«Mir läuft die Zeit davon» Jacqueline Fehr hat immer den maximalen Einfluss gesucht. Ein Gespräch über Macht und Ohnmacht in der Politik.

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Portraitfoto von Jacqueline Fehr in einem gezeichneten Bilderrahmen
«Wer entscheidet, eckt oft irgendwo an – damit habe ich keine Mühe»: Jacqueline Fehr. Illustration: Anna Haifisch

WOZ: Frau Fehr, bei den Bundesratswahlen gab es diesen intensiven Augenblick: Als Elisabeth Baume-Schneider gewählt war, zeigte die Kamera die Verliererin Eva Herzog in Grossaufnahme. Herzog sass auf dem Bänkchen im Nationalratssaal, scheinbar kontrolliert, aber innerlich bebend. Gerade noch einen Schritt von der Macht entfernt, nun in vollkommener Ohnmacht. Haben Sie diesen Moment auch so wahrgenommen?

Jacqueline Fehr: Ich habe das ja selber erlebt 2010, als ich gegen Simonetta Sommaruga verloren habe. Es war der gleiche Saal und die gleiche Situation. Dieser Moment ist für mich noch sehr präsent. In einem Wimpernschlag wird über das eigene Leben entschieden. Alles kann in diesem Moment anders werden. Wird man ins Gremium gewählt, wird man ab dieser Sekunde für den Rest des Lebens zur öffentlichen Person. Im gleichen Wimpernschlag kann einem dieser Weg aber auch verwehrt bleiben. In den Tagen vor einer Wahl hat man einen unglaublich dichten Terminplan, der einem alle Energie abverlangt. Und dann kommt plötzlich das Aus. Ich vermute, Eva Herzog hat es ähnlich wie ich erlebt: Es ist, wie wenn man in vollem Tempo in eine Wand läuft.

Waren Sie auch erleichtert, nicht gewählt worden zu sein?

Jede Person, die Bundesrätin werden will, empfindet eine gewisse Ambivalenz. Man bezahlt in diesem Amt einen hohen persönlichen Preis. Die Gesundheit leidet, mit der Freizeit ist es vorbei, es gibt fast keine private Existenz mehr. Dem steht gegenüber, dass man in einer wichtigen Machtposition ist und gestalten kann.

Als Sie auf das Resultat warteten, erlebten Sie da eine grosse Ohnmacht?

Wahlen sind unberechenbar. Bei Wahlen verfügen andere über einen. Nebensächlichkeiten spielen oft eine gewichtigere Rolle als die eigenen Leistungen. Zufälligkeiten können entscheiden. Man ist dem als Kandidatin zu einem gewissen Grad ausgeliefert. Bei Bundesratswahlen, aber auch bei Volkswahlen weiss man letztlich nicht genau, warum einen die Leute wählen oder nicht. Es gibt so viele Erwartungen, die man erfüllen müsste. Nett soll man sein, intelligent, kompetent, fehlerfrei, bescheiden und gleichzeitig durchsetzungsfähig. All das leisten zu können, ist aber unmöglich. Das führt zwangsläufig zu einem Gefühl der Ohnmacht – oder im besseren Fall zu Demut.

War die Pandemie auch eine Zeit der Ohnmacht? Wie war es, als Regierungsrätin in grosser Ungewissheit Entscheidungen fällen zu müssen?

Es gab sehr unterschiedliche Phasen. Der grösste Teil der Bevölkerung war sehr realistisch. Ich spürte eine grosse Bescheidenheit angesichts einer unkontrollierbaren Situation. Die Leute wussten, dass es keinen Zauberstab gibt, um das Virus wegzuverwalten oder wegzufinanzieren. Sonst schaut die Schweiz immer von aussen auf die grossen Krisen, jetzt waren wir Teil davon. Die Menschen haben die Ernsthaftigkeit erkannt. Sie konnten akzeptieren, dass Spitalbetten fehlten und es zu Übersterblichkeit kam. Bei den Medien war das oft anders. Dort lautete die Forderung manchmal: Liebe Behörden, nehmt den Zauberstab in die Hand und macht die Pandemie weg. Das fand ich befremdlich.

Trotzdem mussten Sie schnell entscheiden, etwa bei der Soforthilfe für Kulturschaffende. Da gab es schon Druck.

Ja, aber das war nicht belastend. Natürlich, wir mussten entscheiden. Und wer entscheidet, eckt oft irgendwo an. Damit habe ich keine Mühe. Und das Resultat war erfreulich: Aus dem Konflikt mit dem Bund ist eine Lösung mit dem Bund entstanden. Viel grösser war die Belastung in der Verwaltung: Die Fachstelle Kultur hat mit enormem Einsatz in kurzer Zeit über 5000 Gesuche bearbeitet.

