Wie wir leben werden (3): So verführerisch grün könnte es sein
Gross denken, um vorwärtszukommen: Das Projekt «Grünes Gallustal» hat einen radikalen Begrünungsplan für die Stadt St. Gallen entworfen.

Die junge Linde hat Platz bekommen. Auf vier Quadratmetern rund um ihren Stamm wuchern Kerbel und Wiesensalbei. «Noch vor kurzem galt das als unordentlich und nicht urban», sagt Regula Geisser. «Heute wird es im Sommer so warm, dass es gar nicht anders geht: Stadtbäume brauchen Platz, um zu überleben.» Der Baum steht beim Bahnhof St. Gallen. Vier Quadratmeter, das klinge nach Lappalie, sagt Geisser. «Aber wenn jeder Stadtbaum so viel Platz bekommt, ist das zehnmal die Fläche des St. Galler Stadtparks.»
Geisser ist Architektin und Koleiterin des Projekts «Grünes Gallustal», das 2022 eine umfangreiche Studie veröffentlichte. Viele Medien berichteten, die verführerischen Visualisierungen fielen auf: Bilder einer üppig grünen Stadt. Wildblumenwiesen, wo heute Rasen wächst. Die Autobahn überdacht mit einem Park. Und sehr viele Bäume.
Wertvolle Platane
St. Gallen ist stolz auf seinen «grünen Ring» aus Wäldern rund um die Stadt. Das führe zu einer Fehleinschätzung, sagt Geisser: Der Grünflächenanteil in der Stadt sei ungenügend. «Zwei Drittel der Bevölkerung wohnen im kahlen Talboden, wo es im Sommer sehr heiss wird.» Um die Erwärmung abzudämpfen, brauche es viel mehr Bäume: einen Kronendeckungsgrad von 25 Prozent. Heute liegt er erst bei 13.
Der WWF St. Gallen-Appenzell hatte die Idee für die Studie. Seit der Veröffentlichung interveniert «Grünes Gallustal» bei Stadtplanungsfragen und unterstützt Private bei der Begrünung. «Vorher erhoben die Umweltverbände einfach Einsprache gegen kritische Baumfällgesuche. ‹Grünes Gallustal› hat zum Ziel, von der Reaktion in die Aktion zu kommen.» Es scheint zu funktionieren. Das zeigt ein Spaziergang vom Bahnhof nach Osten, in den Stadtteil St. Fiden. Mit dabei ist Markus Tofalo, Teil des Projektteams und engagiert gegen den geplanten Autobahnanschluss beim Güterbahnhof. Er scheint alles über jede Strasse dieser Stadt zu wissen.
Auf dem Weg zur Altstadt queren wir die vielbefahrene Achse St.-Leonhard-Strasse und Oberer Graben. «Hier plant die Stadt das, was wir vorgeschlagen haben», freut sich Tofalo: eine mehrere Hundert Meter lange Baumallee. Eine Fahrspur soll verschwinden, ebenso die Ampeln: Man wird die Strasse überall überqueren können, nach dem «Modell Köniz» (siehe WOZ Nr. 9/24). Das wird noch dauern, der politische Prozess beginnt erst.
In der Altstadt führen Tofalo und Geisser in den Hinterhof des Hotels Dom. Mit Unterstützung des Projektteams wurde hier ein öder Parkplatz in einen Garten umgewandelt, in dem die Belegschaft Pause machen kann. Ein Feigenbäumchen wächst neben Holunder- und Johannisbeersträuchern, am Boden blühen Erdbeeren, Bärlauch und zierliche Tulpen. Weiter gehts zum Marktplatz. Seit Jahren streitet man über seine Umgestaltung. Eine Marktfahrerin setzte sich letztes Jahr vehement für eine Platane ein, die gefällt werden sollte. Nun hat die Stadt die Baustelle so gestaltet, dass der Baum hoffentlich überlebt. «Nach unseren Berechnungen ist ein solcher Baum 80 000 Franken wert», sagt Geisser. «Es ist eine Tragödie, dass man in der Schweiz jeden Platz alle fünfzig Jahre neu machen und alles abräumen will.»
Im Stadtpark, dem grössten Grünraum der Innenstadt, rennen Schüler:innen Runden, Amseln fliegen zwitschernd von Baum zu Baum. «Grünes Gallustal» will den Park radikal vergrössern – bis zum Kantonsspital, das dann mitten im Grünen stünde. Dort wurde eine Strasse verbreitert, die zur Autobahn führt. «Darum kann die Strasse hinter dem Kulturmuseum aufgehoben und Teil des Parks werden – zwei Autobahnzufahrten braucht es nicht», so Tofalo. Zusätzlich zu grossen Pärken will «Grünes Gallustal» auch überall kleine bepflanzte «Squares» schaffen. Alle sollen in wenigen Gehminuten ins Grüne können.
Neue Begehrlichkeiten
Hinter dem Park wird es unwirtlich. Die Autobahnschneise zwischen Spital und Olma-Hallen zerschneidet die Stadt. Entlang einer Betonwand führt eine Fussgänger:innenbrücke über die Autobahn, ohne jeden Schatten, im Sommer unerträglich heiss.
Der Kontrast zum Areal Bach beim Bahnhof St. Fiden ist riesig. Hier hat «Grünes Gallustal» vor fünf Jahren Espen, Erlen, Birken und andere schnell wachsende Laubbäume gepflanzt. Sie stehen schon meterhoch, ihr Laub flirrt im Licht, darunter wachsen Wildblumen. Kinder toben herum, Clubsound tönt über den Platz. Die Migros hat einen Teil des Gartens finanziert, das Hilfswerk Heks gärtnert mit Geflüchteten, Bioterra mit Kindern. Es gibt einen Barfussweg und einen wilden Sandhaufen, weiter hinten die Sommerbeiz Gustav Gleis mit grosser Discokugel, noch weiter hinten hat das punkige Kulturzentrum Rümpeltum schon länger eine Bleibe gefunden.
Das geht nicht immer reibungslos: «Figg Yuppies», hat jemand an einen Holzschopf gesprayt. Bei Konflikten gebe es runde Tische, sagt Geisser. Das Areal ist eine Zwischennutzung, doch die Architektin hofft, dass die Stadtbewohner:innen sich weigern werden, darauf zu verzichten: «Jedes Jahr weckt neue Begehrlichkeiten – gut so.»