«Blinder Optimismus ist eine wertvollere Waffe als Zynismus» Fast pervers didaktisch: Filmmusiker Jerskin Fendrix über seine Arbeit mit Yorgos Lanthimos und das Problem des guten Geschmacks.

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Portraitfoto von Jerskin Fendrix
Foto: John Philips, Getty

WOZ: Jerskin Fendrix, wie zum Teufel hat Yorgos Lanthimos Sie gebrieft, was die Musik für seine abgedrehte viktorianische Vision in «Poor Things» angeht?

Jerskin Fendrix: Gar nicht, eigentlich. Yorgos schickte mir einfach das Drehbuch von Tony McNamara, und er schickte mir auch die Entwürfe für die Ausstattung und die Kostüme – zu dem Zeitpunkt hatten beide Abteilungen schon einige Monate daran gearbeitet. Ich wusste also, wie die Kulissen, Kostüme und Requisiten ungefähr aussehen würden. Und das genügte mir eigentlich, um die Lücken zu füllen. Die Musik sollte auf bestimmte Weise stark berühren, aber ich wusste auch, dass der Film in einer sehr ungewöhnlichen, üppig pulsierenden und extrem gesättigten ästhetischen Umgebung spielen würde. Beides gab mir einen guten Eindruck, in welche Richtung es gehen sollte.

Das klingt nach ungewöhnlich vielen Freiheiten – vor allem auch, wenn man bedenkt, dass Sie noch nie zuvor für einen Film komponiert hatten.

Yorgos ist ein Regisseur, der sich nicht gern einmischt, das sagen alle, die mit ihm arbeiten. Er gibt dir die Verantwortung für das, was du tust. Er will, dass du dir im Grunde den Arsch selber abwischst. Und wenn dir bewusst ist, dass du deinen Anteil der Vision selber schultern musst, zwingt dich das, deine eigene Interpretation des Stoffs hervorzubringen. Der Druck ist höher, aber das Ergebnis ist grossartig, glaube ich. Ich kann mir vorstellen, dass es für einen Regisseur nicht einfach ist, die Kontrolle so weit abzugeben.

Nicht nur für Sie ist das der erste Filmsoundtrack. Auch für Lanthimos war es das erste Mal, dass er Musik für einen seiner Filme komponieren liess. Wie ist er auf Sie gekommen?

Wir kannten uns nicht. Yorgos hat mein erstes Album gehört, das im Jahr 2020 herauskam. Das war ein Popalbum, einfach Songs. Und er hatte auch mitbekommen, dass ich eine sehr experimentelle Oper geschrieben hatte, die am Victoria and Albert Museum in London aufgeführt wurde. Es gab nichts davon im Netz, wo er das hätte hören können, aber es gab einige Besprechungen. Aufgrund dieser beiden Sachen hat er sich dann bei mir gemeldet.

Auch wenn «Poor Things» nun kein historischer Film in einem engeren Sinn ist: War es von Anfang an klar, dass Sie mit klassischen Instrumenten arbeiten würden?

Nun, man hört viel Synthesizer im Film. Da sind viele klassische Instrumente zu hören, die so klingen, als wärs Synthesizer, und umgekehrt viele synthetische Sounds, die klingen, als wären es klassische Instrumente. «Poor Things» ist ja nur insofern ein historischer Film, als er im Jahr 1891 oder so angesiedelt ist. Aber alles daran ist weit weg von jeglicher realistischen Vorstellung jener Epoche. So etwas wie historische Genauigkeit war deshalb gar nie ein Thema für mich.

Wie wichtig war die Hauptfigur von «Poor Things» bei Ihrer Arbeit? Die Musik klingt oft schief wie Bella selbst: wie ein Geschöpf, das gerade erst lernt, sich zu stimmen.

Ja, Bella ist natürlich absolut zentral für alles, was im Film geschieht. Und ich habe mir überlegt, wie sie das alles wohl aufnimmt. Denn eigentlich geht es ja darum, dass Bella alles zum allerersten Mal erlebt: Sie empfindet Liebe oder Lust zum ersten Mal, sieht Hungersnot und Tod zum ersten Mal. Sie ist also geradezu schmerzhaft empfindsam, als sie alle diese Erfahrungen macht, und das hiess für mich, dass ich das Drama ihrer Gefühle ins Extrem treiben konnte. Das hat fast etwas pervers Didaktisches: Mit jeder Erfahrung entwickelt sie sich einfach immer weiter, und an jedem Ort, den sie besucht, erlebt sie etwas völlig Neues – mal gut, mal schlecht, aber immer überwältigend.

