Leseprobe «wobei» 6/22: In dieser Welt zwischen Ost und West
[ Dies ist eine Leseprobe des wobei-Hefts «Im Exil». Abonnent:innen klicken hier für den ganzen Artikel.]
«Oberst Wasin fuhr an die Front
mit seiner jungen Frau,
Oberst Wasin trommelte sein Regiment zusammen
und sagte: Fahren wir nach Hause.
Seit siebzig Jahren schon führen wir Krieg,
man hat uns gelehrt, dass das Leben ein Kampf ist.
Doch nach neuen Erkenntnissen des Geheimdienstes
haben wir uns selbst bekämpft.»
Aquarium: «Pojesd w Ogne» (Zug in Flammen), 1988
«Putin greift die Ukraine an»: Die Pushmeldung auf dem Handy reisst mich aus dem Schlaf. Nachrichten trudeln ein, von Bekannten in Kyjiw, meinen Eltern in Deutschland, von Freund:innen in Moskau. Ich starre ungläubig auf das Display. Dass es Ereignisse gibt, die die Welt in ein Vorher und ein Nachher teilen, ist eine ebenso banale wie wahre Erkenntnis. Ein solches Ereignis nimmt am frühen Morgen des 24. Februar seinen Anfang, als das russische Regime das Nachbarland überfällt.
Die Worte, die europäische Staatschef:innen anschliessend bemühen, könnten hochtrabender nicht sein. Von einer «Zeitenwende» ist die Rede, von «europäischen Werten», die die tapferen Ukrainer:innen unter Einsatz ihres Lebens verteidigten, «für uns alle und im Namen der Demokratie». Heute, neun Monate später, sind die grossen Worte verklungen. Energiekrise und Inflation machen den Europäer:innen zu schaffen, lenken ihre Aufmerksamkeit wieder nach innen.
Derweil lässt das russische Regime weiter ukrainische Städte, Stromleitungen und Heizwerke, Wohnhäuser und Spielplätze beschiessen, mehrmals täglich dröhnt in den Metropolen des Landes der Luftalarm. Während die Menschen dort ums Überleben kämpfen, wird auch in meinem politisch aktiven Umfeld immer weniger vom Krieg geredet. Viele scheinen sich in der Illusion eingerichtet zu haben, dass ein «Weiter so» noch immer möglich ist, dass die Welt, in der sie gross geworden sind, weiterhin existiert, auch viele Linke. Doch es gibt auch einen Raum dazwischen – einen, den Millionen Menschen bewohnen. Ich zähle mich auch dazu.
1. Das Exil als Zwischenraum
Meine Kindheit habe ich in einem Imperium im Niedergang verbracht, geboren in Moskau, nur wenige Jahre bevor die Sowjetunion Geschichte sein sollte. Besonders viele Erinnerungen habe ich nicht an diese Zeit, nur manchmal leuchten Episoden auf, von denen ich nicht mehr weiss, ob ich sie selbst durchlebte oder sie mir erzählt wurden. In solchen Momenten sehe ich die Schlange bei der Eröffnung der ersten russischen McDonald’s-Filiale, höre die Schüsse im Hof vor unserem Haus, Mafiakämpfe, die Anfang der Neunziger zum Alltag der Hauptstadt gehörten, denke an den Austauschschüler aus den USA, der sich – nachdem er einmal die leeren Supermarktregale gesehen hatte – nicht mehr traute, bei uns zu essen.
1992, im tiefen Winter, stiegen meine Eltern, mein Bruder und ich in den Zug, auf der Suche nach Perspektiven, auf der Flucht vor dem Antisemitismus, um einige Tage später im Asylheim einer süddeutschen Kleinstadt anzukommen. «Kontingentflüchtlinge» wurden wir in Deutschland genannt, über 200 000 Menschen mit jüdischen Vorfahren kamen in diesen Jahren aus den Überresten der Sowjetunion.
Dreissig Jahre sind seither vergangen, Jahre, in denen ich versucht habe, mit meinen Identitäten zu jonglieren, Flüchtlingskind und «Fremde», Russin, Deutsche oder Jüdin, Anpassung und Selbstermächtigung – bis der Angriff auf die Ukraine mich über Nacht zur Russin machte, Scham darüber in mir aufkommen liess, dass es «mein» Land ist, das diesen sinnlosen, verbrecherischen Krieg vom Zaun bricht. Einen Krieg, den auch ich nicht für möglich gehalten hatte, weil ein solcher Abgrund schlicht die Vorstellungskraft übersteigt.
