der unzureichenden Gesundheitsversorgung. Aber alles ist auf die terroristische Gefahr gerichtet, die unter einem massiven Einsatz von Ressourcen abgewehrt werden soll. Das ist ein schwerer Missbrauch unserer Rechtsordnung. Die USA stellen eine Zone mit extremer Überwachung dar, ein Land, das unverhältnismässig mit Gewalt reagiert, wenn es mit der Möglichkeit einer Bedrohung konfrontiert wird. Überall sind Kameras, Kontrollen, werden Fingerabdrücke gesammelt, Telefongespräche aufgezeichnet. Wir haben dafür zahllose Instanzen. Es gibt zahllose Beispiele, dass acht oder zehn oder fünfzehn schwer bewaffnete Polizisten einen Unbewaffneten erschiessen, bloss weil er verdächtig erschien.

Sie leben in Chicago und manchmal in London. Wie wirken sich die Folgen des Attentats und die neuen Sicherheitsbestimmungen auf das öffentliche Leben aus?
Natürlich bemerkt man dies als Reisende an den Flughäfen. Aber für die Angehörigen von Minderheiten, für eine puerto-ricanische Frau beispielsweise, dürfte sich nicht viel geändert haben, sie wurde immer schon extrem kontrolliert und überwacht. Aber die Exekutive hat zusätzlich viele Bereiche unter das Primat der Sicherheit gestellt und dabei Bürger- und Menschenrechte eingeschränkt. Was immer wir über die Krise des Neoliberalismus oder den liberalen Staat dachten, es stellt sich heute anders dar. Die Macht der Exekutive wurde ausgeweitet und unterliegt teilweise kaum mehr der parlamentarischen Kontrolle. Zudem wurden in diesem Bereich viele Dienste privatisiert.

Verwandeln sich die «Global Cities» in geschlossene Hochsicherheitszonen?
Die globalen Metropolen sind in Amerika Zielscheiben staatlicher Überwachung, ebenso wie in Europa. Bereits 1998 veröffentlichte das Aussenministerium einen Bericht, nachdem die grössten Schäden und die meisten Toten des internationalen Terrorismus auf Anschläge in den grossen Städten zurückzuführen seien. Paris, London, Madrid, Istanbul ... Das war lange vor 2001 und ist auf der Webseite des Ministeriums zu lesen, ohne dass man sie hacken muss.

Man hört wenig über die muslimische Bevölkerung in den USA und die muslimische Migration. Liesse sich das positiv deuten, in dem Sinne: Der US-amerikanische Sicherheitsapparat reagiert relativ gelassen und differenziert, ebenso die US-amerikanische Öffentlichkeit?
Der exzessive Einsatz polizeilicher Mittel richtet sich gegen alle potenziell Verdächtigen, vor allem aber auch gegen arabische Muslime – einschliesslich schwarzer Amerikaner oder Puerto-Ricaner, die sich zum Islam bekennen. Sie unterliegen besonders scharfen Kontrollen. Verdächtige werden an unbekannten Orten festgehalten, ohne dass sie ihre Familien benachrichtigen könnten. Angehörige erfahren nicht einmal, ob sie leben oder tot sind. Es gibt muslimische Amerikaner, die seit zwei Jahren inhaftiert sind, ohne dass man je etwas von ihnen gehört hat. Der Oberste Gerichtshof kam zum Schluss, dass hier ein extremer Missbrauch der Macht vorliegt, und forderte die Regierung auf, diese Situation zu ändern.

