Globale Protestwelle: Revolte mit Strohhut

Nr. 48 –

Sie richten sich gegen korrupte Zustände, lokale Eliten und kommen ohne ideologischen Überbau aus. Trotzdem weisen die vielen Protestbewegungen der letzten Monate weit über Landesgrenzen hinaus.

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eine junge Person mit «One Piece»-Piratenflagge an einer Demonstration gegen Madagaskars Präsident Andry Rajoelina am 9. Oktober in der Hauptstadt Antananarivo
Mit der «One Piece»-Piratenflagge: Demonstration gegen Madagaskars Präsident Andry Rajoelina am 9. Oktober in der Hauptstadt Antananarivo. Foto: Luis Tato, Keystone

Sie kommen mit wehenden Comicpiratenflaggen daher, weitgehend führer:innenlos und parteiunabhängig, und ihre Aktionen werden medial meist etwas hilflos unter dem Label «Gen-Z-Proteste» zusammengefasst. Allein in diesem Jahr reichten sie von Indonesien über Nepal, Marokko und Madagaskar bis nach Peru und erfassten die Mongolei, Sambia und Paraguay. Häufig haben sie eine Vorgeschichte, die Jahre zurückreicht; und Kristallisationspunkte, an denen sich Wut und Zorn entladen. Bereits mehrere Regierungen kamen so zu Fall: jene in Sri Lanka 2022 und jene in Bangladesch 2024 gewissermassen als Vorläufer, in diesem Jahr jene in Nepal und Madagaskar.

Und so stellt sich seit dem Arabischen Frühling 2011 und der letzten grossen Protestwelle von 2019 einmal mehr die Frage: Was braut sich da zusammen auf der Welt?

«Es gibt durchaus Faktoren, die viele der jüngeren Proteste miteinander verbinden», sagt Jannis Grimm. Der Politologe ist Direktor der Forschungsgruppe Radical Spaces am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung an der Freien Universität Berlin. Zwar sei mit dem Label «Gen Z» vorsichtig umzugehen. Es verleitet dazu, komplexe Konstellationen auf einen vermeintlich simplen Generationenkonflikt zu reduzieren. Aber vielerorts seien es tatsächlich vor allem junge Menschen, die protestierten – was angesichts eines Medianalters, das im Globalen Süden gemäss grober Schätzung keine 25 Jahre beträgt, nichts als logisch ist. «Und, etwas platt gesagt», fügt Grimm an, «es waren noch nie die Rentner:innen, die Revolutionen anstiessen.»

Geraubte Zukunft

Was die aktuelle Protestgeneration zudem über Länder und Kontinente hinweg verbinde, sei eine gemeinsame Geschichte der verwehrten Chancen und der geraubten Zukunftsaussichten. «Deshalb sind es häufig Korruptionsthemen, die sich als Trigger für Grossproteste erweisen», so der Protestforscher. Diese machten gesellschaftliche Ungleichheit greifbar und berührten die soziale Frage, die im Kern allen Unmuts stecke. Hinzu komme die «digitale und popkulturelle Sozialisation» der Protestierenden. Keineswegs zufällig hat sich mit dem Strohhutpiraten eine relativ generationenspezifische Comicfigur als Maskottchen der Aufstände etabliert. Der Jolly Roger mit Strohhut entstammt der japanischen Manga-Franchise «One Piece», die seit den späten neunziger Jahren international vertrieben wird. Auch inhaltlich trifft das Symbol einen Nerv: Wo die bestehenden Spielregeln allein zugunsten eines herrschenden Machtkartells existieren, wird wie in der Serie klandestiner Widerstand schliesslich zur Notwendigkeit.

