Von der Unüberwindbarkeit ethnischer Vorurteile: In den albanischen Cafés von Bitola

Freundliche Menschen, angeregte Gespräche, mediterranes Idyll: Bei einem Besuch vor nur einem Jahr schienen die ethnischen Vorurteile der mazedonischen Bevölkerung an der Oberfläche harmlos. Heute herrscht Krieg.

Gerade ein Jahr ist es her, dass ich in Bitola abends in den Strassencafés gesessen bin und über mich unwissenden Europäer den Kopf geschüttelt habe. Da war ich in eine Stadt geraten, von der ich vorher nicht einmal den Namen gekannt hatte, und nun wunderte ich mich, dass ich im tiefen Mazedonien auf mediterrane Heiterkeit, auf so viel Eleganz und Lebenskunst traf. Um zehn Uhr rauschte der Corso auf, und tausende todschick gekleidete junge Frauen und Männer flanierten bis lange nach Mitternacht auf und ab. Die Leute, mit denen ich dort sass und mich stundenlang unterhielt, erzählten mir von Paris, wo sie vor ein paar Jahren gewesen waren, von dem Internetcafé um die Ecke, das ein Freund betrieb, und von Cincinnati, wo ein Cousin in der Hightech-Branche arbeitete.
Und davon, dass Blut eben Blut sei.
In Mazedonien leben mindestens acht verschiedene Volksgruppen. All die Tage, die ich im Land unterwegs war oder in Bitola verbrachte, hat mich ein Landesbrauch erschreckt. Der Brauch, dass offenbar ein jeder in Mazedonien den anderen, der ihm über den Weg läuft, nach seiner ethnischen Zugehörigkeit taxiert. Der ist ein Albaner, diese eine Türkin und jener ein Rom. Fortwährend ging das so, bis ich schon selbst anfing, Vermutungen darüber anzustellen, welcher der Volksgruppen wohl dieser und jener Passant zugehöre. Bravo, lobten mich meine Begleiter, wenn ich eine ethnische Zuordnung in ihrem Sinne treffend vorgenommen hatte, Nein, nein, schüttelten sie lachend über mich Tölpel den Kopf, wenn ich wieder einen Bulgaren nicht von einem Albaner hatte unterscheiden können.

Allen einen Lieblingsfeind

Jede der Volksgruppen, mit denen ich es in Mazedonien zu tun bekam, hat von diesem Staat ihr eigenes Bild, aber alle hatten sie einen gemeinsamen Feind: die Albaner. Das seien Verbrecher, Drogenhändler, Autoschieber, die ihre Kinder medienwirksam vor ein Gewehr hielten, wenn es nur der albanischen Sache nütze. Schon den Kosovo-Krieg hätten sie selbst provoziert, indem sie beschlossen, einen Teil der Bevölkerung von den serbischen Garden massakrieren zu lassen, um die internationalen Medien für ihren nationalen Kampf einzunehmen.
Die unglaublichsten Dinge bekam ich auf meiner mazedonischen Reise über die Albaner zu hören. Eine reizende junge Staatsanwältin, die perfekt Englisch und Französisch sprach und in allem den kultiviertesten Eindruck machte, antwortete auf meine Frage, woran sie denn die von ihr so verachteten Albaner eigentlich erkenne, nach langem Nachdenken geradezu grüblerisch: «They use to be ugly.»
Ein sanftmütiger Student, der an eine deutsche Universität gehen wollte und wie ein zu spät gekommener Hippie wirkte, erklärte mir des Langen und Breiten, was er, ein Angehöriger der aromunischen Minderheit, gegen die Albaner habe: «Du lädst sie ein in dein Haus und sagst ihnen, bitte, fühlt euch wohl. Aber die sind nicht zufrieden, dass du ihnen dein Wohnzimmer zur Verfügung stellst, die gehen in dein Schlafzimmer und sagen: Hier wollen wir bleiben.» Ich glaube nicht, dass der liebenswürdige Student ahnte, was er mir da eigentlich über sich selbst erzählte, aber die Vorbehalte gegenüber den Albanern hatten fast immer eine untergründig sexuelle Konnotation. Mazedonische Kinderfreunde, die sich eingehend nach meinen eigenen Kindern in Österreich erkundigt hatten, stupsten mich an, sobald wir an einer albanischen Siedlung vorbeifuhren, und deuteten auf die Kinderscharen vor den Häusern: «Schau sie dir an, wie sie ihre Frauen zwingen, ein Kind nach dem anderen zu werfen. Sie kennen keinen anderen Lebenszweck, als zu ficken.»

