Die Vorwürfe sind krass: Einer 24-jährigen Frau, die vergangene Woche das erste Konzert der aktuellen Tour von Rammstein in Vilnius besuchte, soll im Backstagebereich ohne ihr Wissen eine Substanz verabreicht worden sein. Kurz nachdem Sänger Till Lindemann ihr und einigen anderen Frauen Tequilashots ausgegeben habe, sei ihre Erinnerung sehr unscharf und lückenhaft geworden, erzählt die Irin namens Shelby Lynn in diversen Posts und Videos auf Social Media. An der Afterparty des Konzerts sei sie zu Lindemann in einen Nebenraum geführt worden. Als sie sich geweigert habe, mit ihm Sex zu haben, sei er ausgerastet. Mit Mühe habe sie es ins Hotel geschafft, am nächsten Morgen sei sie mit einer Prellung aufgewacht. Seither postet sie Erfahrungsberichte von Frauen, die sagen, an Rammstein-Konzerten ähnliche Dinge erlebt oder beobachtet zu haben.
Die Band veröffentlichte ein dürres Dementi auf Twitter: «Zu den im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius können wir ausschliessen, dass sich was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.» Es gilt die Unschuldsvermutung – aber genauso müssen die Aussagen von Shelby Lynn ernst genommen werden. Unter Hashtags wie #justiceforrammstein hat sich inzwischen auch eine Gegenkampagne formiert, die die Irin für verrückt und unglaubwürdig erklären will. Journalistische Recherchen sind noch keine erschienen, sind aber in Arbeit.
Unbestritten ist: Vor allem eine Frau namens Alena Makeeva, die stets mit der Band auf Tour ist, pickt Frauen aus dem Publikum, die während des Konzerts in der sogenannten Row Zero direkt vor der Bühne stehen dürfen und an Pre- und Afterpartys eingeladen werden. Dort herrscht ein Dresscode, die Band wählt die Frauen aufgrund von Fotos aus.
Als 2020 ein Gedichtband von Till Lindemann bei Kiepenheuer & Witsch erschien, entbrannte eine Debatte über das Verhältnis von Werk und Autor. Sie drehte sich vor allem um das Gedicht «Wenn du schläfst», das detailliert («Rohypnol im Wein») eine Vergewaltigungsfantasie ausbreitet. Die banalen Zeilen veranlassten viele Kommentatoren zu leidenschaftlichen Verteidigungen der Kunstfreiheit.
Ein Gedicht oder ein Songtext lässt keinen Schluss auf das Verhalten des Autors zu, aber Fantasien von Gewalt an Frauen scheinen in Rammsteins Universum eine zentrale Rolle zu spielen. 1997 sagte Gitarrist Richard Kruspe in einem Interview: «Als wir uns anfangs im Proberaum trafen, hatten wir alle Stress mit Frauen, das ging bis zu blankem Hass, der sich ja auch in den Texten widerspiegelt. Der Frust war eine gute kreative Triebfeder, ausserdem schweisste er uns als Gruppe zusammen.» Das sei die «Urkraft», aus der Rammstein entstanden sei.
2009 haben Rammstein mit «Liebe ist für alle da» einen geradezu prototypischen Incel-Song veröffentlicht, in dem es heisst: «Ich mach die Augen zu, sie wehrt sich nicht, Liebe ist für alle da, nicht für mich». Oder man kann wieder einmal das erste Album, «Herzeleid» (1995), hören, auf dem es viel um tabuisiertes Begehren, etwa um Inzest oder Nekrophilie, geht. In «Du riechst so gut» ist das lyrische Ich ein Raubtier auf der Jagd: «Hör auf zu schreien und wehre dich nicht»; in «Weisses Fleisch» ist es einsam und «zum Töten bereit», bezeichnet sich als «Gigolo» und sagt: «Ich werd immer geiler von deinem Gekreisch».
Aber Textlektüre hilft hier nicht weiter. Warten wir lieber auf die Recherchen.
Fakten, Fakten, Fakten: Der Oberleguan rückt die Dinge bald nicht mehr zurecht.