Unibesetzungen: Systemkritik im Hörsaal KOL-E-18

Nr. 21 –

In den letzten Wochen haben sich Student:innen an den Universitäten Zürich und Basel Räume genommen. Sie berufen sich auf vergangene Protestwellen, setzen aber neue Akzente.

vermummte Student:innen vor dem Uni-Gebäude Zürich mit einem Transparent auf dem «SMASH THE CIS-TEM – KOL-E-18 JETZT» steht
Niemand mag heimgehen: Und plötzlich hat die Universität Zürich einen Flinta-Raum.

Die Stimmung im Hörsaal mit dem bürokratischen Namen KOL-E-18 ist gut. Es ist Montag, der 15. Mai. Knapp dreissig Personen sitzen auf Stühlen in einem Kreis und diskutieren, wie es nach diesem Tag, an dem sie ebendiesen Raum im Zentrumsgebäude der Uni Zürich besetzt haben, weitergehen soll. Heimgehen oder doch hierbleiben?

Eine Frau mit bunt gefärbtem Haar, die neben einem Flipchart steht, schlägt vor, die kommenden 24 Stunden zu planen. «Wer würde heute Abend bis um zehn Uhr hierbleiben?» Elf Hände schiessen in die Höhe. «Und wer könnte sich vorstellen, hier zu übernachten?» Nicht nur für die Nacht, auch für den nächsten Morgen und den Nachmittag melden sich jeweils um die zehn Personen. «Geil!», sagt jemand, es folgen Gelächter und ein kurzer Applaus. Kurz nach 18 Uhr hat das Plenum beschlossen: Die Besetzung wird verlängert.

Eigentlich sollte die Aktion nur einen Tag dauern. Davon gingen zumindest die Mitglieder des feministischen Hochschulkollektivs aus, die die Besetzung des grossräumigen Hörsaals planten und ein dichtes Programm aus Vorträgen, Lesungen und Diskussionsrunden zusammenstellten. Noch hat das vor zwei Monaten gegründete Kollektiv keinen detaillierten Forderungskatalog. Was die Aktivist:innen aber nicht nur wollen, sondern sich auch gleich genommen haben, ist ein Raum für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und agender Menschen, kurz Flinta. «Wir brauchen einen sicheren Raum, in dem wir uns wohlfühlen, um gemeinsam verschiedene Perspektiven, Kritiken und Forderungen zu sammeln», sagt eine Person, die unter dem Namen Gabi Lang für das Kollektiv spricht.

In alter und jüngerer Tradition

Obwohl die Besetzung im weitläufigen Unigebäude nur mässig sichtbar ist, seien stets zwischen zwanzig und vierzig Leute gekommen, um zuzuhören oder mitzudiskutieren. Nicht nur Studierende der Uni Zürich waren darunter: Auch zwei Klimaaktivist:innen von End Fossil, die vor kurzem die Kantonsschule Enge besetzt hatten, hätten teilgenommen, erzählt Lang. «Und auch die Leute von End Fossil Basel wollten vorbeikommen und haben sich erkundigt, wie lange wir noch bleiben.»

End Fossil Basel ist eine Gruppe von Student:innen, die in der Woche zuvor während fünf Tagen den Petersplatz vor dem Hauptgebäude der Uni Basel besetzt hatten. Die informativen Veranstaltungen und sozialen Aktivitäten, etwa die täglich stattfindenden gemeinsamen Essen, stiessen sowohl unter Studierenden als auch bei Anwohner:innen auf Interesse. An den Mahlzeiten nahmen nach Angaben der Aktivist:innen jeweils 100 bis 200 Personen teil. Die Gruppe trägt ihre Hauptforderung im Namen: das Ende des fossilen Zeitalters.

Neben der Politik nimmt End Fossil Basel auch die Uni Basel in die Pflicht: «Die Uni produziert Wissen – doch sie handelt nicht danach», sagt Aktivistin Nora Savioni, die eigentlich anders heisst. Während man schon lange um Ausmass und Ursachen der Klimakrise wisse, lasse sich die Uni von Grosskonzernen wie Roche, Novartis und Schweizer Banken finanzieren, die die Klimakrise vorantrieben. Zwar liess ein Sprecher der Uni Basel verlauten, die Student:innen würden mit ihren Forderungen «offene Türen einrennen», doch die Nachhaltigkeitsversprechen der Uni reichen den Aktivist:innen von End Fossil nicht.