Summiert man die Zahlen aus der Statistik, leben zurzeit knapp 100 000 Menschen aus Russland, der Ukraine und Belarus in der Schweiz, der weitaus grösste Teil von ihnen ist vor Putins Bomben geflohen. Viele scannen minütlich die Nachrichtenfeeds, schreiben dem Sohn an der Front, der Grossmutter, die, zu alt zum Fliehen, unter Dauerbeschuss ausharrt, dem Bruder, der Putins Mobilisierung zu entgehen versucht. Ähnliches erleben auch in anderen Ländern Europas all jene, die sich einem Raum zugehörig fühlen, der gemeinhin «postsowjetisch» genannt wird, so untauglich der Begriff auch ist, weil er alle Unterschiede verwischt.
Diese Stimmen sind nur selten in der Öffentlichkeit zu hören. Stattdessen überall Expertinnen und Politiker, von denen nur wenige den Raum auch wirklich kennen. Je länger der Krieg dauert, desto weniger ertrage ich ihre Arroganz. Auch weil sie nicht auf jene gehört haben, die seit Jahren vor der Gefährlichkeit des russischen Regimes warnen.
Leute wie Anna Politkowskaja. Nur wenige haben das Regime so präzise vermessen wie die Moskauer Reporterin, kaum jemand hat so sorgfältig die Kriege in Tschetschenien dokumentiert, die erst Präsident Boris Jelzin und dann sein Nachfolger Wladimir Putin führten – und die in ihrer grausamen Kriegstaktik die russischen Verbrechen in der Ukraine vorwegnahmen.
In einem ihrer Bücher beschrieb Politkowskaja Russland als «Sowjetunion nach neuer Façon, ein bisschen angetüncht, ein bisschen modernisiert, aber eben Sowjetunion. Mit einem bürokratischen Kapitalismus, in dem die Diener der Staatsmacht die obersten Oligarchen sind, unvergleichlich mächtiger und reicher als Privateigentümer und Kapitalisten.» 2006, am Tag von Putins 54. Geburtstag, wurde Politkowskaja vor ihrer Haustür erschossen.
Ihre Texte muten aus heutiger Sicht prophetisch an – oder vielleicht war damals einfach schon alles klar ersichtlich. Dass ihr niemand zuhörte, liess sie verzweifeln, stets geisselte sie das Wegschauen, die Doppelmoral. «Europa gewährt uns das Recht, unter Putin allein vor uns hin zu sterben», befand sie.
Dieser Text ist ein Versuch, anderen Stimmen zuzuhören: Ukrainerinnen, die die grausamen Folgen imperialen Wahns am eigenen Leib erfahren, Russen, die das Regime seit Jahren bekämpfen, dafür inhaftiert und gefoltert wurden, Belarus:innen, die den Aufstand gegen die Diktatur wagen. So unterschiedlich die Positionen sind, eines eint sie: ihr Blick aus der Distanz, ihre Rolle als Brücke zwischen zwei Welten. Das Exil, in dem sie sich aufhalten.
In Riga traf ich Journalist:innen, die gegen die russische Propagandamaschinerie ankämpfen. In Berlin sprach ich mit einem Aktivisten, der an der westlichen Heuchelei verzweifelt, hörte einem Theatermacher zu, der seine Kräfte sammelt, um der Ukraine mit seiner Kunst eine Stimme zu geben. In Zürich begegnete ich einer Netzpartisanin, die von New York aus den belarusischen Widerstand organisiert, in Genf einem Gewerkschafter, der sich auf die eigenen Fehler einen Reim zu machen versucht. Ich telefonierte mit einer Bloggerin, die die Verwerfungen in Belarus sichtbar machen will, mit einer Ikone der russischen Zivilgesellschaft, deren Engagement bis weit in die Sowjetzeit zurückreicht, mit einer Menschenrechtlerin, in deren Leben der Krieg schon 2014 trat, und mit einer Historikerin, die sich um die ukrainische Zukunft sorgt.
Das Exil hatte in der russischen Geschichte schon immer eine grosse Bedeutung – ob nach der Oktoberrevolution, als auf Lenins persönliches Geheiss die Intelligenzija auf dem «Philosophenschiff» deportiert wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den siebziger Jahren, ob nach dem Ende der Sowjetunion oder seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine. Auch die Menschen in Belarus und der Ukraine teilen eine Historie von Deportation und Vertreibung.
Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel beschreibt das Berlin der zwanziger Jahre als Zentrum des Exils. Er nennt die Stadt einen «dritten Ort», an dem Menschen Gespräche fortführen konnten, die in der Sowjetunion längst nicht mehr möglich waren. Auch heute ist die deutsche Hauptstadt Zuflucht für ukrainische Geflüchtete wie die russische Intelligenzija, doch auch die baltischen Staaten fungieren längst als Exilorte, oder Warschau, von wo aus die belarusische Opposition am Sturz des Regimes arbeitet, ebenso Städte wie Tiflis, Istanbul oder Jerewan. Daneben ist auch das Internet ein Ort der Zusammenkunft: für den Austausch mit anderen Geflüchteten oder mit jenen, die geblieben sind.
