Arbeiter:innenbewegung: «Berg frei!»
Die Naturfreunde Schweiz werden hundert Jahre alt. Einst wurden sie gegründet, um Arbeiter:innen an der frischen Luft zu freieren Menschen zu machen. Wo stehen sie heute? Und wie politisch sind sie noch?

Kurz vor dem Mittag füllen sich die Bänke vor dem Naturfreundehaus Rumpelweid. Es gibt Pastetli, Rösti mit oder ohne Spiegelei, Wurst-Käse-Salat, Kaffee und Kuchen. Ein halbes Dutzend Leute stehen in der Küche, auch zwei Jugendliche. Die Rumpelweid liegt auf einem Juragrat hoch über Olten: Aussicht auf das AKW Gösgen, die Aare, die Alpen. Gegen Süden eine Magerwiese mit blühenden Büschen und zirpenden Grillen, gegen Norden fällt ein felsiger Hang steil nach Trimbach ab. Die Naturfreunde haben den schönsten Fleck gewählt, den man weitherum finden konnte.
«Dieses Haus macht unsere Sektion aus», sagt Martin Schällebaum, zusammen mit Hannah Küffer Kopräsident der Naturfreunde Olten. Jeden Sonntag und jeden Mittwochnachmittag bewirtet die Rumpelweid Gäste zu einmalig günstigen Preisen. Rund fünfzig Freiwillige teilen sich übers Jahr den Küchendienst. «Etwas ‹beizern› ohne wirtschaftlichen Druck reizt viele», sagt Schällebaum. Wer in der Küche steht, muss nicht unbedingt Mitglied des Vereins werden. Dieses unkomplizierte Vorgehen hat die Rumpelweid gerettet.
Schällebaum stammt aus Luzern. Als er vor fast zwanzig Jahren nach Starrkirch bei Olten zog, steckte die Naturfreunde-Sektion in der Krise. Nur noch etwa sieben Leute engagierten sich für das Haus. «Wir beschlossen, Täfelchen am Wanderweg aufzustellen, dass wir Leute suchen, um das Haus offen halten zu können. Das sprach sich herum.» Die Rumpelweid ist für viele Oltner:innen eine Institution: Ehrgeizige wandern weiter zum Belchen, Minimalist:innen parkieren das Auto im Wald und keuchen eine Viertelstunde den Steilhang hoch. Das 1942 erbaute Haus hat bis heute keine Zufahrt und keinen Wasseranschluss.
Es geht fröhlich zu an den Tischen. «Wenn do e Drohne zfliege chunnt, schiess i si ab», scherzt einer. Doch wie viel hat das alles noch mit der Ursprungsidee der Naturfreunde zu tun? Ist diese Institution, die Arbeiter:innen den Zugang zur Natur ermöglichen wollte, damit sie dort freiere Menschen werden konnten, heute ein ganz normaler Verein?
Der denkende Rebell
Die Idee für die Naturfreunde hatten 1895 vier Wiener: ein Schriftsetzer, ein Metallarbeiter, ein Lehrer und ein Student. Letzterer, Karl Renner, sollte nach dem Ersten Weltkrieg Kanzler werden. Schon am ersten Ausflug der «touristischen Gruppe» nahmen 85 Leute teil. Ihr Gruss «Berg frei!» kam nicht von ungefähr: In der Donaumonarchie waren viele Wälder und ganze Bergtäler nicht zugänglich, weil sie Adligen gehörten.
Für die Gründergeneration waren die Ausflüge weit mehr als ein Freizeitvergnügen: «Der Anschauungsunterricht in der Natur ist revolutionär, er macht zum denkenden Rebellen, er führt mit zwingender Notwendigkeit zum Sozialismus», schrieb Leopold Happisch, der Schriftsetzer unter den Gründern. Facharbeiter aus dem grafischen Gewerbe – Schriftsetzer, Drucker und Buchbinder – waren die treibende Kraft bei der Verbreitung des Naturfreunde-Gedankens. Sie verdienten besser als ungelernte Arbeiter:innen, viele lasen intensiv, engagierten sich für sozialistische Ideen – und sie waren mobil.
Ferdinand Bednarz, ein aus Ungarn stammender Schriftsetzer, der in Wien mit Happisch zusammengearbeitet hatte, brachte die Naturfreunde-Idee 1905 in die Schweiz und gründete eine Ortsgruppe nach der anderen. Die Naturfreunde, anfangs vor allem junge Männer, wurden zu einer Heimat der Arbeitsmigranten, zu einem Teil der vielfältigen, internationalen Kultur der Arbeiter:innenbewegung: «Basel wurde am 2. Juli 1906 gegründet von 1 Ungar, 1 Oesterreicher, 9 Deutschen und 3 Schweizern», war später in einem Rückblick zu lesen. Bereits 1906 gab es Sitzungen für die Gründung eines Schweizer Landesverbands, doch der Wiener Hauptsitz erhob Einspruch. 1925 klappte es im zweiten Anlauf.
