Atommüll: Sicher ist nur das Risiko

Nr. 35 –

In diesen Tagen gibt die Nagra bekannt, wo sie den radioaktiven Müll begraben möchte. In den drei möglichen Regionen im Aargau und im Kanton Zürich gibt es seit langem einen organisierten Widerstand. Begegnungen mit Aktivist:innen in den drei Landschaften.

Astrid Andermatt, Werner Ebnöther und Rosi Drayer vom Verein «Nördlich Lägern ohne Tiefenlager» (LoTi) auf einem Feld
«Die Nagra hat es sehr geschickt gemacht, uns immer eingebunden und Informationen bereitgestellt»: Astrid Andermatt (links), Werner Ebnöther und Rosi Drayer vom Verein «Nördlich Lägern ohne Tiefenlager» (LoTi).

Unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima strebte der Bundesrat 2011 den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie an. Parlament und Stimmbevölkerung folgten ihm. Seit 2018 werden keine neuen Atomkraftwerke bewilligt.

Just diese Woche startete nun aber ein bürgerliches Kommitee die Unterschriftensammlung für die Initiative «Jederzeit Strom für alle, Blackout stoppen!». Diese verlangt die Aufhebung eben dieses Verbots. Auch als angeblich probates Mittel gegen die Klimaerhitzung erlebt die hochgefährliche Technologie eine Renaissance. In den USA lassen die Milliardäre Bill Gate­s und Warren Buffett den Prototyp eines neuartigen Reaktors bauen; kleinere Kraftwerke sollen sicherer sein und weniger radioaktiven Abfall hinterlassen. Auch China investiert in die Weiterentwicklung dieser Technologie. Befür­worter:in­nen der Atomkraft glauben, in zehn bis zwanzig Jahren sei diese neue Reaktorgeneration «marktreif».

Die Frage jedoch, wo und vor allem wie sicher tödlicher Müll über Jahrhunderte, Jahrtausende, ja Jahrmillionen hinweg gelagert werden soll, bleibt ein ungelöstes Problem – auch in der Schweiz. Und doch war diese Frage bislang ein nicht wirklich heiss debattiertes Thema, das Bewusstsein für die Gefahr vor der Haustür scheint getrübt. Radioaktivität sieht man nicht, man riecht sie nicht. Solange sie ihre Wirkung nicht entfaltet und tötet, nehmen sie viele Menschen als etwas Abstraktes wahr, das sie nicht unmittelbar betrifft. Wie aber ist das für Menschen, die in unmittelbarer Nähe zu möglichen Tiefen­lagern lebe­n?

Max Chopard, am Bözberg

Die Fahrt mit Max Chopard in seinem solargeladenen Elektro­auto von Brugg auf den Bözberg ist kurz – kaum aus dem Agglomerationsbrei heraus, landet man in einer idyllischen Kulturlandschaft. Der Bözberg ist auch ein fantastisches Naherholungsgebiet. An den Abhängen und an Hausfassaden jedoch tauchen gelbe Plakate auf: «Kein Atommüll im Bözberg!» Darunter der Schriftzug «KAIB».

«Kein Atommüll im Bözberg» heisst auch der Verein, den der 56-Jährige präsidiert. Mit etwa 750 Mit­strei­ter:in­nen organisiert er den Widerstand im Aargau und hält ihn seit zwölf Jahren am Leben. Das hat gewirkt. Im Atomkanton hat die Stimmung gedreht, mittlerweile ist selbst die Regierung gegen ein Tiefenlager. Auch die Regionalkonferenz, in der sich Bür­ger:in­nen äussern und während des Evaluationsprozesses in Arbeitsgruppen mitwirken konnten, hat sich dagegen ausgesprochen. KAIB habe in der Vollversammlung der Regionalkonferenz zwar immer wieder kritische Fragen und Anträge gestellt, sagt Chopard. «Wir haben aber nicht in Arbeitsgruppen mitgewirkt. Denn mitbestimmen konnte man da nicht. Wir wollten uns von der Nagra nicht ins­trumentalisieren lassen.»

Max Chopard am Bözberg
«Wenn hier etwas passiert, wäre die Trinkwasserversorgung von Millionen Menschen betroffen»: Max Chopard vom Verein «Kein Atommüll im Bözberg».

Die Strasse führt durch eine walddurchsetzte Landschaft. Erster Halt: Oben auf dem Bözberg haben die Bohrungen der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) eine Wunde in der Landschaft hinterlassen. Die Bohranlagen und die provisorischen Gebäude sind abgebaut. Zu sehen ist bloss noch der verschlossene Bohrkeller. An dieser Stelle hat die Nagra im Jahr 2020 über tausend Meter tief in die Erde gebohrt, Bohrkerne an die Oberfläche geholt und die ans Tageslicht geförderten Gesteinsproben untersucht. Auch wurde ein Langzeitbeobachtungssystem im Erdreich installiert, das in unterschiedlichen Tiefen die Temperatur und den Druck im Gestein misst.

