«Wir wollen nicht helfen, wir wollen teilen» Frauen aus einem feministischen Netzwerk gründeten in Berlin vor acht Jahren die Plattform «Weiter Schreiben» für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Ein Gespräch mit der Mitgründerin Annika Reich.

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Portraitfoto von Annika Reich
Annika Reich. Foto: Heike Steinweg

WOZ: Annika Reich, was gab den Anstoss zur literarischen Plattform «Weiter Schreiben»?

Annika Reich: Da muss ich etwas zurückgreifen: Vor zehn Jahren kam es hier in Berlin zu unglaublichen Szenen. Ich hörte damals im Radio, dass vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales Tausende von geflüchteten Menschen am Boden sitzend und liegend auf ihre Registrierung warten. Ich konnte mir das schlicht nicht vorstellen. So bin ich hingefahren. Was ich dort gesehen habe, hat mich tief erschüttert.

WOZ: Inwiefern?

Annika Reich: Dass man hier, gleich um die Ecke, wo wir in schicken Cafés sitzen und uns überlegen, ob wir den Kaffee mit Hafer- oder Kuhmilch trinken sollen, alte Menschen, Frauen und Kinder ohne Dach über dem Kopf und ohne jegliche medizinische Versorgung auf ihre Registrierung tagelang warten liess – das war krass. Ich habe dann vor Ort Nothilfe geleistet mit Frauen, mit denen ich vor zwanzig Jahren ein feministisches Netzwerk gegründet hatte.

Annika Reich: Schliesslich fragten wir uns, ob wir nicht andere Dinge besser können als Nothilfe leisten. Wir dachten: Wir wollen nicht helfen, wir wollen teilen – jede von uns in dem Bereich, in dem wir auch tatsächlich tätig sind. Und ich dachte: Gut, ich bin Schriftstellerin, schauen wir doch mal, was ich machen kann.

WOZ: Wie ging es dann weiter?

Annika Reich: Wir gründeten den gemeinnützigen Verein «Wir machen das» – in Anlehnung an Angela Merkels «Wir schaffen das». Aber anders als das «wir» bei Merkel ist unser «wir» eines, das die geflüchteten Menschen miteinbezieht. Unsere Idee: Wir öffnen Räume und schauen, wie wir auf die Expertise dieser Menschen und nicht auf ihren vermeintlichen Mangel fokussieren können. Und wie wir sie unterstützen können, so, dass eine gewisse Kontinuität möglich wird – nach dem Bruch, der eine Flucht in einer Biografie bedeutet. Im Fall von «Weiter Schreiben», das innerhalb dieses Vereins entstand, ist die Kontinuität das Schreiben.

WOZ: Das Projekt setzt auf Tandems: Geflüchtete Autor:innen arbeiten mit je einer Autor:in zusammen, die schon lange hier lebt, sie treten bei Lesungen zusammen auf. Wie seid Ihr auf diese Idee gekommen?

Annika Reich: Oft zielen gut gemeinte Projekte an den Menschen vorbei, die sie betreffen. Mir ist das in diesem Fall auch fast passiert.

WOZ: Wie?

Annika Reich: Ich dachte zuerst, ich mache einfach eine Website mit Infos zum deutschen Literaturbetrieb in den unterschiedlichsten Sprachen. Doch geflüchtete Autor:innen, die wir kannten und die schon länger in Deutschland lebten, meinten, das könne ich vergessen: Viele würden dieser Information eh nicht vertrauen, weil sie nicht wüssten, wer hinter der Website stecke. Mir wurde klar, dass es als Erstes darum gehen musste, Vertrauen aufzubauen.

Annika Reich: Ausserdem sagten die geflüchteten Autor:innen: Alles, was wir wollen, ist weiterschreiben. Doch was nützt deine Sprache, wenn sie nicht verstanden wird? Wenn du schreibst, willst du ja gehört und gelesen werden. Also war uns klar: Wir müssen die Texte auf Deutsch übersetzen lassen, publizieren und dafür sorgen, dass sie einen Weg zu den Leser:innen finden.

WOZ: Hier kommen die Tandems ins Spiel?

Annika Reich: Genau. Beim Tandem ist neben dem Vertrauen, das zwischen den beiden Autor:innen aufgebaut wird, die Vernetzung zentral. Wer geht in Berlin schon auf die Lesung eines jemenitischen Lyrikers? Aber wenn die Lesung gemeinsam mit der Preisträgerin des Deutschen Buchpreises stattfindet, kommt ein Publikum. In so einer Kombination wird die Veranstaltung noch spannender. Ausserdem haben viele der deutschen Autor:innen ihre Tandempartner:innen an ihre eigenen Verlage weitervermittelt und ihnen zu weiteren Kontakten verholfen.

WOZ: In Deutschland sind mittlerweile fünfzig geflüchtete Autor:innen Teil des Projekts. Wie kommt Ihr auf die Autor:innen?