«Den Naturfreunden der Gründerzeit waren Schönheit und Gemeinschaft ganz wichtig», sagt Christine Schnapp, Kogeschäftsleiterin der Naturfreunde Schweiz. «Beim Skifahren zeichnete man zum Beispiel die schönste, nicht die schnellste Fahrt aus. Das Individuelle, Leistungsgetriebene wurde eher negativ bewertet; das gemeinsame Bergerlebnis stand im Vordergrund.»
In den dreissiger Jahren verfolgten Nazis und Faschisten in Deutschland und Österreich die Naturfreunde und beschlagnahmten ihre Häuser. Unter ungeklärten Umständen gelang es 1934, Vermögen und Akten vom Wiener Hauptsitz in die Schweiz zu schmuggeln. Bis 1988 blieb das Büro der Naturfreunde Internationale in Zürich.
Nach dem Krieg wartete die nächste Zerreissprobe. Die Richtungskämpfe waren schon in den dreissiger Jahren heftig gewesen. In den fünfziger Jahren warfen die SP-nahen Naturfreunde die Kommunist:innen aus dem Verband. 1953 schrieben sie in den Statuten fest, sie seien «Gegner jeder Diktatur».
Am Höck in Chur
«Die Bündner haben sich nicht an die Weisung gehalten», sagt Martin Jäger. «Die Kommunisten sind geblieben.» Jäger war für die SP in der Churer Stadtregierung, danach Bündner Regierungsrat, und er ist seit fünfzig Jahren Naturfreund. «Damals ging es strenger zu und her», erinnert er sich. «Jeden Monat eine Versammlung mit Protokoll!» – «Ja, sogar wenn man einen Super-8-Film anschaute, den ein Mitglied in den Ferien gedreht hatte, wurde das protokolliert», ergänzt Thomas Hensel, Präsident der Naturfreunde Chur.
Die beiden sitzen im «Frohsinn» gleich hinter dem Bahnhof. Hier trifft sich die Churer Sektion zum Höck. In Graubünden ist der Verein bis heute eng mit SP und Gewerkschaften verbunden. Hensel stammt aus einer SP-Familie, war VPOD-Sekretär und begeistert sich für die Kultur der Arbeiter:innenbewegung: «Arbeiterchöre, Arbeiterturnvereine, Filmverleih, die Büchergilde Gutenberg – sogar Arbeiternudisten gab es!» – «Und ich habe das ‹Obligatorische› noch beim Arbeiterschützenverein geschossen», wirft Jäger ein. Am Tisch sitzt auch Remo Wieland, der schon zum dritten Mal bei den Naturfreunden Zivildienst leistet. Er hilft bei Bauarbeiten im Haus der Sektion, das hoch über Chur in Brambrüesch liegt. «Ich kann hier als Schreiner mein Wissen weitergeben und dazulernen. Das finde ich extrem schön.»
Wie politisch ist die Sektion heute? «Dass wir die Idee der Kulturlegi mittragen und Zivis mit einbeziehen – das gehört für mich zum Politischen», sagt Hensel. Auch dass Familien in Brambrüesch für wenig Geld Ferien machen könnten. Aber am 1. Mai ging die Sektion dann doch wandern, nicht demonstrieren.
Luzia Denfeld kommt dazu, die Tourenobfrau der Sektion. Zu den Naturfreunden fand sie nicht durch Familientradition, sondern als Alleinerziehende. «Ich habe im Kletterlager gekocht, das meine Jungs besuchten. Ferien waren eine Kostenfrage.» Heute ist sie begeisterte Wanderleiterin für die Sektion: «Es motiviert mich, wenn die Leute Freude an unseren Wanderungen haben. Wenn ich ihnen Wege zeigen kann, die sie noch nicht kennen.»
Die Naturfreunde
Heute haben die Naturfreunde Schweiz 12 500 Mitglieder, 100 Sektionen und 61 Häuser. Der Verein bietet Wanderungen, Naturkurse und Ausbildungen für ehrenamtliche Tourenleiter:innen an und gibt die Zeitschrift «Naturfreund» heraus.
Die Naturfreunde gibt es in über vierzig Ländern. Laut dem Dachverband Naturfreunde Internationale beträgt die Mitgliederzahl weltweit 350 000. Auch im internationalen Verband steht der demokratische Sozialismus nicht mehr im Leitbild, aber: «Wir stehen für Internationalität und Solidarität.»
Überaltert?
