Wildnis ist relativ

Seit die Stadt befreit ist von Knallpetarden, aufdringlichem Lichtschmuck und stinkenden Hüttendörfern, streune ich wieder gern in ihr umher. Als Pfotengänger in Zürich kommt man da früher oder später über den Negrellisteg, eine elegante kleine Brücke übers Gleisfeld, von der die Stadt plötzlich anders aussieht. Über eine Wendeltreppe lässt man die kahlen Schluchten der Europaallee schnell unter sich, der Blick weitet sich über dem Gleisfeld, über den Bahnhof hinweg und fällt zurück auf eine schlichte, monumentale Schönheit aus Beton: das ehemalige Zentralstellwerk der SBB mit dem grossen blauen «Zürich»-Schild. Aber eigentlich wollte ich von der seltsamen Entdeckung auf der anderen Seite erzählen: eine Wildnis, mitten in Zürich!

Mitten auf dem Paradeplatz könnte dieser seltsame Fleck vielleicht noch als Kunstinstallation durchgehen. Eine Parzelle Wildnis als Witz auf diese durchregulierte Stadt, in der mit dem Koch-Areal bald der letzte grössere Raum, in dem noch etwas Anarchie möglich ist, beseitigt wird. Aber so ist das hier nicht gemeint. Die Brache zwischen Gleisen und Zollstrasse ist quasi ein Planungsblinddarm, eine geplante Velorampe auf den Negrellisteg war zu teuer. Die frechen Initiator:innen des «Wilden Platzes», wie der Fleck jetzt heisst, bemerkten, dass die meisten Brachen in der Stadt sofort beansprucht werden – sie hingegen habe das Gegenteil gereizt. Also lassen sie die Natur in Form von ein paar Pflanzungen auf den 500 Quadratmetern (abgesehen von einer aufgeräumten Sitzecke) gewähren. Es ist ihnen durchaus ernst damit, der Verein hinter dem Projekt strengte gar ein partizipatives Verfahren im Quartier an, um den «Wilden Platz» zu konzipieren.

Doch der eigentliche Witz kommt erst. Als der Tierökologe André Rey am Platz vorbeilief, war er entsetzt: Seiner Meinung nach hatte die Begrünung der einstigen Steinhalde neben den Gleisen ein wertvolles kleines Ökosystem zerstört: Ruderalflächen sind seltene «trockenwarme Bahn-Randgebiete, auf denen bedrohte Wildbienen-, Reptilien-, Amphibien- und Heuschreckenarten leben», wie er dem «Tagi» erklärte. Der Tierökologe und der Verein einigten sich schliesslich auf einen gutzürcherischen Kompromiss und teilten die Fläche auf. Und wir lernen: Wildnis ist relativ.

Präziser beobachtet keiner: Der Wolf Lonely Lurker schleicht im «Zoo» auf woz.ch jeder Fährte nach.