Berlinale: Die Hoffnung stirbt zuletzt
Vom Widerstand gegen die Hitler-Diktatur bis zur ambulanten Palliativpflege: Auf der Berlinale haben deutsche Filme über den Tod Konjunktur.

«Es geht schnell», sagt der von Alexander Scheer gespielte Gefängnispfarrer zu Hilde Coppi (Liv Lisa Fries) auf deren Frage, wie ihre Hinrichtung ablaufen werde. Coppi war Mitglied der «Roten Kapelle», einer der wenigen Gruppen in Nazideutschland, die der Diktatur Widerstand leisteten. Ihr persönlicher politischer Einfluss war wie jener der ganzen Gruppe überschaubar, aber doch gross genug für die Verurteilung zum Tod unter dem Fallbeil. Im Gefängnis bringt sie noch einen Sohn zur Welt, der später als Historiker sein Leben mit der Aufarbeitung der deutschen Widerstandsgeschichte verbringen wird.
Man könnte meinen, es gäbe schon genug Filme wie «In Liebe, Eure Hilde»; der Regisseur Andreas Dresen und seine Drehbuchautorin Laila Stieler aber zeigen gerade anhand von präzise gezeichneten Figuren wie dem Pfarrer oder einer Gefängniswärterin – beide kollaborieren mit dem System –, weshalb jede noch so kleine Regung des Widerstands von Bedeutung ist. Und wenn man die Kritik von Jurymitglied Christian Petzold an der etwas ungelenken Ausladung von fünf AfD-Politiker:innen von der Eröffnung der 74. Berlinale zwar nachvollziehen kann – Petzold meinte nämlich, dass man ihre Anwesenheit «aushalten» müsse, weil der Kampf sonst eh schon verloren sei –, dann kann man hier eben auch sehen, wie schnell das mit dem Fallbeil doch gehen kann.
Die Zeitlichkeiten des Sterbens
In der diesjährigen Wettbewerbsauswahl sind durchaus auch Werke vertreten, die sich formal, inhaltlich wie auch politisch mit dringlicheren Themen beschäftigen als mit deutschen Befindlichkeiten. Besonders gilt das für die beiden hybriden Dokumentarfilme «Dahomey» von Mati Diop und «Architecton» von Wiktor Kossakowski. Während sich Ersterer den komplexen Fragen stellt, die bei der Rückgabe von kolonialem Raubgut entstehen, findet Letzterer berauschende Bilder und Töne für die Seelenlosigkeit von Betonbauten und die architektonische Ermordung der menschlichen Zukunft. Oder, um zusammenzudenken, was kaum zusammengehört: Während die Götterbildnisse, blind in Holzkisten mit dem Gesicht nach unten, zurück zu ihren Ursprungsorten fahren, stirbt die Menschheit in solch extremer Zeitlupe aus, dass sie es selbst nicht einmal so richtig mitbekommt.
Fassbarer, um jetzt doch wieder nach Deutschland zu schauen, ist Matthias Glasners Familiendrama «Sterben». Zwar spielt da Lars Eidinger mit, aber dann führt dieser grossartig unperfekte, genau drei Stunden lange Film mit einer solch selten gesehenen Ehrlichkeit an Orte, zu denen das Kino nicht oft vordringt, dass man ihm fast alles verzeiht.
Da ist etwa dieses Gespräch zwischen Mutter Lissy Lunies (Corinna Harfouch) und Sohn Tom (Eidinger) direkt nach der Beerdigung des Vaters. Am Küchentisch erklären sich die beiden mit erschütternder Kälte ihre gegenseitige Abneigung. Es könnte sein, dass sie ihn als Baby – er hat so viel geschrien – einmal fallen gelassen (oder vielleicht auch geworfen) und dann ewig gewartet habe, ob er deswegen vielleicht «behindert» sei, aber nein, er wurde «ganz normal», worauf er meint, dass ihre Ankündigung, dass sie Krebs habe und bald sterben werde, in ihm keinerlei Gefühle auslöse.
«Wo bleibt da die Hoffnung?», fragt im selben Film ein Orchestermitglied den Komponisten eines Stücks mit dem Titel «Sterben», worauf dieser entgegnet, dass die Hoffnung darin liege, dass man es trotzdem spiele: trotz der Länge, trotz der Schwere und der Fehler. Trotz allem. So lange man es eben kann und es erträgt, den «schmalen Grat» zwischen authentisch künstlerischem Ausdruck und Publikumsanbiederung doch nie zu erreichen, also doch bloss wieder Kitsch zu fabrizieren, sei es auf tiefem oder hohem Niveau.
Moralische Grauzonen
Am Ende entkommt man wohl beidem nicht, weder dem Kitsch noch dem Tod. Dass aber auf der diesjährigen Berlinale ausgerechnet die deutschen Filme, in denen es um die grossen Themen geht – selbstbestimmtes Leben und Sterben, den Widerstand im Kleinen wie im Grossen gegen diejenigen, die uns diese ganze Misere eingebrockt haben –, so zahlreich sind, ist schon auffällig, auch weil es sich in den anderen Festivalsektionen fortsetzt.
Im grossartigen «Ivo» aus den Independent-Produktionen gewidmeten «Encounters» geht es um eine Palliativpflegerin (Minna Wündrich), die nicht ohne Erfolg versucht, trotz der Allgegenwart des Todes den Blick auf das Leben nicht zu verlieren. Statt die Beziehung zu ihrer Tochter zu pflegen, verbringt sie Tag und Nacht in ihrem Auto, bei ihren Patient:innen oder auch mit dem Ehemann einer von ihr betreuten Kranken, mit dem sie eine Affäre hat. Definitiv weniger grössenwahnsinnig als «Sterben» und ungleich leiser gespielt, bringt der Film sanft, aber bestimmt moralische Grauzonen und menschliche Unmöglichkeiten zum Glühen. Keine schnell verpuffende Hitze, sondern eine tiefe, wenn auch nicht unbedingt beruhigende Wärme.
Auch hier gilt der Satz, mit dem schon der Pfarrer aus «In Liebe, Eure Hilde» seine faktische Kollaboration mit den Nazis rechtfertigt: Beim Sterben will niemand allein sein.