Warencharakter der Stadt: Jedem Land sein Dubai-City

Die Stadt wird zur Ware, warnen Stadtforscherinnen und Aktivisten. An einem Treffen in Zürich zeigten sie erste Resultate eines Städtevergleichs und suchten nach den Trends, die heute die Entwicklung der meisten Städte bestimmen.

So viele Plakate. 35 Städte aus der ganzen Welt werden auf jeweils mehreren Postern porträtiert. Die Stellwände ziehen sich durch verschiedene Räume der Roten Fabrik. Im Zürcher Kulturzentrum hat Ende Juni der 20. Kongress des International Network for Urban Research and Action (Inura) stattgefunden. Dem Netzwerk gehören Leute aus Wissenschaft und Verwaltung ebenso an wie AktivistInnen aus städtischen Umwelt- und Basisgruppen. Ihnen gemeinsam ist eine kritische Haltung gegenüber aktuellen Trends der Stadtentwicklung, die sich weltweit manifestieren. Im Fokus stehen etwa grosse Stadterneuerungsprojekte, Entwicklungen an der Peripherie, Verkehr, Wohnungsbau, Partizipation und soziale Bewegungen. Seit 2008 arbeiten die verschiedenen Inura-Gruppen an einem Städtevergleich: Was sind die Trends im «New Metropolitan Mainstream»? Ende Juni haben rund achtzig Wissenschaftlerinnen und Aktivisten erste Resultate ihrer Studien in Zürich vorgestellt und mit einer interessierten Öffentlichkeit diskutiert.
Die Plakate in der Roten Fabrik sind einheitlich gestaltet. Sie basieren auf Informationen und Daten, welche die Inura-Mitglieder aus ihren Städten zusammengetragen und in Google-Stadtpläne eingespeist haben. Und sie erzählen Geschichten: Geschichten von Prestigeprojekten, die die Stadt konkurrenzfähiger machen sollen; Geschichten von QuartierbewohnerInnen, die vertrieben worden sind, weil sie nicht ins Bild und in die Verwertungslogik passen; Geschichten aber auch vom Widerstand gegen eine Stadtplanung von oben. Plakate über explodierende Megastädte wie Mexiko-Stadt und Kairo mit jeweils rund zwanzig Millionen EinwohnerInnen finden sich neben solchen von Bern oder der US-Stadt Green Bay, die kaum 100000 EinwohnerInnen zählt.

Trend 1: Interurbane Konkurrenz

Die Stadt Zürich zeigt sich während der Konferenz von ihrer besten Seite. In der Roten Fabrik herrscht eine entspannte Atmosphäre. Die Sonne scheint, der angrenzende See lädt zum Bade. Auch Stadtpräsidentin Corine Mauch hält eine Rede – diese gleicht einem Werbespot für Zürich: Die Stadt sei erfolgreich und wachse, von «Urbanität und Diversität» geprägt, «ein Schmelztiegel diverser Lebensstile». Auch Zürich könne sich allerdings «vor der internationalen Konkurrenz nicht abschotten», betont Mauch.
«Konkurrenzfähigkeit» ist ein Begriff, der im Verlauf der Diskussionen und in der Ausstellung immer wieder auftaucht. Städte stehen in Konkurrenz zu anderen Städten – eine Ansicht, die kommunale Behörden weltweit zu beherrschen scheint. Die eigene Stadt muss deshalb aus der Masse der andern Städte herausragen. Sogenannte «Flaggschiff»-Projekte – ein neues Stadion, ein Wolkenkratzer, ein Kongresszentrum – sollen dazu beitragen, über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen zu werden. Man hofft auf den «Bilbao-Effekt». Der baskischen Stadt gelang mit dem 1997 fertiggestellten Guggenheim-Museum ein tiefgreifender Imagewandel. Das spektakuläre Bauwerk des Stararchitekten Frank Gehry machte die Industriestadt zu einer Tourismusdestination mit jährlich einer Million BesucherInnen.
«Die Stadt ist nicht mehr nur der Ort, wo Waren gehandelt werden, sie ist selber zur Ware geworden», fasst Inura-Mitgründer und ETH-Professor Christian Schmid den Trend zusammen. Dabei werden sowohl die Megastädte des Südens wie auch eher durchschnittliche Städte im Norden von diesem Trend erfasst. In einem Inura-Arbeitspapier heisst es: «Jede Stadt hat heute ihre Sehenswürdigkeiten, Festivals und Events, trendige Quartiere und standardmetropolitane Architektur. Paradoxerweise führt dies jedoch wieder zur Uniformierung und zu einem Verlust von Qualität.»