Der westliche Blick auf Osteuropa bleibt derweil diffus. Um ihn zu beschreiben, kann ein kürzlich erschienenes Buch helfen. Unter dem Titel «Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg» besichtigen vier Autor:innen aus Deutschland und der Schweiz eine Epoche, die mit Russlands Angriff auf sein Nachbarland womöglich ihr Ende findet. Der westliche Teil Europas habe sich als «Sieger der Systemauseinandersetzung» gefühlt, heisst es in dem Band. Berater:innen seien ausgeschwärmt, um «die ‹nachholende Modernisierung› und Zivilisierung des Ostens voranzutreiben». Die Verwerfungen aber habe kaum einer der Zugereisten verstanden. Erkannt habe der Westen im Osten vor allem billige Produktionsstätten und Exportmärkte. «Verlustängste und Gefühle der Bedrohung, die jene empfanden, die in einem von allen äusseren Einflüssen abgeschirmten sowjetisch dominierten Riesenreich gelebt hatten, waren im Westen niemandem vermittelbar.»
Fragt man Ulrich Schmid, Mitherausgeber des Buches und profunder Russlandkenner, welche westlichen Zuschreibungen das Bild vom Osten prägen, beginnt er mit einer Abgrenzung: «Kein Land will Osteuropa sein, da es immer den Beigeschmack des rückständigen, armen Verwandten des Westeuropäers hat. Osteuropa ist demnach dort, wo alles etwas schmutzig und chaotisch ist.» Seit dem 24. Februar habe sich mit Russland allerdings ein «neues Osteuropa» gebildet – aus westlicher Sicht «das komplett Andere» –, das einen Territorialkrieg führe, «der eigentlich schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Anachronismus gewesen wäre».
Doch Schmid ist auch überzeugt, dass der neue «Eiserne Vorhang», der das europäische Europa und das neosowjetische Russland trennt, keinen Bestand haben wird. «Der Westen ist in den Köpfen des Ostens schon längst angekommen, die Situation nicht mit jener in der Sowjetunion vergleichbar, als das Regime Kapital daraus schlagen konnte, dass die Menschen nicht reisen konnten und kein Internet hatten», sagt er. Unter den medialen Bedingungen des 21. Jahrhunderts lasse sich die komplette Isolation Russlands nicht aufrechterhalten.
2. Der Krieg als Zäsur
Als Erstes will ich wissen, was der Krieg mit den Ukrainer:innen gemacht hat, in Kyjiw wie im Donbas. Draussen vor dem «Berliner Ensemble» wartet an diesem sonnigen Dienstagnachmittag Anfang Oktober eine Heerschar schwarz gekleideter Depeche-Mode-Fans auf ihre Idole, die eben ein neues Album inklusive Tour angekündigt haben. In der Cafeteria jener Bühne, die Bertolt Brecht nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil 1949 in der deutschen Hauptstadt gründete, berichtet derweil Pavlo Arie davon, wie es sich anfühlte, eines Morgens im Krieg aufzuwachen.
Arie, schwarzes Cap, schwarzer Hoodie mit gelber «Fuck off»-Aufschrift, ist im westukrainischen Lwiw aufgewachsen. Seine Theaterstücke, Kunstinstallationen und Texte hatten ihn in die Welt hinausgebracht, bevor er nach Kyjiw zog und im Left Bank Theatre als Chefdramaturg anfing. Nun lebt er in Berlin, in einem «ewigen Warteraum», wie er es nennt.
Am Morgen des 24. Februar wacht Arie vom Geräusch der Explosionen auf. Kurz darauf ist seine Mutter am Telefon, die ihn bittet, zu ihr nach Lwiw oder – besser noch – direkt nach Deutschland zu fahren. «Ich wollte das alles nicht wahrhaben, dachte, ich schlafe noch eine halbe Stunde, und wenn ich aufwache, ist vielleicht alles vorbei.» Arie sucht nach Zugverbindungen in den Westen. Als er die Nachrichten anmacht, sieht er die Bilder vom überfüllten Bahnhof, die damals weltweit die Runde machten. «Ich entschied mich zu bleiben, weil ich den fliehenden Frauen und Kindern nicht den Platz im Zug wegnehmen wollte.»