Von hier oben schweift der Blick über eines der grossen «Wasserschlösser» der Schweiz, am diesigen Horizont fliessen Aare, Reuss und Limmat zusammen, ehe sich ihre Wasser in den Rhein ergiessen. Der Wasserreichtum hat den Kanton wohl­habend gemacht. 25 grosse Wasserkraftwerke produzieren an Aare, Rhein, Reuss und Limmat so viel Strom, dass damit der gesamte Kanton ohne Atomkraft versorgt werden könnte. Wasserzinsen und Konzessionen spülen Millionen von Franken in die Staats- und die Gemeindekassen.

Wasserreich ist auch der Bözberg selbst; ihn durchziehen zahlreiche Adern des blauen Goldes, das selbst oben am Berg Quellen sprudeln lässt. Der Berg ist ausserdem Teil des Juraparks. Der regionale Park von nationaler Bedeutung erstreckt sich in der aargauischen Juralandschaft über 300 Quadratkilometer. Hier versucht der Verein Jurapark, die Interessen von Natur, Kulturerbe, Landwirtschaft und Wirtschaft zu versöhnen.

Die potenziellen Endlager

Karte der möglichen Endlager-Standort-Regionen in der Schweiz
Karte: WOZ

«Es ist doch Wahnsinn: Ausgerechnet hier will die Atomwirtschaft ihren Müll verbuddeln!», entfährt es Chopard. Er liebt diese Landschaft, das spürt man mit jedem Schritt, den man mit ihm geht. Aber der KAIB-Präsident hat auch rationale Argumente parat: «Der Untergrund eignet sich hier nicht für ein Endlager. Was, wenn hier etwas passiert? Dann wäre davon die Trinkwasserversorgung von Millionen Menschen betroffen.» Ausserdem trage der Aargau ohnehin schon fast die ganze Last der Atom­industrie: Drei der fünf Schweizer AKWs und das Zwischenlager für radioaktive Abfälle (Zwilag) in Würenlingen befinden sich in diesem Kanton. Allein der Standort des künftigen Endlagers wäre über Jahre eine riesige Baustelle – und die Verkehrsbelastung enorm.

Auf der Fahrt Richtung Linn macht Chopard einen Zwischenstopp vor einem Bauernhof. Der Bauer kommt aus dem Stall. Sie kennen sich, auch wenn sie das politische Heu wahrscheinlic­h nicht immer auf der gleichen Bühne haben. Anders als Chopard ist der Landwirt wohl kein Linker. Er sagt: «Wir wollen den Müll hier nicht. Wer weiss denn, wie sich der Lagerbau auf die Wasserströme im Berg auswirkt? Hier oben ist schon mal eine Quelle versiegt, das geht doch nicht!» Er ist unter den Bauern mit dieser Haltung nicht allein.

Frühestens ab 2050

Am Eingang von Linn, einem schön gelegenen Bauern- und Wohndorf, beeindruckt eine Linde. Sie hat Jahrhunderte überdauert, Stürmen und selbst einem Feuer getrotzt. Der mächtige Baum wurzelt hier seit schätzungsweise 800 Jahren. Seine beeindruckenden Masse: 25 Meter Höhe, 11 Meter Umfang. Ein Symbol für Widerstand und Zähigkeit. Dann schlägt Chopard eine kleine Wanderung hinunter ins Sagimülitäli vor. Zunächst durch das in einer Senke gelegene Dorf, vorbei an modernen Ein­familienhäusern, einer Mehrzweckhalle und sorgfältig restaurierten Riegelbauten. Über den Hundsruggen führt ein Weg in einen schattigen Buchenwald, schliesslich mündet er in einen lichten Föhrenwald, auf dem sandigen Untergrund behagt es den Föhren.

Unten im Talboden fliessen an einem schattigen Waldstück drei Bäche zusammen. Zwei führen wegen der anhaltenden Trockenheit nur wenig Wasser, der dritte, der gewöhnlich von einem steilen Abhang herabstürzt, ist fast ausgetrocknet. Am gegenüberliegenden Hang versteckt sich hinter Gebüsch ein stillgelegter Steinbruch, den die Natur zurückerobert. Ein Paradies für Kleingetier. In der Felswand hat Chopard einmal einen jagenden Fuchs beobachtet. Weiter oben rattert ein Traktor.

Eine idyllische Landschaft – alles schön und gut. Aber die Schweiz muss ihren Atommüll irgendwo lagern. Wenn ihn niemand in seiner Region haben möchte, was dann? «Wir müssen dieses Problem lösen«, sagt Max Chopard. «Doch wer kann heute wirklich garantieren, dass sich der Müll auf Jahrhunderte hinaus sicher lagern lässt?« Es gebe noch zu viele offene Fragen (vgl. «Argumente gegen die ­Nagra-Vorschläge» im Anschluss an diesen Text). «Versenken wir den Müll jetzt in Hunderten Metern Tiefe, können wir ihn nur äus­serst schwer zurückholen. Daher müssen wir vorrangig alle möglichen Risiken abklären.» Auf der unvorstellbar langen Zeitachse des Atommüllproblems komme es nicht darauf an, wenn der Prozess bis dahin etwas länger dauere. Doch würde etwas passieren, wären Mensch und Natur dem ausgeliefer­­t.

