Entkriminalisieren, wie geht das? Daan Bauwens von der belgischen Gewerkschaft für Sexarbeiter:innen Utsopi über einen erstaunlichen politischen Erfolg – und die Rolle, die die Pandemie dabei spielte.
WOZ: Daan Bauwens, Belgien ist neben Neuseeland das einzige Land der Welt, das Sexarbeit komplett entkriminalisiert hat. Das heisst, der Fokus liegt nicht mehr auf der Eindämmung der Sexarbeit, sondern auf Arbeitsrechten für die Sexarbeiter:innen. Was bedeutet das für diese?
Daan Bauwens: Sexarbeiter:innen werden nun rechtlich nicht mehr diskriminiert, sie haben zum Beispiel das Recht auf eine Arbeitslosenversicherung und eine Altersrente. Vor 2022 waren sämtliche Unterstützung und Zusammenarbeit mit ihnen illegal. Das betraf zum Beispiel die Geschäftsinhaberin, die im Rotlichtviertel von Antwerpen ein Fenster oder ein Zimmer vermietete, den Banker, der einer Sexarbeiterin ein Konto eröffnete, oder sogar eine erwachsene Person, die mit einer Sexarbeiterin eine Wohnung teilte. Diese galten alle als Zuhälter:innen, weil sie in gewisser Weise von der Sexarbeit einer anderen Person profitierten. Sogar romantische Partner:innen waren davon betroffen.
WOZ: Vor dem 1. Juni 2022 existierte Sexarbeit in Belgien offiziell nicht. Sexarbeiter:innen waren als Kellner:innen, Tänzer:innen oder Masseur:innen angemeldet. Das neue Gesetz änderte das.
Daan Bauwens: Ja, von einem Tag auf den anderen wurden alle Drittparteien entkriminalisiert, ausser die Arbeitgeber:innen. Für diese war es erst im November vergangenen Jahres, mit dem neuen Arbeitsgesetz, so weit. Es war also eine Entkriminalisierung in Schritten. Wir wissen nicht, wie viele Sexarbeiter:innen sich nun beim Staat als Selbstständige registriert haben, aber wir stellen fest, dass in der Onlinewerbung deutlich seltener unsichere Praktiken angeboten werden.
WOZ: Woran liegt das?
Daan Bauwens: Ich vermute, das hat damit zu tun, dass ihre Tätigkeit nun vertraglich abgesichert ist. Es handelt sich um einen geregelten Austausch, bei dem die Person ihre eigenen Grenzen setzen und bei deren Missachtung rechtlich dagegen vorgehen kann. Ich glaube, das hat dazu geführt, dass heute viel weniger unsichere Praktiken angeboten werden. Aber das ist nur eine Veränderung, die wir wahrnehmen.
WOZ: Woran denken Sie noch?
Daan Bauwens: Das Gesetz wirkt höchst destigmatisierend. Die Polizei, Sozialarbeiter:innen, alle Behörden wissen nun: Wir müssen Sexarbeiter:innen gleich behandeln wie andere Arbeitstätige. Wir von Utsopi werden jetzt beispielsweise von Krankenversicherungen kontaktiert, die von uns wissen wollen, wie sie mit einer oder einem trans Sexarbeiter:in umgehen sollen, die oder der sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen möchte. Buchhaltungsbüros rufen uns an und wollen mehr über das Gesetz wissen: «Wie können wir diese Person dabei unterstützen, eine Escortagentur zu gründen?»
WOZ: Ihre Gewerkschaft Utsopi war massgeblich daran beteiligt, dass es die neuen Gesetze gibt. Wie ist Ihnen das gelungen?
Daan Bauwens: Die Entkriminalisierung war schon lange unser wichtigstes Anliegen. Aber wir waren ein Rufer in der Wüste. Es gab keine Reaktion vonseiten der Politik. Das alles änderte sich 2020, während des Coronalockdowns. Es gab damals in Belgien nur einen Sektor, der keinen Anspruch auf Entschädigung hatte: das Sexgewerbe. Und das war das Resultat der neoabolitionistischen Politik – das heisst einer Politik, die Sexarbeit an sich abschaffen will.
WOZ: Es gab keine Unterstützung, weil Sexarbeit offiziell nicht existierte?
Daan Bauwens: Genau. Wir als Gewerkschaft, deren Mitglieder ausschliesslich Sexarbeiter:innen sind, starteten eine Hilfsaktion. Wir sammelten Spenden, bauten unser eigenes Wohlfahrtssystem auf, indem wir in Brüssel Geld oder Lebensmittelpakete verteilten. Vor allem Menschen ohne Papiere und ohne Bankkonto waren auf die Pakete angewiesen. Der Staat war nicht in der Lage, den Sexarbeiter:innen ein soziales Auffangnetz zu bieten, also schufen sie sich selbst eines. Das erzeugte viel öffentliche Aufmerksamkeit und traf einen Nerv.