Annika Reich: Wir haben Kurator:innen für arabische, persische und ukrainische Literatur. Da ich diese Sprachen selber nicht verstehe, sind sie es, die die Autor:innen aussuchen. Die Exilautor:innen und wir lernen uns dann kennen, ab da begleiten wir sie für zwei Jahre, beraten sie beim Einstieg in den deutschen Literaturbetrieb und bringen sie mit ihren Tandempartner:innen zusammen.

Annika Reich: In Berlin gibt es eine grosse intellektuelle Szene aus Damaskus. Da zur Revolution in Syrien damals viel über Facebook mobilisiert wurde, sind viele dieser einstigen Regimegegner:innen noch immer gut vernetzt. So ist das «Weiter Schreiben»-Projekt in Berlin schnell bekannt geworden. Inzwischen haben wir lange Wartelisten. In der Schweiz war das übrigens ganz anders.

WOZ: Inwiefern?

Annika Reich: Als wir dort das Projekt vor fünf Jahren lancierten, war es äusserst schwierig, geflüchtete Autor:innen zu finden. Auffallend war für mich, wie wenig Wissen über die Expertise vorhanden war, die Geflüchtete aus ihrem Land mitbringen. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die mit Geflüchteten arbeiten. Doch sie hatten meist wenig Ahnung, was diese für einen Hintergrund mitbrachten. Mir scheint, Geflüchtete werden in der Schweiz noch mehr als in Deutschland nur als «Flüchtlinge» wahrgenommen. Es war und ist also viel schwieriger, Autor:innen zu finden.

WOZ: Nach welchen Kriterien entscheidet Ihr, wer am Projekt teilnehmen kann?

Annika Reich: Wir machen immer eine literarische und eine politische Prüfung. Bei der literarischen gilt: Wir nehmen nur Autor:innen ins Programm, die schon literarisch tätig waren, bevor sie ihr Land verlassen haben. Wir sind kein Hilfsprojekt, das Geflüchteten das Schreiben ermöglicht, sondern ein Projekt für Literaturschaffende. Die politische Prüfung ist wichtig, um zu verhindern, dass wir zum Beispiel plötzlich eine syrische Autorin im Programm haben, die Baschar al-Assad unterstützte. Wenn du so jemanden ins Projekt holst, verlassen es alle anderen.

WOZ: Ist das schon einmal passiert?

Annika Reich: Ja, zwei- oder dreimal ist uns das Projekt fast um die Ohren geflogen. Da haben wir im letzten Moment gerade noch gemerkt, wo die Person politisch steht. Das ist manchmal gar nicht so einfach.

Die Autor:innen sind aus ihren Ländern geflüchtet, weil sie dort in Gefahr waren. Bringen sie sich hier mit öffentlichen Auftritten nicht erneut in Gefahr?

Annika Reich: Bei den Lesungen von syrischen oder iranischen Autor:innen sass immer mal wieder einer aus dem jeweiligen Geheimdienst im Publikum. Aber vor allem die syrischen Autor:innen hatten einen sehr offensiven Umgang damit, im Sinne von: Du da hinten, du kannst uns übrigens gar nichts mehr anhaben hier.

Annika Reich: Anders ist es mit eritreischen Autor:innen. Die einzige, mit der wir in Deutschland arbeiten, ist Yirgalem Fisseha Mebrahtu. Ich glaube, sie ist überhaupt die einzige eritreische Autorin im deutschsprachigen Raum, die sich öffentlich äussert. Sie war acht Jahre in Eritrea im Gefängnis, zum Teil in Isolationshaft, wurde gefoltert. Sie sagt: «Wovor soll ich mich denn bitte hier noch fürchten?» Allerdings finden wir niemanden, der sie auf der Bühne dolmetscht, die Veranstaltungen finden deshalb auf Englisch statt. Und der Name der Übersetzerin ihrer Texte wird auch nicht vollständig angegeben.

WOZ: Rechte Parteien sind überall auf dem Vormarsch, für soziale Projekte oder Projekte für Geflüchtete gibt es immer weniger Geld. Wie wirkt sich das auf «Weiter Schreiben» aus?

Annika Reich: In der jetzigen politischen Situation würden wir es uns wohl gar nicht mehr zutrauen, so ein Projekt zu lancieren. So viele NGOs müssen schliessen, rechte Kräfte versuchen, Projekte wie unseres zu diskreditieren. Mit jedem Monat wird es gefühlt schlimmer. Seit Anfang dieses Jahres haben wir keine öffentliche Förderung mehr für das Basisprojekt. Die erfreuliche Nachricht: Dank monatelangem intensivem Fundraising konnten wir die öffentlichen Gelder zu einem grossen Teil durch private ersetzen. Wir haben es also gerade noch geschafft. Zum Glück.

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