Reduktion auf ein Attribut

Die AlbanerInnen wiederum, mit denen ich sprach, waren mir sympathisch, weil sie ganz offenkundig missachtet wurden und benachteiligt waren. Und sie waren mir unsympathisch, weil sie bei der von ihnen zu Recht geforderten politischen Gleichberechtigung ebenso offenkundig ausschliesslich an sich und ihre eigene Volksgruppe dachten. Sie verlangten, im Staate neben den slawischen MazedonierInnen als die zweite Staatsnation anerkannt zu werden; empört aber wiesen sie meine Frage ab, ob nicht auch die griechischen, aromunischen, türkischen, serbischen oder bulgarischen Staatsangehörigen kulturelle und politische Rechte beanspruchen sollten. Was wollen denn die?, ging dann die albanische Rede, wir sind doch viel mehr als sie, und erst die Roma, die an den ausfransenden Rändern jeder grösseren mazedonischen Stadt im schmutzigen Elend hausen, die Roma, die sind doch Abschaum!
Als ich vor einem Jahr durch Tetovo kam, war die albanische Universität zwar schon seit Jahren in Betrieb, aber staatlich immer noch nicht anerkannt. Die meisten MazedonierInnen sagten mir, diese Universität sei die geistige Kaderschmiede des albanischen Nationalismus und arbeite auf die Zerschlagung der territorialen Einheit des Staates hin. Alle AlbanerInnen, mit denen ich darüber sprach, versicherten mir, Tetovo sei eine Stätte spiritueller Geistigkeit, die intellektuelle Heimat ihrer verbotenen und seit Jahrhunderten benachteiligten Nation. Mittlerweile ist die Universität staatlich anerkannt worden, und der Rektor hat nach den ersten Kampfhandlungen erklärt, Albaner seien genetisch anders verfasst als Slawen und es könne ihnen daher nicht auf Dauer zugemutet werden, mit den ihnen wesensfremden Mazedoniern zusammenzuleben. So zeigten sich mir viele Albaner als Missachtete, die andere Missachtete missachteten, als Unterdrückte, die ohne Sympathie für andere Unterdrückte waren.
Abends, in Bitola, an jenen warmen Frühsommerabenden, bebte das Leben in den Strassen, unzählige Leute waren ausgelassen unterwegs, gesteckt voll waren die albanischen Eissalons, und aus den Restaurants drang schluchzende Zigeunermusik; schloss man die Augen, konnte man in einem Strom von tausenden Stimmen versinken. Aber wenn ein Mann grüssend am Tisch vorbeiging, an dem ich mit meinen Begleitern sass, raunten mir diese unverzüglich zu: «Ein Albaner.» Ich begriff, dass hier jeder Mensch auf eine einzige, ihn bestimmende Eigenschaft reduziert wurde. Noch bevor einem auffiel, dass dieser Mensch gross, schön, alt, zierlich sei, noch bevor man sich darüber Gedanken machte, was sein Beruf, Charakter, Schicksal sein möge, war er schon ein für alle Mal dadurch festgelegt, dass er ein Albaner, ein Aromune oder Mazedonier war.
So sass ich in herzlicher Verbundenheit mit liebenswürdigen Menschen, grosszügigen, hilfsbereiten, aufgeschlossenen Menschen zusammen, ich sass und redete mit ihnen tagelang, sie führten mich in ihre Häuser, stellten mich ihren Eltern und Kindern vor, zeigten mir ihre Friedhöfe, Obstgärten, Werkstätten, und sie lehrten mich das Schaudern darüber, wie aufgeschlossen und verbohrt zugleich sie waren, wie weltoffen und engstirnig, wie friedlich und unduldsam. Sie erkennen einander, sie wollen einander erkennen, an unmerklichen Gesten, an der Kleidung, Haltung, der Sprache, und sie wissen genau, wer von ihnen wo in welchen Strassen in welchem Haus wohnt. Noch gebrauchten sie die zwanghafte Fähigkeit, den anderen ethnisch zu fassen, gewissermassen nur zur Unterhaltung, wie bei einem Gesellschaftsspiel. Mittlerweile aber hat der Krieg begonnen, ein Krieg, von dem mir damals alle sagten, dass er kommen werde, und alle sagten, dass sie selbst ihn ganz gewiss nicht suchten. Aber durch ihre freundlichen Reden waren schon damals böse Worte, Unheilsworte, gezuckt, und mitten im Frieden blitzte in manchem Blick der Bürgerkrieg.

Kennen lernen allein hilft nicht

Es ist ein wohlmeinender Irrtum, zu glauben, dass die Menschen verschiedener Religionen und Nationalitäten einander nur kennen zu lernen bräuchten, um sich von den Vorurteilen, die sie hegen, von dem Hass, den sie mitunter empfinden, zu befreien. Dieser Irrtum war auch mir teuer und lieb, doch ich fürchte, die Albaner und die anderen Nationalitäten Mazedoniens kennen einander sehr gut, wie sich auch Israeli und Palästinenser, die katholischen und die protestantischen IrInnen nicht fremd, aber dennoch Feind sind. Sie leben seit ewigen Zeiten zusammen, und schon ein paar hundert Kilometer von dort, wo sie sich selbst und dem Nachbarn das Leben schwer machen, kann sie in der Regel keiner mehr voneinander unterscheiden. In den albanischen Cafés von Bitola waren damals alle gesessen, Mazedonier, Griechinnen, Aromunen, Albanerinnen, und trotzdem sind sie heute verwüstet.

Von Karl-Markus Gauss erschien zuletzt das Buch «Die sterbenden Europäer» (Zsolnay-Verlag), das von seinen Reisen zu den kleinsten Minderheiten Europas erzählt. Ende 2001 erhält Gauss den «Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln».