Franz Dodel: «Nicht bei Trost»: Schatten malen und ausgeklügelt singen
Täglich webt Franz Dodel an einem lebenslänglichen Langgedicht. Nun ist eine weitere Folge aus dem poetischen Labor erschienen.
Der 62-jährige Berner Franz Dodel ist unter den Lyrikern ein Unikat: Seit zehn Jahren schon schreibt er an einem einzigen Langgedicht. Tagtäglich fügt er ihm im Haiku-Versmass – erst fünf, dann sieben, dann wieder fünf Silben – einen Abschnitt hinzu. Alle 6000 Zeilen erscheint der Text als Buch, das jüngste umfasst die Zeilen 12 001 bis 18 000. Den Fortgang kann man auf der Seite franzdodel.ch mitverfolgen, wo er mittlerweile bei 21 000 Zeilen angelangt ist.
Dodel, von Haus aus Theologe und Bibliothekar, denkt den grossen Fragen des Menschseins nach, dem Lebenssinn, der Natur des Menschen, seiner Untröstlichkeit und Undefinierbarkeit: «wir leben weil wir stürzen / beeil dich und nimm / den fast trockenen Pinsel / male den Schatten / den wir auf den Schaum werfen / der Bugwelle die / unser Schiff vor sich herstösst …»
Mit beeindruckender Schärfe dechiffriert Dodel vieles von dem, was unsere Alltagswelt bestimmt, als hohl und geschwätzig: Erfolg, Profit, Rechthaberei, die Verdrängung des Todes. Das Wesentliche findet er in der Zurücknahme des Ich, im paradoxen Denken, in den Dingen und immer wieder in der Natur. Zum Beispiel bei den Vögeln: «je schwieriger für sie das / Überleben wird / desto ausgeklügelter / gilt es zu singen».
Während sich auf der linken Buchseite Anmerkungen, Zitate, auch Bilder finden, geht auf der rechten – gespeist von diesen – der eigene Text voran. Auf die Zenphilosophie greift Dodel immer wieder zurück, auf anthropologische, theologische, kunsttheoretische, aber auch auf viele literarische Werke: Lichtenberg, Dante, Leopardi, Shakespeare, Stifter, Schalamow zum Beispiel. Und, wie ein Refrain, alle 500 Zeilen Marcel Proust.
Wer Dodel liest, wird aber vor allem gespeist mit den Früchten einer überraschenden lyrischen Potenz. Bei zügigem Lesen berauscht einen der eigentümliche Rhythmus, für den sich erst nach der Lektüre einiger Seiten ein Gefühl einstellt. Die schneller voranschreitenden Siebener-Zeilen und die leicht abbremsenden fünfsilbigen erzeugen, obwohl sie ohne regelmässige Betonung (und reimfrei) gemacht sind, grosse Leichtigkeit, der man sich kaum entziehen kann.
Wer hingegen langsam liest, wird immer wieder auf Wortbeziehungen und Motivketten stossen, die jedem geläufigen Gedicht zur Zierde gereichen: «lang anhaltendem Schreiben / bin ich verpflichtet / ausgeliefert dem Hören / das wie ein Sandsturm / Kanten und Ritzen blank fegt …»
Franz Dodel liest an den Solothurner Literaturtagen: Fr, 18. Mai 2012, 18 Uhr im Dunkelzelt; mit Klaviermusik von Katharina Weber am So, 20. Mai 2012, 12 Uhr im Landhaus (Säulenhalle).
Franz Dodel: Nicht bei Trost. Carmen infinitum. Edition Korrespondenzen. Wien 2011. 607 Seiten. Fr. 40.90