Sind die Bilder folternder US-Soldaten und der Soldatin, die wir aus dem Gefängnis von Abu Ghraib zu sehen bekamen, Ausdruck eines rassistischen, angloamerikanischen Überlegenheitsgefühls?
Vielleicht. Doch ich denke, sie sind vor allem Ausdruck einer extremen Position der US-Regierung, die Folter anwenden lässt, um an alle möglichen Informationen zu gelangen. Wir wissen aus einigen Untersuchungen, dass dafür ein Einverständnis bis in die höchsten Entscheidungsbereiche hinauf besteht. Das Weisse Haus hat eine extrem gedehnte Auslegung für körperliche Praktiken, die ihrer Meinung nach noch keine Folter darstellen, jedoch gegen die Genfer Konvention verstossen. Diese haben die USA aber unterzeichnet. Ob ein nachgeordneter einfacher Soldat für Folterungen auch rassistische Motive hat, ist eine andere Frage.

Konservative Theoretiker wie Francis Fukuyama halten den Zerfall staatlicher Gewalt weltweit für eine der Hauptursachen für den global operierenden Terrorismus. Wie sehen Sie das?
In meinem neuen Buch untersuche ich die entscheidenden Quellen für das wachsende demokratische Defizit. Es ist nicht einfach ein Resultat der Globalisierung und eines geschwächten Staats. Der liberale Staat unterliegt vielmehr tiefen Veränderungen: a) Die Exekutive hat ihre Macht über den Staatsapparat und die Politik enorm ausgedehnt. b) Die Legislative hat stark an Macht verloren (in ihr sollte sich ja der öffentliche Faktor staatlicher Politik verkörpern). c) Die wachsende Macht der Exekutive führte zur Privatisierung staatlicher Gewalt und Politik. Dies sind ernst zu nehmende Veränderungen. Sie sind in den USA festzustellen, aber auch in Britannien und vielen anderen europäischen Staaten.

In jüngeren Schriften beziehen Sie sich auch auf den Multitude-Begriff von Antonio Negri und Michael Hardt. Was finden Sie an diesem Konzept interessant?
Mir gefällt, dass es sich auf die Machtlosen bezieht: ihre Vielzahl und Bedeutung, die es ihnen ermöglichen kann, Macht auszuüben. Es geht um eine Art Bewusstwerdung.

Ist der Multitude-Begriff nicht einfach ein eleganter Ersatz für Klasse?
Gut, ich würde sagen, er bezieht sich definitiv nicht nur auf Klasse, der Begriff geht von keiner feststehenden politischen Programmatik aus. Es geht um eine mögliche soziale Kraft. Ich kann die Idee nachvollziehen, ohne sie mir jedoch gleich zu Eigen zu machen. Ich beschäftige mich auch mehr mit dem immer grösser werdenden Bereich informeller Politik, mit Praktiken des Ausschlusses und deren Bedeutung für die Geschichte. Ich möchte die komplexen Bedingungen von Machtlosigkeit hervorheben, die viele Formen von Politik hervorbrachten, die auf den ersten Blick nicht politisch erscheinen. Capoeira, ein aus der brasilianischen Sklavengesellschaft entstandener Tanz und Kampfsport, ist dafür emblematisch. Im Begriff der Multitude würde das alles wieder verschwinden, das wäre eine zu starke Reduzierung.

Wenn ich nun populär dennoch bei dem Begriff bleibe: Wie stark ist die Multitude heute in den USA? Wie ist die Kandidatur eines Ralph Nader einzuschätzen?
Ich kann verstehen, dass er ausgeschert ist und gegen die Demokratische Partei antritt. Das ist eine sehr problematische Partei, die sehr stark nach rechts abgedriftet ist. Mit Al Gore, Howard Dean und Kerry wendete sie sich wieder etwas nach links. Aber ich finde die Position von Nader auch ein wenig sektiererisch.

Glauben Sie, dass die Demokraten und John Kerry wieder stärker mit internationalen Institutionen und der Uno zusammenarbeiten würden?
Sicherlich. Das würde passieren. Der derzeitigen extreme US-Militarismus bekäme einen Dämpfer. Auch wenn wir nicht vergessen sollten, dass viele Schlüsselfiguren in der Uno ebenfalls Konservative sind.