Zur digitalen Gewandtheit dieser Protestgeneration gehört auch, dass sie gezielt internationale Bezüge herstellt – im Wissen, dass sich so die Chancen auf Beachtung erhöhten, sagt Grimm. «Den Leuten ist bewusst: Wenn wir uns das ‹Gen Z›-Label geben, werden wir medienkonjunkturell viel eher wahrgenommen», so der Politologe. «Selbst in Ländern, deren Nachrichtenwert für gewöhnlich als gering eingestuft wird.» Als Beispiel nennt er Osttimor: Dort forderten im September Tausende Student:innen unter anderem, dass die Bestellung von 65 teuren SUVs für Angehörige des Nationalparlaments storniert wird. In internationalen Medien wurde ihre erfolgreiche Intervention denn auch als «Gen Z»-Protest aufgegriffen.

Als Gegenbeispiel liesse sich Tansania erwähnen: Vor rund einem Monat wurden dort je nach Schätzung Hunderte oder gar Tausende Menschen getötet, als sie gegen die mutmasslich manipulierte Wiederwahl der autokratischen Präsidentin Samia Suluhu Hassan protestierten. Auf den Protestbildern waren weder Piratenflaggen noch Gen-Z-Plakate zu sehen. «Während einige Protestierende die Logiken der Aufmerksamkeitsökonomie bewusst zu nutzen wissen, fallen andere durchs Raster, auch dann, wenn ihre Anliegen Parallelen aufweisen können», folgert Grimm.

Korruption als Herrschaftsmodell

Wo sich Menschen in Massen gegen korrupte Machenschaften auflehnen, hat dies meist sehr konkrete Aufhänger: ein Veruntreuungsskandal auf den Philippinen, die Zurschaustellung nepotistischen Reichtums in Nepal, ein einstürzendes Bahnhofsvordach in Serbien. Die Proteste kommen entsprechend lokalspezifisch daher und meist ohne grösseren ideologischen Überbau aus, weshalb sie sich von aussen als fast schon apolitisch missverstehen lassen. «Dabei ist der Kampf gegen Korruption schon per se eine hochpolitische Angelegenheit», sagt Anthropologin Lucy Koechlin, die bis vor kurzem an der Universität Basel zu Korruption und Governance geforscht und gelehrt hat. «Schliesslich geht es um Verteilungsfragen», sagt Koechlin, «sowie um den Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen.»

«Korruption» bedeute gemeinhin, dass eine Grenze überschritten werde, so Koechlin: zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Öffentlichkeit, zwischen den Rollen von Amtsträger:innen und Privatpersonen. Tatsächlich existiere diese Grenze aber nirgends zu hundert Prozent, «und schon gar nicht in Ländern mit unterfinanzierten Institutionen und kaum ausgeprägter Rechtsstaatlichkeit». Das heisst: Wo der Staat schwach ist, sind informelle Machtstrukturen umso dominanter. Dies wiederum macht Korruption zu einer Art Modus Operandi der Machtausübung – und damit zum eigentlichen Herrschaftssystem.

Unterschieden werde zudem zwischen «kleiner» und «grosser» Korruption: zwischen dem alltäglichen Schmieren eines Beamten, der ohne Gegenleistung keinen Finger rührt, und den Millionenbeträgen für Infrastrukturprojekte, die unter der Hand vergeben werden. Eine Unterscheidung, die aber in vielen Fällen laut Koechlin nicht allzu sinnvoll ist: «Oft macht die grosse Korruption die kleine Korruption erst nötig.» Als Beispiel nennt sie Kenia, wo Polizisten riesige Beträge zahlen müssten, um an Chefposten zu kommen. «Das müssen sie auch wieder einspielen», sagt die Anthropologin. Wenn Polizeibeamt:innen routinemässig Schmiergelder einziehen, tun sie das also auf Druck von oben. Das zwingt die Menschen im Alltag, einen gewaltigen Korruptionsfluss von unten nach ganz oben zu finanzieren.

Diese Umverteilungsmaschinerie nimmt häufig eine überaus gewalttätige Form an – etwa wenn eine lebensnotwendige Spitalbehandlung verwehrt bleibt, weil das nötige Bestechungsgeld fehlt. «Das erklärt auch, weshalb Antikorruptionsproteste eine solch gewaltige Wut zu bündeln vermögen», sagt Koechlin. Korruption diene als kleinster gemeinsamer Nenner, der Leute aus diversesten Lebensrealitäten mobilisiere.