Trend 2: Die Stadt «aufwerten»

Zum Warencharakter der Stadt gehört auch das Bestreben vieler Stadtbehörden, das Stadtleben «aufzuwerten». Aus Slums oder Arbeiterquartieren entstehen Zonen für den Mittelstand und die Oberschicht. Immer mehr breiten sich auch sogenannte «gated communities» aus: mit Mauern und Zäunen abgeschlossene und bewachte Quartiere, in denen sich privilegierte Bevölkerungsteile abschotten. Solch soziale Umschichtungs- und Segregationsprozesse laufen teils angestossen durch staatliche Investitionen, teils mit privaten Geldern ab. Sie können brachial durchgesetzt werden, wie kürzlich die polizeiliche Räumung von Slums im südafrikanischen Bundesstaat Kwazulu-Natal. Sie folgen aber auch subtileren Entwicklungen wie etwa der sogenannten Gentrifizierung: Billige Mieten ziehen Pioniere der Umgestaltung – Studentinnen und Künstler – an. Diese machen ein Quartier zum In-Treffpunkt und attraktiv für weitere, auch kaufkräftigere NeuzuzügerInnen. Als Folge steigen die Mieten, und SpekulantInnen entwickeln Bauprojekte, die das Quartier verändern.
In der Plakatausstellung finden sich zahlreiche Beispiele von Stadtteilen, die sich gentrifizieren. Allerdings ist das schwer messbar, weil vergleichbare Daten fehlen – Schmid spricht von «qualitativer Einschätzung». Wie unterschiedlich solche Einschätzungen sein können, zeigt das Beispiel St. Petersburg: Zu dieser Stadt haben zwei Gruppen unabhängig voneinander Informationen zusammengetragen. Während die eine grosse Gebiete als «vernachlässigt» eingezeichnet hat, sieht die andere Gruppe am selben Ort erste Anzeichen eines Wandlungsprozesses.
Auf den ausgestellten Postern werden auch «Projekte des Widerstandes» identifiziert. In Zürich ist das – laut Plakat – die Rote Fabrik. Tatsächlich hat sich die Zürcher Jugendbewegung Anfang der achtziger Jahre die Rote Fabrik als alternatives Kulturzentrum erkämpft. Heute ist sie ein etablierter Kulturbetrieb, und es darf gefragt werden, ob solche Projekte nicht selber wieder zur Gentrifizierung beitragen. Die erkämpften Räume von damals sind heute Argumente für Standortqualität: Wenn Stadtpräsidentin Mauch vom urbanen Ambiente Zürichs schwärmt, dient ihr die Rote Fabrik als Beleg dafür.

Trend 3: Die «Dubaiisierung»