WOZ: Auch in der Politik?
Daan Bauwens: Tatsächlich führte es zu einer politischen Öffnung, sodass wir zum ersten Mal über Gesetzesänderungen sprechen konnten, damit sich eine solche Situation nicht wiederholt. Jedes Mal, wenn wir in den Medien waren – und das war oft der Fall –, machten wir darauf aufmerksam. Und plötzlich erhielten wir Geld von lokalen Behörden und sogar vom Ministerium für Armutsbekämpfung. Wir hielten ein System am Laufen, wozu der Staat nicht fähig war. Das brach mit so vielen Stereotypen. Sexarbeiter:innen wurden in der Öffentlichkeit nicht mehr als stimmlose Opfer gesehen, sondern als fähige Menschen, die sich organisierten und sich umeinander kümmerten. Das führte zu einer grossen Verschiebung in der Wahrnehmung von Sexarbeiter:innen und Sexarbeit selbst.
WOZ: Utsopi, vor zehn Jahren als aktivistisches Kollektiv gegründet, hatte plötzlich Einfluss auf die staatliche Politik.
Daan Bauwens: Wir konnten mit dem Justizminister und verschiedenen Staatssekretär:innen sprechen. Wir wurden als Dialogpartner:innen angesehen, um die Situation zu verbessern. Ohne Covid hätten wir vielleicht nie diese Legitimität erreicht, zumindest nicht so schnell.
WOZ: Sie hatten doch bestimmt auch Gegner:innen?
Daan Bauwens: Natürlich. Interessanterweise zeigten sich diese jedoch erst nach dem Lockdown. 2020 wurde in Belgien eine neue Regierung aus Liberalen, Christdemokratinnen, Sozialisten und Grünen gebildet und Sexarbeit im Koalitionsvertrag erwähnt. Am 1. April 2021 – nach viel Vorbereitungsarbeit von uns – kündigte der Justizminister öffentlich an, Sexarbeit zu entkriminalisieren. Darauf folgte ein riesiger Backlash von sexarbeitsfeindlichen Organisationen. Sie versuchten, unser Vorhaben durch Lobbying im Parlament, bei den grossen Parteien, in den Medien und der Justizdirektion zu blockieren und zu verzögern. Es ging schliesslich vor allem darum, so lange zu kämpfen, bis unsere Gegner:innen aufgaben.
WOZ: Kannten Sie diese Organisationen?
Daan Bauwens: Zum Teil ja. Doch während des Lockdowns hatten wir nie etwas von ihnen gehört. Wo waren sie, als alles so komplett falsch lief? Oder waren sie sogar glücklich, dass es so viel Elend gab? Hofften sie, dass sich die Sexarbeiter:innen nun einen anderen Job suchen würden? Das ist so etwas wie der rote Faden der Antisexarbeitspolitik: Es geht dabei am Ende darum, die Bedingungen für Sexarbeiter:innen dermassen zu verschlechtern, dass sie sich eine andere Tätigkeit suchen.
WOZ: Das neue Gesetz schaffte es schliesslich auch durchs belgische Parlament. Jetzt, wo es in Kraft ist, sehen Sie Lücken zwischen Gesetz und Praxis? Laut Medienberichten hatte ein halbes Jahr später noch kein einziger Bordellbetreiber Sexarbeitende als Angestellte angemeldet.
Daan Bauwens: Stand jetzt gibt es sicher einen registrierten Betrieb und etwa fünfzehn weitere, die auf ihre staatliche Anerkennung warten. Man darf aber nicht vergessen, dass Bordellbetreiber:innen bisher in einer Situation der Rechtsunsicherheit agierten. Ihr Geschäft konnte von einem Tag auf den anderen geschlossen werden, auch wenn ein Betrieb bessere Arbeitsbedingungen aufwies als andere, die unbehelligt blieben. Das Vertrauen der Bordellbesitzer:innen in den Staat ist also nicht sehr gross. Es muss erst Vertrauen geschaffen werden, und wir tun alles, was wir können, um sie über die aktuelle Gesetzeslage zu informieren.
WOZ: Machen alle Behörden anstandslos mit?
Daan Bauwens: Wir sehen, dass eine kleine Anzahl lokaler Behörden Polizeiverordnungen herausgegeben hat, um Sexarbeit zu regulieren. Die Gemeinde Hamme mit 25 000 Einwohner:innen hat etwa entschieden, dass erotische Massagesalons eine Startgebühr von 6500 Euro sowie eine jährliche Steuer von 5000 Euro entrichten müssen. Die Gemeinde hofft, dass die erotischen Geschäfte dadurch woanders hinziehen. Das ist illegal, aber niemand ausser uns macht etwas dagegen.