Ein Aufstand, der ohne Anführer:innen auskommt, hat auch eine schwer kontrollierbare Seite. Das wurde letzte Woche in Mexiko deutlich, wo Tausende gegen die mörderische Gewalt der Drogenkartelle und die Unfähigkeit der Regierung, die Menschen davor zu schützen, protestierten. Auch dort wehte die Piratenflagge. Nachdem sich Demonstrant:innen damit aber mitunter positiv auf autoritäre Politiker wie US-Präsident Donald Trump und El Salvadors selbsternannten Diktator Nayib Bukele bezogen, mutmassen manche, dass rechte Agitatoren aus dem Ausland mitmobilisiert haben könnten.

Die materielle Macht

Viele Machthaber:innen haben in den letzten Jahren zudem einen enorm langen Atem bewiesen. In Kenia etwa sind die «Gen Z»-Proteste im Sommer 2024 derweil nach fast zwei Monaten wieder abgeflaut. Weit über hundert Aktivist:innen haben den Aufstand mutmasslich mit ihrem Leben bezahlt. Wie so oft blieb der Erfolg überschaubar: Teile der bekämpften Haushaltsvorlage wurden zwar zurückgezogen, aber der Machtapparat von Präsident William Ruto hielt sich im Sattel. Und selbst da, wo Regierungen gestürzt wurden, hielt teils bald schon Ernüchterung Einzug. In Madagaskar etwa, wo im Oktober nach dreiwöchigen Protesten eine Militärregierung an die Macht kam – auf demselben Weg hatte schon Präsident Andry Rajoelina, der das Land nun überstürzt verlassen musste, 2009 sein Amt erlangt: nach Protesten und einem Militärputsch.

Das zeigt: Allein mit Regierungswechseln lassen sich die materiellen Verhältnisse in einem Land nicht umstürzen. «Wo sämtliche Besitztümer ungleich verteilt bleiben», sagt Lucy Koechlin, «rutschen die Machtstrukturen oft wieder in die alte Normalität zurück.» Die zermürbende Robustheit korrupter Systeme baut auch darauf, dass sich Reichtümer weit ausserhalb des Einflussbereichs einer protestierenden Bevölkerung konzentrieren: in Handels- und Finanzzentren wie der Schweiz, die sich gern als nahezu korruptionsfrei versteht, trotz fehlender Transparenz bei verschachtelten Firmenkonstrukten und unglaublich lascher «Lobbying»-Regulierung. Und trotz zahlreicher Firmen, die in nachweislich korruptionsanfälligen Branchen geschäften. Bis 1999 war es hierzulande sogar ganz offiziell möglich, im Ausland gezahlte Bestechungsgelder von den Steuern abzuziehen.

So liesse sich die aktuelle Protestwelle auch als Aufstand gegen ein globales Machtkartell verstehen, das sich über Landesgrenzen hinweg systemwahrend gegenseitig unter die Arme greift, sobald es irgendwo unter Druck gerät. Eine romantische Vorstellung: Eine unzähmbare Strohhutpirat:innenbande macht sich von der Peripherie her auf, um die globalen Machtzentren zum Einsturz zu bringen. Lässt sich hier womöglich das Entstehen eines neuen globalen Klassenbewusstseins beobachten?

Jannis Grimm rechnet nicht damit. Es seien vor allem Student:innen und junge Arbeitende, die angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart um ihre Zukunftschancen kämpften. Aber nicht im Sinne einer alles umwälzenden Revolution – ihnen gehe es vielmehr darum, das Bestehende zum Funktionieren zu bringen: um Völker- und Menschenrechte etwa, um Wohlstandsversprechen und Klimaziele. «Die Proteste nehmen im selben Mass zu, in dem die Menschen weltweit von den Folgen eines komplett deregulierten Kapitalismus getroffen werden», sagt Grimm. Ein baldiges Ende der Protestwelle sei nicht in Sicht: Vielmehr ist laut Grimm damit zu rechnen, dass Triggerpunkte künftig vermehrt auch in Europa oder Nordamerika zutage treten.