Für besonders viel Diskussionsstoff sorgt am Inura-Kongress die Entwicklung der Städte in den Entwicklungsländern. «Dort liegen die herausragenden Metropolen des 21. Jahrhunderts», ist etwa die Urbanismusforscherin Ananya Roy von der University of California in Berkeley überzeugt. «Für viele StadtplanerInnen des Südens gelten Singapur, Schanghai und Dubai als Vorbilder», sagt Christian Schmid. Das bestätigt auch Ezana Yoseph, Stadtforscher aus Addis Abeba: «Es gibt eine Dubaiisierung von Addis Abeba: Die Reichen in der Stadt wollen kopieren, was in Dubai gebaut wird.» Die äthiopische Hauptstadt zählt rund sechs Millionen EinwohnerInnen. Achtzig Prozent von ihnen wohnen in Hütten. Jetzt errichten chinesische Baufirmen Autobahnen und grosse Wohnblöcke.
Auch in Kairo, einer Stadt mit annähernd zwanzig Millionen EinwohnerInnen, seien viele StädtebauerInnen speziell von Dubai beeindruckt, sagt die Stadtforscherin Constanza la Mantia. Die Stadt drohe zunehmend ihre Identität zu verlieren. «Der öffentliche Raum verschwindet», sagt sie, «selbst für das Spazierengehen am Nil muss man heute Eintritt bezahlen.»
Für Ananya Roy sind die Städte des Südens Zonen für Experimente geworden. Sie erläutert das am Beispiel des chinesischen Shenzhen, das sich zur Weltproduktionsstätte für Computer und Handys entwickelt hat. «Hier ist die erste Sonderwirtschaftszone Chinas entstanden», sagt sie, «und die wird nun von vielen Ländern kopiert.» Shenzhen zeige durch den Umgang mit WanderarbeiterInnen und deren Entrechtung auch auf, wohin solche Entwicklungen führen können, sagt sie mit Verweis auf die Suizidwelle unter den Beschäftigten im Shenzhener Werk der Firma Foxconn, die kürzlich bekannt geworden ist.
Roy macht auf einen weiteren Trend in vielen Städten des Südens aufmerksam, der im Inura-Städtevergleich noch keinen Niederschlag gefunden hat: «Die urbanen Eliten entscheiden oft im informellen Rahmen über Bauprojekte – auch gegen bestehende Gesetze.» Zudem spiele in Stadtentwicklungskonzepten oft der Populismus eine Rolle. Als Beispiel nennt sie die Hisbollah-Partei in Beirut: Sie trage zwar durchaus zum Aufbau eines vom Krieg zerstörten Gebietes bei, beherrsche jedoch gleichzeitig den Prozess und hindere dadurch die Bevölkerung daran, sich kollektiv am Wiederaufbau zu beteiligen.
Zwei Tage öffentliche Veranstaltungen, ein Tag Expeditionen durch Zürich und drei Tage, an denen die Inura-Mitglieder in Workshops weiterdiskutierten; nach dem Zürcher Kongress ziehen die OrganisatorInnen, die gleichzeitig MitgründerInnen der Inura sind, eine positive Bilanz: «Es war nicht, wie so oft, einfach nur ein Vorstellen der eigenen Arbeit», sagt Christian Schmid. «Die Leute arbeiteten hier wirklich am Thema weiter.» Die Suche nach dem neuen metropolitanen Mainstream hat weiteren Schwung bekommen. In einem nächsten Schritt werden die Plakate überarbeitet, sagt der Sozialwissenschaftler Richard Wolff. Die einzelnen Stadtpläne sollen mit weiteren Informationen auf eine Website gestellt und so öffentlich zugänglich gemacht werden.
Wolff ist überzeugt, dass der Städtevergleich den Blick auf die eigene Stadt schärft. Ausserdem können Basisgruppen so erkennen, dass sie mit ihren Anliegen nicht allein sind. «In vielen Städten wird an ähnlichen Themen gearbeitet, werden ähnliche Kämpfe geführt. Die Karten können gerade für diese Gruppen Anstösse und Beispiele bieten.»

ISTANBUL: FLAGGSCHIF EISENBAHN

Istanbul ist mit seinen derzeit zwölf Millionen EinwohnerInnen zu einer der weltweit grössten Städte geworden. Gewachsen ist die Metropole am Bosporus an ihren Rändern, wo immer neue Landgebiete erschlossen und vornehmlich mit Autobahnen an die Metropole angeschlossen worden sind. Als Folge ist die Stadt so stark in die Weite ausgefranst, dass die Bevölkerung riesige Distanzen überwinden muss, um etwa von der Wohn- zur Arbeitsstätte zu gelangen. Dies, so wurde am 20. Kongress des International Network for Urban Research and Action (Inura) in Zürich deutlich, stelle das wohl grösste Hindernis für die Stadt dar, zu einem attraktiven Standort für internationale Firmen und damit zur international konkurrenzfähigen Metropole zu werden. Ein gigantisches Verkehrsprojekt mit dem Namen «Marmaray» soll das ändern: Ab 2014 wird ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus hindurchführen und den europäischen mit dem asiatischen Teil der Stadt verbinden. «Die neue Eisenbahnverbindung definiert die urbane Struktur radikal um», so Inura Istanbul. Die Stadtforschungs- und Aktionsgruppe befürchtet insbesondere, dass als Folge von «Marmaray» ärmere Schichten aus den ArbeiterInnenquartieren und der Altstadt im europäischen Teil verdrängt werden.