SBB-Immobilienpolitik: «Baut etwas für die Bevölkerung»

Nr. 33 –

Die Immobilienpolitik der SBB ist umstritten, da sie oft und gern in die Stadtentwicklung eingreift. In Zürich bietet sich nun die Gelegenheit, dies zu korrigieren. Der Kanton stimmt über ein Polizei- und Justizzentrum im Güterbahnhof ab.


ZürcherInnen, denen nach Grossstadtambiente ist, besuchen gegen Feierabend gern die Hardbrücke: Gebäude in allen Formen, Farben und Grössen, Leuchtschriften, die für Banken, Einkaufshäuser oder Versicherungen werben, rasende Lastwagen, Züge, PendlerInnen und an die zwanzig Baukräne sorgen für ein wohltuendes Grossstadtflair. Auffallend an den Kränen: Sie stehen mit wenigen Ausnahmen alle in der Nähe von Bahngleisen. Wo die SBB Land und Liegenschaften besitzt (oder einst besass), werden Baugerüste, Bagger und Kräne aufgefahren. Büros, Schulhäuser, Banken, Hotels und Wohnungen, ganze Kleinstädte entstehen entlang der Bahntrassees. Längst nicht zur Freude aller BewohnerInnen: «Die Europaallee ist einer der grössten Sündenfälle der Stadt», sagt Walter Angst vom MieterInnenverband Zürich.

Ein dickes Geschäft

Angst spricht vom 78 000 Quadratmeter grossen Areal der SBB neben dem Zürcher Hauptbahnof: Zwischen Sihlpost und Langstrasse wird derzeit «der neue Stadtteil Zürichs» gebaut. Bis ins Jahr 2020 soll auf der sogenannten Europaallee Platz für 6000 Arbeitende, 1800 Studierende, 160 Hotelgäste und 400 Wohnungseigentümerinnen und Mieter entstehen. Der Preis der Wohnungen steht noch nicht fest. Er wird sich laut SBB «am Markt orientieren». Ein Blick auf das Immobilienportal Homegate zeigt, was das für Neubauten in dieser Gegend bedeutet: Für 3,5 Zimmer Eigentum darf man im Kreis 4 heute gerne mal zwei Millionen Franken hinblättern. Die Immobilienfirma Verit vermarktet die Wohnungen in der Europaallee, sie bestätigt die Einschätzung: «Es wird sich um ein hohes Preissegment handeln.»

Die SBB hat mit der Europaallee ein dickes Geschäft gemacht. Und die Stadt bot Hand dazu: «Indem die Stadt das Areal vom Industrie- zum Gewerbe- und Wohngebiet umzonte, hat sie der SBB einen Mehrwert verschafft, ohne dass die SBB auch nur geringste Gegenleistung erbracht hätte», kritisiert Walter Angst die Politik von Stadt und SBB.

In der Innerschweiz hat sich Ähnliches ereignet. An der Zuger Stadtgrenze verkaufte die SBB vor drei Jahren ein Grundstück an die Peikert Immobilien AG. Die Firma lässt dort 78 Eigentumswohnungen bauen. Die 3,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen – ab April 2012 bezugsbereit – kosten zwischen einer und zweieinhalb Millionen Franken. Sie sind allesamt bereits verkauft.

Auch hier wird die SBB für ihr Vorgehen kritisiert: «In Zug findet ein sozialer Verdrängungsprozess statt», lautet das Fazit von Josef Lang, Nationalrat der Grün-Alternativen Zug. Die Immobilienpolitik der SBB sei zu stark am Gewinn orientiert. Sie würde heute Grundstücke zu horrenden Preisen verkaufen, die sie damals beinahe geschenkt bekommen hätte.

«Damals» meint gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als nach fünfzig Jahren Konkurrenz und einigen Konkursen privater Bahngesellschaften per Volksabstimmung entschieden wurde, die Bahn zu verstaatlichen. Konkurrierende Kantone und Gemeinden boten den Bahnbetrieben grosse Landstücke für wenig Geld an.