Um nicht durchzudrehen, denkt sich Arie Rituale aus. Schon am zweiten Kriegstag geht er in sein Theater, um dort nach dem Rechten zu sehen. Beim Eingang sei er von der Feuerwehr, die das Gebäude bewachte, nach dem Ausweis gefragt worden, erzählt der Dramaturg lachend. «Ich sagte ihnen, dass wir gar keine eigenen Ausweise hätten, sie aber mein Gesicht mit dem grossen Bild an der Wand vergleichen könnten. Dann haben wir laut gelacht.»
Ins Theater zu gehen, beruhigt Arie, stiftet Sinn in all dem Wahnsinn. Von da an ist der 47-Jährige jeden Tag dort, postet auf Facebook regelmässig Fotos vom Haus – für die geflohenen Mitarbeiter:innen wird er zur Brücke in eine frühere Normalität. Hier das Theater, in dem die Zeit wie eingefroren scheint, dort die Aussenwelt, in der sich alles verändert hat, die Ampeln nicht mehr funktionieren, sich in den Strassen der Müll auftürmt, leere Supermärkte, Panzer und Barrikaden. Dieser Gegensatz sei für ihn schlimm gewesen. In den ersten Tagen rückt der Krieg sehr nahe an die Hauptstadt heran, nicht nur Explosionen sind zu hören, auch die Kämpfe.
Neben seinen täglichen Ausflügen ins Theater führt Arie Tagebuch, hält den Horror fest, aber auch die kleinen Freuden, wenn etwa die Ampeln plötzlich wieder funktionieren, sucht Ruhe und Sicherheit im geschriebenen Wort, findet auch Hoffnung. «Vielleicht hat mich das gerettet», sagt er rückblickend. Später wird Aries «Tagebuch des Überlebens» in Theatern von Berlin und Tiflis über Mailand bis nach Los Angeles inszeniert.
Manchmal liegen Schrecken und Schönheit nah beieinander, auch im Krieg. Zu den guten Momenten zählt Arie die Selbstorganisation der Hauptstädter:innen, in einem Moment, in dem der Staat nicht mehr in der Lage ist, Grundbedürfnisse zu decken. In den ersten Kriegstagen versucht er, Medikamente zu besorgen, doch vor der einzigen offenen Apotheke warten zu viele Menschen, als dass alle bis zur Sperrstunde drankommen würden. Die Stimmung in der Schlange sei offen feindselig gewesen; wer weiter vorne war, wurde beschimpft. «Ich dachte, wir hätten es verdient, von einer Rakete getroffen zu werden, so schlecht haben wir uns gegenseitig behandelt», sagt Arie.
Dann passiert etwas, das der Theatermacher bis heute unglaublich findet. Zwei Angestellte der Apotheke seien zu den Wartenden herausgekommen und hätten versprochen, dass niemand mit leeren Händen nach Hause gehen müsse. «Das hat alles verändert: Eine Minute zuvor waren wir noch die schlimmsten Menschen im Universum, nun begannen wir, uns zu organisieren.» Sie schreiben die jeweils benötigten Präparate auf eine Liste und reichen sie den Apotheker:innen. Kurz vor der Ausgangssperre erhält auch Arie seine Medikamente.
Drei Wochen nach Kriegsbeginn, zur eigenen Sicherheit, verlässt Arie die Stadt. Eindrücklich beschreibt er die Fahrt nach Lwiw. Sobald der Zug Kyjiw verlassen habe, seien die Lichter ausgegangen. «Du fährst in voller Dunkelheit durchs Land, niemand spricht, alle sind total ruhig, auch die Kinder, viele schluchzen ganz still vor sich hin, trauern um ihr einstiges Leben. Ich habe verstanden, dass es nie wieder so sein wird wie früher, wir alle verändern uns – und nicht zum Besseren.» Von Lwiw aus fährt Arie mit seiner Familie weiter nach Köln, dann nach Berlin.
Und wie ergeht es ihm in der deutschen Hauptstadt, in seinem Leben im Provisorium? Während er erzählt, bricht Arie immer wieder ab, sein Tee ist längst kalt geworden. Bis spät in die Nacht habe er am Vorabend die Nachrichten geschaut, entschuldigt er sich. Ihn plagt das schlechte Gewissen, weil er sich dagegen entschieden hat, eine Waffe in die Hand zu nehmen, weil er glaubt, Leute im Stich gelassen zu haben, weil er Ohnmacht verspürt, den Kriegsverlauf nicht beeinflussen zu können. In Berlin macht Arie weiter Theater, eine Reihe über das Exil, bald ein Stück über geflüchtete Ukrainerinnen. «Meine Kunst handelt jetzt ausschliesslich vom Krieg, und vielleicht ist das meine Waffe, die Entschuldigung dafür, nicht Soldat geworden zu sein.»
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