Die Besetzung in Basel ist Teil einer globalen Kampagne: Von Uganda über England bis Deutschland folgten Studierende dem Aufruf, sich dem «May of Occupations» anzuschliessen und ihre Schulen oder Universitäten zu besetzen. Die Klimaaktivist:innen beziehen sich dabei explizit auf die Proteste der 68er-Bewegung, die vielerorts von Student:innen ausging, bevor sie breitere Gesellschaftsschichten erreichte und tiefgreifende kulturelle und soziale Veränderungen anstiess. End Fossil Basel sieht sich zudem in einer Tradition, die weniger weit zurückreicht: in jener der letzten grösseren Besetzung ihrer Uni im Jahr 2009. «Viele konkrete Forderungen von damals, die den Hochschulbetrieb betreffen, wurden immer noch nicht umgesetzt, weshalb wir sie übernommen haben», sagt Savioni. Etwa jene, wonach das Reinigungspersonal nicht länger über eine externe Firma, sondern direkt von der Hochschule angestellt werden soll.

Bei der letzten grossen Protestwelle vor vierzehn Jahren besetzten Studierende auch in Zürich, Bern und Genf Hörsäle und Aulas. Sie wandten sich gegen das damals noch junge Bologna-System: Mit dieser Hochschulreform sollte der europäische Bildungsraum harmonisiert werden, unter anderem durch die Vereinheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen. Das führte, so die Kritik der Protestierenden, zu einer Verschulung und einer verstärkten Ökonomisierung des Bildungswesens. Die Proteste, die auch viele Institutionen etwa in Deutschland, Österreich, England und Polen erfassten, lösten öffentliche Debatten über Sinn und Zweck von Hochschulbildung aus.

«Jetzt fängt es erst richtig an!»

Nachdem es seither lange ruhig war an den Schweizer Hochschulen, träten die Student:innen in den vergangenen Jahren wieder stärker politisiert in Erscheinung, glaubt Seraina Campell vom Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS), der sich schon 2009 mit den Protestierenden solidarisierte. Einen Unterschied zu damals stellt die Kopräsidentin des Verbands aber fest: «Heute sind es weniger hochschulpolitische und viel mehr gesamtgesellschaftliche Anliegen, die die Studierenden bewegen», wie etwa die Klimakrise und den Krieg gegen die Ukraine.

Gesamtgesellschaftliche Probleme sind auch Gegenstand der aktuellen Besetzungen. «Als Flinta-Personen suchen wir eine Ausflucht aus der konstanten patriarchalen Gewalt im universitären Alltag», sagt Gabi Lang in Zürich. «Wenn wir uns die Frage stellen, woher die kommt, landen wir schnell bei der Systemkritik.» Für sie ist auch klar: «Wir glauben, dass die Uni die Rolle, die sie eigentlich hat, nicht wahrnimmt.» So kritisierten die Besetzer:innen etwa die an der Uni vermittelten Werte, die Ausrichtung der Forschung und die universitäre Einbindung ins kapitalistische System. Als konkretes Beispiel nennen sie das binäre Geschlechtermodell, das an der Hochschule noch immer als Norm reproduziert werde.

Die Universität Zürich scheint zu Zugeständnissen bereit: Nach Gesprächen wurde letzte Woche bekannt, dass der Hörsaal dem Kollektiv bis am darauf folgenden Montagabend zur Verfügung gestellt wird. In den Verhandlungen über einen fixen Raum für Flinta-Personen, die zwischen der Uni und dem Kollektiv geführt wurden, konnte man sich hingegen vorerst nicht einigen. Am Mittwoch endete die Besetzung, nachdem die Uni laut Kollektiv indirekt mit einer Räumung gedroht habe.

Gabi Lang bleibt aber optimistisch: «Jetzt fängt es erst richtig an!» Fast gleich klingt es bei Nora Savioni: «Wir hoffen, dass unsere Besetzungen erst der Anfang von etwas viel Grösserem sind.» Basel und Zürich sollen nicht die einzigen Hochschulen bleiben, die in diesem Jahr besetzt werden.