Protestbewegungen: Die Kinder der Krise
Von Beirut und Hongkong bis Port-au-Prince, Santiago de Chile oder Bagdad: Seit Monaten gehen Millionen Menschen für mehr Achtung und Würde auf die Strasse. Erleben wir gerade eine globale Revolte? Ein Erklärungsversuch.
«Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution», soll die grosse Anarchistin Emma Goldman einmal gesagt haben. Überall auf der Welt scheinen sie gerade ihrem Credo zu folgen. In Beirut drehen die Menschen Pirouetten auf den Plätzen der Stadt und stimmen Beethovens 9. Sinfonie an. In Hongkong widmen sie ihrem Protest gleich eine eigene Hymne. Und in Santiago de Chile ertönt mit dem Freiheitslied «El pueblo unido» und den Stücken des vom Militär ermordeten Victor Jara die Musik vergangener Revolten. Die sozialen Medien tragen das Ihre bei: Sie transportieren den Aufstand in Echtzeit in die heimischen Stuben.
Seit Monaten gehen in Dutzenden Ländern und auf allen Kontinenten Millionen gegen die Herrschenden auf die Strasse. Den Anfang machten die Gelbwesten in Frankreich, die diese Woche bereits ihr einjähriges Bestehen feiern. Wie in Ecuador oder auf Haiti entzündete sich ihr Protest an der Erhöhung der Kraftstoffpreise. In Chile gaben gestiegene Preise für den öffentlichen Verkehr den Ausschlag, im Sudan ging es um Grundnahrungsmittel und im Libanon um die Einführung einer Steuer auf Kurznachrichtendienste.
Die soziale Frage ist zurück
In Simbabwe und Algerien, in Ägypten und dem Irak rebellieren die Menschen aber auch gegen Machthaber, die alle Reichtümer unter sich verteilt haben. Sie sagen Eliten den Kampf an, die den Staat als Eigentum begreifen und Korruption deshalb für selbstverständlich halten. In Moskau, Barcelona und Hongkong wiederum wenden sie sich gegen autoritäre Strukturen oder die Pervertierung der Demokratie, fordern mehr Mitbestimmung, mehr Achtung und Würde.
Überall auf der Welt brennt es also. Aber lassen sich die Revolten überhaupt vergleichen? Was haben sie gemeinsam, was unterscheidet sie? Und warum bricht sich die Wut gerade jetzt Bahn?
So vielfältig die Auslöser der Proteste auch sind, so unterschiedlich sich der jeweilige lokale Kontext ausnimmt – es eint sie mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Da ist etwa der Einfluss, den die Bewegungen aufeinander haben, die Art, wie sie sich gegenseitig befruchten, sich über die sozialen Medien vernetzen. In Barcelona lassen sich AktivistInnen bei ihrem Marsch auf den Flughafen von Hongkong inspirieren, übernehmen Handzeichen und Strategien – in Hongkong wiederum schwenken sie katalanische Fahnen als Zeichen der Solidarität. «Die Menschen beobachten genau, was in anderen Ländern passiert. Wenn sich ein konkreter Anlass bietet, probieren sie aus, was sie woanders gesehen haben», sagt Jannis Grimm, der am Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) den arabischen Raum untersucht.
Und da ist auch die brutale Repression, mit der die Herrschenden auf den Unmut der Bevölkerung reagieren. Die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein, es werden Barrikaden gebaut und in Flammen gesteckt, Strassenschlachten gehören zum Alltag. Mancherorts marschiert gar das Militär gegen friedliche DemonstrantInnen auf. Diese Woche eskalierte etwa in Hongkong die Situation, als ein Polizist auf einen jungen Mann schoss und ihn verletzte, nicht zum ersten Mal. Auch in Frankreich oder Moskau gab die krasse Polizeigewalt zu reden.
Doch die Proteste eint auch etwas anderes: Sie sind Ausdruck der Rebellion gegen eine Welt in der Krise – und gegen ein Wirtschaftssystem, das zwar ein paar wenige reich macht, umso mehr Menschen aber am Monatsende verzweifeln lässt. Anders gesagt: Die Proteste bringen die soziale Frage mit Wucht zurück aufs öffentliche Tapet.
«No Future» wörtlich genommen
«Wir erleben eine Welle sozialer Proteste globalen Ausmasses», sagt der Historiker Boris Kanzleiter, der den Auslandsbereich der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet. Das verbindende Element der Aufstände sei der ökonomische Kontext, in dem sie stattfänden: Während die Preise auf Rohstoffe immer weiter sinken würden, stiegen die Staatsschulden. So lande weniger Geld in den Kassen – und entsprechend weniger bei der Bevölkerung. Hinzu kämen die immer weiter steigende Ungleichheit und immer grössere Kürzungen im sozialen Bereich, eine schwächelnde Konjunktur und die sich anbahnende Wirtschaftskrise. «Da geht eine Generation auf die Strasse, die wütend ist, weil sie um ihre beschränkten Zukunftsperspektiven weiss», so Kanzleiter.