Anfang der Achtziger hatten die Schweizer Naturfreunde 32 000 Mitglieder, so viele wie noch nie – und versuchten eine Neuorientierung. Der demokratische Sozialismus wurde aus den Statuten gestrichen. Dafür sollte sich der Verein stärker umweltpolitisch ausrichten, sich quasi dem eigenen Namen annähern. 1985 wurde der spätere SP-Nationalrat Rudolf Strahm Zentralsekretär. «Ein schwieriger Einstieg», erinnert er sich. «Ich bekam keine Einführung, nichts.» Manche Funktionär:innen hätten ihm zu verstehen gegeben, das «grüne Zeugs» wollten sie nicht mitmachen.
Die Sektionen empfand Strahm als verhockt: «Sie hingen an ihren Häusern, wollten sich nicht dreinreden lassen. Schon die Anregung, warme Duschen einzubauen, wurde zum Politikum.» Strahm versuchte es mit neuen Angeboten, Waldwochen für Kinder, umweltpolitischen Artikeln in der Zeitschrift. «Die Rothenthurm-Initiative für den Moorschutz, die Rettung der Greina – damit konnte man viele abholen. Das waren Arbeiter, die die Natur gern hatten. Aber das Auto musste man ihnen lassen.»
Man habe vierzig Jahre um die Positionen gerungen, sagt Christine Schnapp. Heute sei der Schwerpunkt Umweltpolitik gut verankert. «Der Vorstand entscheidet, wann der Landesverband sich politisch äussert. Wir nehmen bewusst nur zu umweltpolitischen Abstimmungen Stellung.» Die Naturfreunde Schweiz sind auch Mitglied der Klima-Allianz.
Manches, was Schnapp erzählt, klingt wie ein Echo auf Strahms Erinnerungen. «Die Autonomie der Sektionen ist heilig.» Bis heute gibt es keine einheitliche Buchungsplattform für die Naturfreunde-Häuser. Viele lassen sich nur von Gruppen mieten. Andere bewirten am Wochenende Gäste. Einige wenige, wie Gorneren im Berner Kiental, gleichen SAC-Hütten oder Hostels. Wie die Rumpelweid verdanken viele ihren Betrieb der Freiwilligenarbeit – das verträgt sich schlecht mit dem Anspruch, auf einen Klick buchen zu können.
Die Mitgliederzahl hat sich seit der Jahrtausendwende auf 12 500 halbiert. Manchmal fänden Familien zu den Naturfreunden, weil sie günstige Häuser für Ferien suchten, sagt Schnapp. Vor allem aber seien es Menschen kurz vor der Pensionierung, «oft Frauen, die wandern gehen wollen, aber nicht allein». Ist die Überalterung ein Problem? «Ich finde das Wort ein Problem», sagt Schnapp. «Es geht Richtung Altersdiskriminierung.» Es sei wertvoll, für diese Altersgruppe Angebote bereitzustellen. «Sie helfen gegen die Risiken, im Alter zu vereinsamen oder sich zu wenig zu bewegen. Heute ist man nicht alt mit 65. Man hat Zeit und ein grosses Wissen, kann sich engagieren. Und Vereine stärken die Demokratie und das Gemeinwohl – in Gemeinden mit starken Vereinen ist das Sicherheitsempfinden höher.»
Labor für die Zukunft
Martin Schällebaum zeigt den engen, dunklen ersten Stock der Rumpelweid, das alte Massenlager. Hier sollen neue Übernachtungsräume entstehen, auch Zivi Remo Wieland wird zum Einsatz kommen. Doch der Brandschutz macht die Sache kompliziert.
Obwohl Schällebaum, der in jungen Jahren widerwillig Aktuar der Sektion Luzern wurde, das Vereinsleben als bieder und eng empfand, wuchsen ihm die Naturfreunde ans Herz. Sechs Jahre lang war er ehrenamtlich Häuserverantwortlicher im Landesverband, wurde Mitglied in zehn Sektionen und für viele so etwas wie ein Coach. Er zeigt die Trockenmauer, die Freiwillige gebaut haben, den Biodiversitätsgarten, den ein naturbegeistertes Mitglied geplant hat. Es gebe so viele Möglichkeiten, sich einzubringen, sagt er. «Wir sollten einfach endlich aufhören, uns mit dem SAC zu vergleichen.»
Was unten im Tal manchmal gar behäbig klang, zu sehr nach den Klischees vom Vereinsleben – oben auf der Rumpelweid, an der frischen Luft, wird es plötzlich klar: was für ein Potenzial dieser Verein hat. Mit seiner Geschichte, aber vor allem mit realen Orten, Häusern, Platz. «Man muss die Freiheit haben, nicht stur ein Programm durchzuziehen», sagt Schällebaum. «Die meisten Häuser haben keine Schulden, es gibt keine wirtschaftlichen Zwänge. Wir sind ein Labor, wir können einfach ausprobieren. Das ist so wertvoll.»