Was an Ihrer Karriere auffällt: Sie haben immer die Posten gesucht, wo Sie maximalen Einfluss ausüben konnten. Was auch zu Konflikten geführt hat. Etwa 2012 mit der SP, als Sie Fraktionschefin werden wollten und sich die Partei für die schwache Figur Andreas Tschümperlin entschied. Danach hiess es, Sie seien zu ehrgeizig, zu berechnend, eine Einzelgängerin. Haben Sie gespürt, dass man Ihnen den Willen zur Macht zum Vorwurf machte?

Es ist ein grosses Privileg, solche Funktionen einzunehmen. Ich gestalte gerne. Und ich suche bei jedem Thema, mit dem ich mich beschäftige, nach Sachen, die man verbessern könnte. Häufig bin ich eher zufällig in die Themen hineingeraten. Beispielsweise in die Gesundheitspolitik. Die SP-Fraktion suchte jemanden aus der Deutschschweiz für dieses komplexe Dossier. Ich habe mir zwei Jahre Zeit genommen, um mir die Materie zu erarbeiten. Danach kannte ich die wichtigsten Schalthebel und Akteur:innen – und wollte diese Hebel auch bedienen. Das kam nicht nur gut an: Ich war manchen wohl zu schnell und zu aufdringlich.

Bin ich eine Einzelgängerin? Nein, denn ich habe auch als Nationalrätin in Bern immer in Teams gearbeitet. Aber ja, mein Tempo kann stressen. Mit dieser Entschiedenheit konnte ich aber auch wichtige Projekte durchsetzen, zum Beispiel die Kitafinanzierung des Bundes oder die Mutterschaftsversicherung.

Ist es eine Schweizer Eigenheit, Machtstreben negativ auszulegen?

Was heisst Macht? Stellen wir eine kleine Typologie auf. Es gibt die narzisstischen Politiker:innen, die sich vor allem selber darstellen wollen. Bei denen ist aber meist keine Handschrift in der Gestaltung erkennbar. Dann gibt es die Verwaltenden, die nicht auffallen wollen. Und es gibt die Gestaltenden. Zu denen zähle ich mich. Und wissen Sie, ich habe oft das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft, um noch alles zu machen, was ich machen möchte.

Manchmal steht dabei aber auch etwas oder jemand im Weg, etwa in der Auseinandersetzung mit Ursula Koch 1998, die damals SP-Parteipräsidentin war. An der Parteispitze tobte ein heftiger Konflikt zwischen Koch und Generalsekretär Jean-François Steiert. Sie haben sich öffentlich gegen Koch gestellt und letztlich gewonnen. Koch trat zurück und verschwand komplett aus der Öffentlichkeit. Das war brutale Machtpolitik.

Ja, manche Auseinandersetzungen sind brutal. Ich war im damaligen Konflikt lange Zeit eine Seitenfigur. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich sagte, Generalsekretär und Parteipräsidentin müssten beide ihre Ämter abgeben. Zuvor war ich an vielen Mediationen dabei gewesen. Es war völlig klar, dass es mit diesen beiden Personen keine Lösung geben kann. Deshalb forderte ich, beide müssten zurücktreten. Ich weiss nicht, ob ich das heute nochmals tun würde. Es war keine gute Erfahrung. Alle haben damals verloren. Ich zog mich danach aus den Parteigremien zurück, machte fast zehn Jahre lang nur noch Sachpolitik.

Jedenfalls hatten Sie fortan das Label der Durchsetzungsfähigen. In der «SonntagsZeitung» landeten Sie immer auf den vordersten Plätzen der einflussreichsten Politiker:innen im Parlament. Hat Ihnen das geschmeichelt? Und hat es geholfen?

Wenn man als relevant angeschaut wird, ist das immer ein Kompliment. Vor allem aber hat es geholfen. Wenn man weite Koalitionen bis hin zum Arbeitgeberverband oder Gewerbeverband schmieden will, die wirklich tragfähig sind, muss man in der Partei gut verankert sein. Darum stehen die stärksten Politiker:innen immer in der politischen Mitte ihrer Parteien. Die linken Freisinnigen und die rechten Sozialdemokraten finden sich zwar rasch. Aber das wars dann. Die holen ihre Fraktionen nicht ab. Ich habe deshalb sehr viel in die Parteiarbeit investiert, habe Papiere geschrieben, Plattformen gegründet, um die Positionen in der Partei gut zu verankern. Hinter der Familienpolitik und insbesondere der Kitafinanzierung steht auch ein ganzes Buch, das ich geschrieben habe.