WOZ: Gibt es weitere gesetzliche oder strukturelle Hindernisse, die Sexarbeiter:innen in unsichere Verhältnisse drängen?
Daan Bauwens: Die europäische Opferschutzrichtlinie besagt, dass jede Person, die Opfer eines Verbrechens wird, dieses sicher bei der Polizei zur Anzeige bringen können soll. Da es in Belgien jedoch ebenfalls ein Verbrechen ist, sich ohne Papiere im Land aufzuhalten, können Sexarbeiter:innen ohne Papiere verhaftet werden, wenn sie zur Polizei gehen. Das heisst, sie erstatten keine Anzeige, was wiederum zu Straflosigkeit führt.
WOZ: Wie würde ein vollkommen sicherer und unterstützender Rahmen für Sexarbeiter:innen aussehen?
Daan Bauwens: Ich würde sagen, wir sind in Belgien schon fast an diesem Punkt, was die Gesetzestexte angeht. Die Richtung stimmt. Wenn wir nun noch die Garantie haben, dass Migrant:innen sicher bei der Polizei Anzeige erstatten können, würde ich sagen: Wir haben so gut wie alles erreicht. Darf ich noch etwas hinzufügen?
WOZ: Gerne.
Daan Bauwens: Erstens zum nordischen Modell, bei dem nur die Kunden direkt kriminalisiert werden, indirekt aber auch die Sexarbeiter:innen. Solche Gesetze, wie es sie in Schweden oder Frankreich gibt, werden immer unter dem Vorwand des Schutzes von Sexarbeiter:innen erlassen. Aber die Forschung zeigt klar, dass sie diese Gesetze nicht beschützen, sondern verletzlicher gegenüber Krankheiten und Gewalt machen.
WOZ: Und zweitens?
Daan Bauwens: Ich möchte klarstellen, dass wir von Utsopi Sexarbeit nicht verherrlichen. Es ist nicht einfach, sich für diese Arbeit zu entscheiden. Wenn wir schauen, wer diese tatsächlich ausübt, sind das oft trans Menschen, Migrant:innen, alleinerziehende Mütter, Menschen aus der LGBTQ-Community. In der Sexarbeit spiegelt sich also strukturelle Unterdrückung wider. Das bedeutet, dass die Entscheidung für Sexarbeit oft das Resultat struktureller Diskriminierung ist. Darum müssen wir anders über das Konzept der freien Wahl nachdenken.
WOZ: Inwiefern?
Daan Bauwens: Wenn jemand eine Wahl trifft, dann aus den Möglichkeiten, die der Person überhaupt zur Verfügung stehen. Die Wahl, die Sexarbeiter:innen treffen, ist oft das Resultat eines Mangels an anderen Möglichkeiten. Wenn man nun sagt, Sexarbeit sei unmoralisch und sollte darum abgeschafft, nicht als Arbeit anerkannt werden, dann gesteht man Sexarbeiter:innen nicht die gleichen Rechte zu wie anderen Bürger:innen: kein Recht auf Mutterschaftsentschädigung, kein Recht, sich irgendwann pensionieren zu lassen, kein Recht auf Arbeitslosengeld. Sexarbeiter:innen das alles vorzuenthalten, halten wir für komplett unmoralisch.
Daan Bauwens und Utsopi
Daan Bauwens ist Projektkoordinator und Mediensprecher der Sexarbeitsgewerkschaft Utsopi (Union belge des travailleur-euses du sexe organisé-e-s pour l’indépendance). Nach der Gründung 2015 war er ihr erster Angestellter. Bauwens hat Anthropologie an der Columbia University in New York studiert und fünfzehn Jahre lang als Investigativjournalist in verschiedenen Ländern gearbeitet.
Utsopi entstand zunächst als informeller Treffpunkt für einen regelmässigen Austausch unter Sexarbeiter:innen in Brüssel. Als der Bürgermeister des Brüsseler Vororts Saint-Josse-ten-Noode, wo eines der Rotlichtviertel der Hauptstadtregion liegt, ankündigte, die Fensterprostitution aus seiner Gemeinde zu verbannen, schlossen sich die Sexarbeiter:innen zur ersten Sexarbeitsgewerkschaft in Belgien zusammen. Bis heute sind Vorstand und Mitglieder der Gewerkschaft, die sich auch als aktivistisches Kollektiv versteht, ausschliesslich aktive und ehemalige Sexarbeiter:innen, und mindestens die Hälfte der Utsopi-Mitarbeitenden sind Sexarbeiter:innen.