Istanbul: Fragilität am Bosporus In der türkischen Metropole ist die Wasserversorgung zunehmend in Gefahr. Doch was unternimmt die türkische Regierung?
Der Park rund um den Alibeyköy-Stausee im Nordwesten Istanbuls ist ein lokaler Geheimtipp. Vogelgezwitscher statt Autolärm, Grünflächen statt Betonwüste. Wer hier picknicken will, muss sich am Eingang ausweisen. Auf den engen Schotterwegen patrouillieren Polizist:innen, und der See ist von einem Stacheldrahtzaun umrahmt. Die Sicherheitsmassnahmen sollen das Wasser vor Verschmutzung schützen.
Der Stausee hat Platz für gut dreissig Millionen Kubikmeter Wasser. Im Schnitt ist das Becken aber nur halb voll und könnte allein den Bedarf für etwa eine Woche decken. Nicht alle der zehn Stauseen in Istanbul sind so abgeschirmt von den Wohnvierteln, der qualmenden Industrie und dem brausenden Verkehr. «All das kann sich auf die Wasserqualität auswirken», erklärt Bülent Solmaz, der stellvertretende Vorsitzende der städtischen Wasserwerke (ISKI). Der gelernte Ingenieur sitzt an seinem Schreibtisch im ISKI-Hauptquartier und spielt mit einem rostbraunen Perlenarmband. «Was soll ich machen? Die Stadt ist zu voll.»
Umweltbedenken sind für die meisten Istanbuler:innen ohnehin kein Thema. Hauptsache, das Wasser wird nicht abgestellt. Und das ist schon seit Jahren nicht mehr passiert. Selbst im vergangenen Sommer brach die Versorgung nicht ab. Dabei war die Lage brenzlig wie lange nicht mehr: fünf Monate so gut wie kein Regen. Der aber ist neben Flüssen die Hauptwasserquelle für Istanbul. Stattdessen verdunsteten pro Tag mehrere Tausend Kubikmeter Stauwasser. Die Pegelstände sanken zum Teil auf unter fünf Prozent. Gefährlich hätte das gerade für die europäische Seite der Stadt werden können: Dort leben etwa sechzig Prozent der Bevölkerung. Doch dieser Teil verfügt nur über vierzig Prozent der städtischen Wasserressourcen – und ist auf Pumpsysteme aus dem asiatischen Teil angewiesen.
Warten auf Ankara
«Gut, die Situation war beunruhigend, aber solche Dürren kommen alle paar Jahre vor», winkt Solmaz ab. Von neuen Problemen durch den Klimawandel will er nichts wissen. «Wir Türken leben seit 1500 Jahren hier!», ruft er und geht zu einer riesigen Landkarte, die an der Wand hängt. Sie zeigt Istanbul mit allen Stauseen, Wasserwegen und Kläranlagen. Der Grund dafür, dass trotz Dürre kein Wasser abgestellt werden musste, befindet sich etwa 180 Kilometer östlich von der Stadtmitte: Am Melen, einem wilden Zufluss zum Schwarzen Meer, betreiben die ISKI seit vielen Jahren eine riesige Pumpstation. Das Wasser gilt als hochwertig. Theoretisch reicht es für ganz Istanbul; praktisch jedoch kommt der Melen jährlich nur für gut die Hälfte auf. «Im vergangenen Jahr mussten wir erhöhen, auf etwa siebzig Prozent», erklärt Solmaz.
Das Problem: Wenn zu viel Wasser abgepumpt wird, droht die Fliessgeschwindigkeit an der Mündung nachzulassen – und Salzwasser in den Fluss gedrückt zu werden. Mit einer gigantischen Talsperre samt Wasserkraftwerk an einer anderen Stelle des Melen soll dieses Umweltrisiko umgangen werden. Doch das Projekt stockt. Offiziell liegt das an der Bodenbeschaffenheit. Einige Beobachter:innen vermuten dagegen einen politischen Kampf um das Milliardenprojekt: Die türkische Regierung wolle der oppositionellen Stadtregierung Steine in den Weg legen. Solmaz hält sich bedeckt: «Wir müssen auf Schritte aus Ankara warten.»
Bis dahin bleibt die Wasserversorgung am Bosporus fragil. Wie die Wasserwerke sehen auch Umweltverbände und die Zivilgesellschaft das Hauptproblem nicht im Klimawandel. Sie fürchten einen anderen Faktor: In Istanbul leben immer mehr Menschen. Offiziell hat die Stadt knapp sechzehn Millionen Einwohner:innen. Wegen irregulärer Migration gilt die Zahl jedoch als wenig verlässlich. Die Planungen der ISKI sind auf zwanzig Millionen Menschen ausgelegt. Auch der Konsum steigt demnach kontinuierlich. Für 2023 veröffentlichten die ISKI eine Rekordzahl: 1,2 Milliarden Kubikmeter für Haushalte und öffentliche Bewässerung.
Die Zahl erschreckt Wasserexpert:innen landesweit, obwohl sie, verglichen mit denen anderer Metropolen wie Peking oder New York, nicht hoch ist. Istanbul sei eine Stadt mit fragiler Klimaresistenz, die Wasserversorgung sei ständig gefährdet, mahnt der Direktor der unabhängigen Hydropolitischen Akademie, Dursun Yıldız: «Wir haben keine Wasserkrise, sondern uns fehlt das Bewusstsein für den Umgang mit dem, was da ist.» Der gelernte Bauingenieur fordert ein Ende der Verschwendung: «Allein im verarbeitenden Gewerbe könnten bis zu zehn Millionen Kubikmeter pro Jahr eingespart werden.» Für Istanbul wären das gut drei Tage Wasser.
Ein gigantischer Masterplan
Seit neustem müssen deswegen private Neubauten ab einer Fläche von tausend Quadratmetern Auffanganlagen für Regenwasser bereitstellen. Die Stadt hat sich zudem einen «Masterplan» ausgedacht: neue Trinkwassertanks, Pumpengruppen, fast 600 Kilometer Verteilungsleitungen und mehr Erdbebensicherheit bis 2053. Yıldız findet den Ansatz gut, aber nicht ausreichend. «Wenn sich unser Konsum nicht ändert, werden die Umwelt-, Wirtschafts- und Ressourcenkosten von Wasser deutlich steigen, was den Zugang für alle erschweren wird.» Vorboten dafür gab es bereits Mitte Mai: Der Stadtrat beschloss eine Erhöhung der Wasserkosten um etwa sechzig Prozent.