Auch zur Mutterschaftsversicherung machte ich viel Grundlagenarbeit, sprach mit vielen Personen, um ein Netzwerk zu schaffen. Sonst bringt man eine SP nicht in eine Koalition mit dem Gewerbeverband. Die schwierigste Sitzung war übrigens jene, in der ich meiner Fraktion erklärte, ich würde einen gemeinsamen Vorstoss mit Gewerbepräsident Pierre Triponez einreichen. Die Fraktionsmitglieder mussten mir vertrauen können, dass das kein Desaster gibt und die SP nicht vorgeführt wird.

Heute sind Koalitionen zwischen SP und Gewerbeverband undenkbar. Warum geht das nicht mehr?

Es gibt verschiedene Gründe. Twitter-Politik beispielsweise. Wenn jeder Halbsatz, über den man kaum nachgedacht hat, rausgehauen wird, trägt das nicht zu mehr Konsens bei. Für eine erfolgreiche Politik braucht es viel Zeit und Ruhe. Es braucht Spaziergänge, Reflexion, Gespräche, um herauszufinden, ob man letztlich für einen gemeinsamen Abstimmungskampf stark genug ist.

Es geht auch schnell darum, wem ein Erfolg gehört.

Es ist sicher so, dass uneitle Personen einfacher Koalitionen eingehen können. Ich bin kein eitler Mensch. Und das gilt auch für mein damaliges Gegenüber, Pierre Triponez. Er hat eine Kehrtwende hingelegt, hat den Verband hinter sich gebracht. Es ist enorm schwierig, sich im eigenen Milieu so zu exponieren. Ich rechne ihm das bis heute hoch an.

Haben Sie sich damals mächtig gefühlt?

Der Weg zum Erfolg führt über Demut. Man muss sich zurücknehmen. Brusttrommeln bringt einen nicht weiter.

Mächtig sein heisst also auch demütig sein?

Ja. Man benötigt auch viel Empathie. Ich habe bei der Mutterschaftsversicherung zum Beispiel Argumentarien für die CVP geschrieben. Ich muss unterschiedliche Sprachen beherrschen, wenn ich mich durchsetzen will. Ich muss so sprechen können wie die SVP, wie die FDP. Ich glaube, das ist meine Stärke.

Das sind aber eher atypische Eigenschaften für Mächtige. Laut Studien mangelt es Mächtigen an Empathie, an der Fähigkeit, andere Perspektiven wahrzunehmen.

Wenn man nicht nur möglichst viele Stimmen machen, sondern auch gestalten will, braucht es diese Fähigkeit. Sie haben gefragt, ob ich mich mächtig fühlte. Ich habe mich eher einflussreich gefühlt. Als Triponez in den linken Kreisen fragte, mit wem man bei den Linken in Sachen Mutterschaftsversicherung allenfalls geschäften könne, fiel mein Name. Ich hatte mit der Kitafinanzierung bewiesen, dass ich ein grosses Geschäft durchbringen kann. Das half mir bei vielen Projekten, in der Drogenpolitik etwa. Relevant, einflussreich, vertrauenswürdig, das sind die wichtigsten Merkmale erfolgreicher Politiker:innen.

Andere Studien sagen, dass Frauen die besseren Mächtigen sind. Die Kombination aus Testosteron und Macht führt demnach schnell zu Korruption.

Ich glaube, das ist eher eine Frage der Generationen. In meiner Generation wurden Frauen noch stark in einer Verantwortungslogik erzogen. Und Männer wuchsen im Bewusstsein auf, dass sie Teil eines Machtblocks waren. Man könnte es auch so sagen: Frauen setzten auf die Macht der Argumente, Männer auf die Argumente der Macht. Früher war für uns Frauen klar, dass wir am Schluss alleine dastanden und das Ding alleine durchziehen mussten. Aber das verändert sich gerade stark. Heute ist glücklicherweise alles viel fluider.

Was für Politiker:innen schreiben Sie im Herbst auf Ihren Wahlzettel?

Nur solche, die einen erkennbaren Gestaltungswillen haben, die mutig sind und ein politisches Gesicht haben. Ich schreibe keine Narzissten drauf und keine technokratischen Verwalterinnen.

Jacqueline Fehr

Die ausgebildete Sekundarlehrerin Jacqueline Fehr (59) hat einen langen politischen Weg hinter sich. Er begann 1990, als sie für die SP ins Winterthurer Stadtparlament gewählt wurde. 1991 wurde sie Kantons-, 1998 Nationalrätin. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, erarbeitete sichFehr bald einen Ruf als durchsetzungsfähige Politikerin. Ihre grössten politischen Siege sind die Einführung der Mutterschaftsversicherung und die Anschubfinanzierung von Kitas durch den Bund. Seit 2015 ist sie Justizdirektorin des Kantons Zürich. Nur ein Baustein zur vollkommenen politischen Karriere fehlt Fehr: 2010 verwehrte ihr das Parlament die Wahl in den Bundesrat.

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