Ende der siebziger Jahre erteilte die Punkband Sex Pistols mit ihrem Slogan «No Future» den britischen Eliten und ihren falschen Wohlstandsversprechen eine Absage. Heute müssen den Spruch viele wörtlich nehmen. «Viele junge Menschen trauen dem politischen Entscheidungssystem nicht mehr zu, für allgegenwärtige Probleme wie den Klimawandel und die Ungleichheit Lösungen zu finden», glaubt Politologe Grimm. Dieses Grundgefühl verbinde die Proteste im Irak oder im Libanon auch mit Bewegungen wie der Klimajugend oder Extinction Rebellion.
Laut ExpertInnen hat es seit den sechziger Jahren nicht mehr so viele Aufstände gegeben wie in den letzten zehn Jahren. Wer die Aufstände der letzten Monate betrachtet, fühlt sich aber vor allem an eine Protestwelle erinnert: den sogenannten Arabischen Frühling und die Platzbesetzungen der Jahre 2011 bis 2013 – auf dem Syntagma in Athen, dem Tahrir in Kairo und der Plaza del Sol in Madrid, bei Occupy Wall Street in New York oder im Istanbuler Gezipark.
Heute werden die Taktiken von damals reproduziert, Slogans wie das berühmte «Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit» zu neuem Leben erweckt. Heute wie damals sind die Bewegungen heterogen aufgestellt: Studentinnen und Arbeiter, SchülerInnen und die Mittelschicht. In manchen Ländern mischen Gewerkschaften mit, in anderen werden konfessionelle Grenzen gesprengt. «Wie 2011 sind die Proteste sehr spontan und politisch nicht klar ausgerichtet», sagt Kanzleiter. Und Jannis Grimm vom IPB macht eine weitere Gemeinsamkeit aus: die Abwesenheit von Führungsfiguren. Dies erschwere es den Machthabern, die Bewegung zu schwächen, indem sie einzelne Personen verhaften liessen.
Zwanzig Jahre ist es her, dass der «Battle of Seattle» gegen die WTO einen Zyklus linker Antiglobalisierungsproteste einläutete, die von sozialen Bewegungen getragen wurden. Der Arabische Frühling und die Platzbesetzungen wiederum waren Massenphänomene – und eine Reaktion auf die Austeritätspolitik nach der Finanzkrise von 2008. Heute gehen jene auf die Strasse, die die Konsequenzen der kollabierten Wirtschaftsordnung geerbt haben und mit dem Mantra der Alternativlosigkeit erwachsen wurden.
Nur wenig zu verlieren
Rund vierzig Prozent der Weltbevölkerung sind unter 24 Jahre alt. Für viele dieser jungen Leute sind prekäre Arbeitsbedingungen die Regel – und neoliberale «Reformen», die nichts anderes als soziale Kürzungen zur Folge haben. Umso passender ist der Slogan, den die DemonstrantInnen in Chile rufen, dem OECD-Land mit der grössten Ungleichheit: «Es geht nicht um dreissig Pesos, sondern um dreissig Jahre.» Sie glauben, dass nicht sie den Machthabern etwas schuldig sind, sondern umgekehrt. Für diese wird es so immer schwieriger, ihre Herrschaft zu rechtfertigen.
Die Jahre der Krise haben derweil auch ein anderes Phänomen hervorgebracht: In den USA wurde Donald Trump zum Präsidenten gewählt, in Brasilien der Rechtsextremist Jair Bolsonaro. Und in vielen europäischen Ländern trat der Rechtspopulismus seinen Siegeszug an. Ebenso wie in der Klima- und der Frauenbewegung sieht Boris Kanzleiter in den jetzigen Protesten deshalb auch einen Gegenakzent zu dieser autoritären Welle.
Die Millionen auf den Strassen haben viel erreicht. Im Libanon kündigte Premierminister Saad al-Hariri Ende Oktober seinen Rücktritt an, in Chile hat die Regierung gerade eine neue Verfassung in Aussicht gestellt. Die Demonstrierenden lassen sich von diesen Zugeständnissen jedoch nicht besänftigen, ihre Radikalität speist sich auch daraus, dass sie nur wenig zu verlieren haben. «Die Frage ist, ob sich die Proteste verstetigen können», so Boris Kanzleiter, «sodass neue soziale Bewegungen entstehen, die längerfristig angelegt sind.» Und Jannis Grimm sagt: «Es ist etwas in Bewegung geraten, das sich nicht mehr einfangen lässt.» Das würden auch jene Machthaber erkennen, die zurzeit noch fest im Sattel sitzen.