Pervers didaktisch, sagten Sie?

Ja, wobei ich nicht weiss, ob ich diese beiden Wörter nochmals in dieser Reihenfolge benutzen würde. Aber der Film hat durchaus etwas von einem «morality play». An jedem Ort wartet eine neue Lektion auf Bella.

Filmmusik ist heute grossteils immer noch deprimierend konservativ, einmal abgesehen von Leuten wie Mica Levi oder Jonny Greenwood. Wie sehen Sie das?

Klar, bei vielen Filmen soll die Musik einfach funktional sein, aber das ist in Ordnung. Die Bandbreite ist doch ziemlich gross, und hin und wieder arbeiten auch eher akademische Komponisten fürs Kino. Ich liebe zum Beispiel, was Tōru Takemitsu an Filmmusik komponiert hat. Es ist zwar nicht viel, aber seine Musik etwa für Kurosawas «Ran» ist phänomenal. Oder auch Ralph Vaughan Williams, der für Michael Powell und Emeric Pressburger komponiert hat. Und dann gibt es natürlich das andere Ende des Spektrums, dieses Disney-Zeugs – ich habe das geliebt als Kind und liebe es immer noch. Klar gibt es viel fade Filmmusik. Aber es gibt auch allgemein viel fade Musik. Es gibt auch eine Menge fade Filme, eine Menge fade Bücher.

Mein Vater war Musiker, er konnte die Musik in den meisten Hollywoodfilmen nicht ausstehen. Er sagte immer, das sei alles bloss drittklassiger Tschaikowski.

Ich kann das verstehen. Aber vieles von Tschaikowksi war seinerseits schon drittklassiger Tschaikowski. Wenn man künstlerisch tätig ist, muss man sich ganz genau aussuchen, wo man negativ eingestellt ist. Zynismus kann dich kreativ völlig lähmen. Blinder, dummer Optimismus – auch gegenüber Dingen, die vielleicht nicht zum guten Geschmack zählen – ist eine viel wertvollere Waffe. Glaube ich jedenfalls.

Wenn Sie sagen, dass man sich ganz genau aussuchen müsse, was man ablehnt: Was wäre das bei Ihnen?

Ich finde, jeder darf sich im Leben genau eine Sache aussuchen, bei der man ein Snob sein darf. Mit allem anderen sollte man sich abfinden. Manche Leute sind totale Snobs, was Kaffee angeht oder Essen oder Socken. Bei mir ist es Literatur. Mein Vater war Literaturwissenschaftler: theologische Literatur, viel Shakespeare und Lyrik. Meinen Snobismus behalte ich mir vor für meinen Hass auf einen Grossteil der zeitgenössischen Literatur. Bei Musik ist das anders, weil es meine Arbeit ist. Ich bin langsam an dem Punkt, wo ich jedes erdenkliche Stück Musik schön finden kann. Das ist extrem aufregend. Ich glaube, man bewegt sich da wie auf einer Kurve: Eine Zeitlang achtest du darauf, was du konsumierst und was du für einen Geschmack ausbildest – ein gewisser Snobismus, den man vor allem bei Jugendlichen beobachtet. Das ist völlig in Ordnung, ich glaube, es ist sogar notwendig. Aber es ist wunderbar, wenn man dann auf der anderen Seite wieder herauskommt.

Jerskin Fendrix

Der 28-Jährige, bürgerlich Joscelin Dent-Pooley, ist auf dem Land in Shropshire aufgewachsen. Nach dem Musikstudium in Cambridge fand er im Umfeld des Windmill-Pubs in Brixton zur Londoner Musikszene. Als Jerskin Fendrix schrieb er die Musik zu einer experimentellen Oper nach Alfred Jarrys «König Ubu», die 2018 im unterirdischen Zugang zum ­ Victoria and Albert Museum in London aufgeführt wurde. Auf seinem Album «Winterreise» (2020) spielt er kurios verspulten Electropunk. Sein Soundtrack zu «Poor Things» ist bei Milan Records / Sony erschienen.

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