Ein Jahrhundert später, 1999, machte der Bund aus der SBB eine spezialrechtliche Aktiengesellschaft und teilte sie in vier Abteilungen auf: Personenverkehr, Güterverkehr, Infrastruktur und Immobilien. Mit rund 3500 Gebäuden in ihrem Besitz und etwa 4000 Grundstücken, zählt die Division Immobilien heute zu den grössten Immobilienfirmen der Schweiz.

Der Bund besitzt sämtliche Aktien der SBB und gibt dementsprechend die Ziele vor. Und das ist die Krux: Die Division Immobilien ist gemäss Leistungsauftrag des Bundes verpflichtet, Gewinne zu erzielen, um unter anderem die marode Pensionskasse der SBB mitzufinanzieren. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete die Division Immobilien der SBB insgesamt 246,7 Millionen Franken, ein knappes Drittel davon (79,2 Millionen) floss in die betriebseigene Pensionskasse.

Josef Lang beschäftigt sich seit Jahren mit der Politik von Bund und SBB Immobilien. Ihm sind die Bestimmungen des Bundesrates ein Dorn im Auge, weil sie der Spekulation mit Boden Vorschub leisten und so erheblich in die wohnpolitische Entwicklung der betroffenen Gemeinden eingreifen.

Die Verantwortung liegt laut Lang nicht allein bei der Bahn, sondern auch bei den Behörden, die die Umzonungen vornehmen: «Bei den Geschäften, die die SBB Immobilien abwickelt, sollte sie verpflichtet werden, einen gewissen Anteil an sozialem Wohnraum zu garantieren.» Als weiteres Beispiel nennt er die Mehrwertabschöpfung: «Wenn die SBB allein dank Umzonung zu höherem Gewinn kommt, also ohne eigene Leistung, dann könnte dieser Gewinn von der Gemeinde abgeschöpft werden. Politischer Spielraum ist also durchaus vorhanden.»

Neue Chance für Zürich

In Zürich könnte dieser Spielraum bald genutzt werden. Blickt man von der Hardbrücke Richtung Stadt, sieht man fünf Gleise, die auf ein Backsteingebäude zuführen. Kein Kran flankiert hier die Schienen, sondern violett blühender Flieder. Ein Bahnhof, stillgelegt, wie es scheint. Doch im alten Güterbahnhof herrscht alles andere als Stille: Wo einst an die 4000 Tonnen Güter pro Tag in und aus den Waggons geladen wurden, arbeiten heute Altmetall- und Weinhändler, Architektinnen, Kunstsammler, Handwerkerinnen und Künstler sowie Mentorinnen und Schüler einer Autonomen Schule.

Ruhig ist es auch im politischen Sinne nicht um dieses Stück Land: Der Kanton will es der SBB für rund 110 Millionen Franken abkaufen, um auf dem 63 000 Quadratmeter grossen Areal ein Polizei- und Justizzentrum (PJZ) zu errichten. Die Bauvisiere sind bereits ausgesteckt – oder noch: Anfang September wird entschieden, ob das PJZ tatsächlich gebaut wird. Das Projekt, im November 2003 an der Urne angenommen, wurde letzten Januar vom Kantonsrat wieder gekippt (vgl. «Das PJZ und sein Gesetz»).

Auch ausserhalb des Kantonsparlaments hat sich Widerstand gegen das PJZ formiert: «Nach der Europaallee wollen wir endlich einmal, dass in der Stadt Zürich etwas gebaut wird, das der Bevölkerung zugutekommt», sagt Vesna Tomse. Sie ist im Vorstand des Vereins Güterbahnhof, der im April dieses Jahres von QuartierbewohnerInnen, VertreterInnen des Kleingewerbes und Kunstschaffenden gegründet wurde. «Anstelle eines Polizeipalastes wollen wir ein nachhaltiges Projekt, das in den Kreis 4 passt. Unser Ziel ist, den Güterbahnhof der Spekulation zu entziehen.»

So zahlreich wie seine Mitglieder sind die Ideen des Vereins: Günstiger Wohnraum, eine Kinderkrippe, ein Ortsmuseum, eine Velowerkstatt, ein Bio-Verteiler sowie Raum für Kunstschaffende könnten auf dem Bahnhof Platz finden. Das ist nicht etwa Beliebigkeit, sondern organisierte Vielfalt, wie Tomse betont: «Hinter jeder unserer Forderungen steht eine Organisation.»

Der Verein ist sowohl quartier- als auch stadtpolitisch breit abgestützt: Mitglieder des Schweizerischen Verbands für Wohnungswesen und der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich unterstützen ihn ebenso wie Mitglieder des Quartiervereins Aussersihl-Hard, des Stadtzürcher Heimatschutzes, der AL und der SP Stadt Zürich.

Für Aufsehen sorgte im Mai die Gruppe um den Wirtschaftsjournalisten Gian Trepp und den Gastronomen Koni Frei mit dem Projekt «Cargo4»: «1000 erschwingliche Wohnungen» und weiterer Raum für Gewerbe könnten ihrer Ansicht nach auf dem Güterbahnhof gebaut werden. Ein schlagkräftiges Argument in Zeiten, da es der Stadt an bezahlbarem Wohnraum mangelt.

Keine Wohnungen, niemals?

Auf dem Areal werde niemals billiger Wohn- und Gewerberaum entstehen, lassen die PJZ-BefürworterInnen verlauten. Einerseits, weil die SBB kaum an einem solchen Deal interessiert sei, und andererseits, weil der Bahnhof, würde das PJZ gekippt, wieder in das Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte der Stadt aufgenommen würde. Um ihn erneut aus dem Inventar zu entlassen, müsste ein übergeordnetes, öffentliches Interesse geltend gemacht werden – Wohnungen zählten wohl nicht dazu.

«Wenn schon für ein Polizeigebäude ‹übergeordnetes Interesse› geltend gemacht werden konnte, um wie viel höher wäre heute wohl das ‹übergeordnete Interesse› für Wohn- und Gewerbebauten?», entgegnet Richard Wolff, AL-Gemeinderat und Vorstandsmitglied des Vereins Güterbahnhof. «Bei der Bewertung, ob irgendetwas von öffentlichem Interesse ist, geht es um gesellschaftlich gesetzte Rahmenbedingungen, also um einen politischen Aushandlungsprozess. Dies gilt auch für die Frage des Denkmalschutzes», so Wolff weiter.

Zudem sei der Bahnhof, gerade weil er als schützenswert gelte, für SpekulantInnen uninteressant. «Für die SBB würde es daher schwierig, InvestorInnen im Format der Europaallee zu finden, falls das PJZ nicht zustande kommt.»

Wird das PJZ-Gesetz aufgehoben, will der Verein mit Zwischennutzungskonzepten an die SBB herantreten. An InteressentInnen für solche Nutzungen mangle es nicht. Auch was die mittel- und langfristigen Pläne für das Areal betreffe, sei der Verein gut gerüstet, sagt Wolff: «Wir haben Investoren an der Hand, die in finanzieller und organisatorischer Hinsicht fähig und bereit wären, den Güterbahnhof mit neuem Wohn-, Arbeits- und Gewerberaum noch mehr zu beleben.»

Ohne die SBB geht allerdings nichts. Und diese lässt sich im Vorfeld der Abstimmung nicht in die Karten blicken.

Doch nicht nur die SBB, auch die Stadt wäre gefordert. Dass es sich um einen langfristigen Prozess handelt, wissen alle Beteiligten. Denn, wie auch die über zwanzigjährige Geschichte der Europaallee zeigt, werden neue Stadtteile selten in kurzer Zeit aus dem Boden gestampft.