KAIB ist daher gegen eine verfrühte endgültige Lösung. Der Verein will zuerst Antworten zur Rückholbarkeit des Atommülls und zur Wasserproblematik. Bis es so weit ist, soll der Müll in Oberflächenanlagen zwischengelagert werden. Dazu muss man wissen: Selbst wenn bald schon ein Tiefen­lager gebaut würde, liesse sich der strahlende Abfall frühestens ab 2050 einlagern. «Aus den Augen, aus dem Sinn ist keine gute Strategie. Die Kosten dürfen keine entscheidende Rolle spielen, dafür ist das Problem viel zu ernst», sagt Chopard.

Käthi Furrer, im Zürcher Weinland

Käthi Furrer parkiert ihr Elektroauto an einer Landwirtschaftsstrasse neben einer viel befahrenen Kreuzung. Benken und Marthalen, wo die jüngsten Bohrungen erfolgten, sind nicht weit weg. Die Autobahn Winterthur–Schaffhausen zerschneidet die Landschaft. Am Horizont erstreckt sich ein Hügelzug, darunter schlängelt sich der Rhein die deutsche Grenze entlang.

Der Landwirt des nahen Hofs ist ein entschiedener Gegner eines möglichen Tiefenlagers. Er hat an der Kreuzung auf seinem Land einen Hinkelstein als Zeichen des Widerstands gesetzt. Quer davor liegt ein gelbes Atommüllfass und macht auf die Gefährlichkeit des strahlenden Mülls aufmerksam.Die Gemeinde wollte keine Bewilligung für den Stein erteilen, schliesslich aber haben es die kantonalen Behörden doch noch möglich gemacht.

Käthi Furrer im Zürcher Weinland
«Wir machen zwar keinen fundamentalen Widerstand. Aber wir stehen bereit, wenn es sein muss»: Käthi Furrer engagiert sich im Verein «Klar! Schweiz» gegen ein Atommüllendlager im Zürcher Weinland.

Die Nagra hatte sich schon früh auf einen Standort im Weinland festlegen wollen, sie bohrte hier bereits in den Neunzigern. Zwar pfiff sie der Bund zurück und verlangte die Evaluierung weiterer Standorte – doch das Weinland ist nach wie vor im Rennen. «Ich vermute, es ist weiterhin der bevorzugte Ort der Nagra», sagt Furrer. Die vor kurzem pensionierte Schulleiterin ist Kopräsidentin des Vereins «Klar! Schweiz», der sich seit 1994, als die Nagra die ersten Sondierbohrungen in Benken machte, gegen ein Endlager im Weinland wehrt. Als Zürcher Vertreterin des Vereins engagierte sie sich zunächst im Kanton Schaffhausen bei der Regionalkonferenz Südranden. In diesem Kanton gibt es seit 1983 ein Gesetz gegen «Atommüll-Lagerstätten» – die Behörden sind also zum Widerstand verpflichtet.

Furrer jedoch wohnt im zürcherischen Dachsen, einem Bauern- und Wohndorf direkt am Rhein. Es ist ein schmuckes Dorf mit S-Bahn-Anschluss. Auch hier wehrt man sich gegen den Standort Weinland, der sich in unmittelbarer Nähe zum Kanton Schaffhausen befindet. Doch das Weinland ist nicht Schaffhausen – und die Stimmungslage in der Müllfrage ist eher diffus. Widerstand im Weinland, im Aargauer Jura und im Zürcher Unterland äussert sich weniger in militanten Aktionen. Hier kettet sich niemand an Maschinen oder blockiert Zufahrtswege. Hier ist kein Gorleben. Widerstand bedeutet in diesem Fall auch Mitwirkung in den Regionalkonferenzen. Käthi Furrer und ihre Mit­strei­ter:innen haben während mehr als zehn Jahren am Evaluationsprozess mitgewirkt, in Leitungsgremien und Fachgruppen – und sich so ein enormes Wissen angeeignet.

«Konstruktiver Widerstand»

Aber es ist eine David-gegen-Goliath-Geschichte. Die Nagra und der Bund verfügen über enorme Ressourcen, sie haben Fachleute, Atom­physi­ker:in­nen, Hydrologinnen, Chemiker. Daher hat «Klar! Schweiz» im Frühling die Frage diskutiert, ob sie sich aus den Gremien der Regionalkonferenz zurückziehen sollten. Eine Mehrheit ist für den Verbleib. Auch Käthi Furrer: «Steigen wir aus, fehlen uns die Informationen. Auch schwächen wir so unseren grössten Hebel, den politischen Einfluss – regional, kantonal und auf Bundesebene.» Furrer kennt die Mechanismen der Politik. Während zweier Amtszeiten wirkte sie als SP-Kantonsrätin. Die Aufgabe des Vereins sieht sie darin, die Bevölkerung aufzurütteln, indem man sie laufend informiert und aufklärt. «Dank dieser Arbeit sind die Gefahren inzwischen bekannter, etwa die Gefährdung der Grundwasservorkommen. Die Lagerungsfrage gewinnt an Brisanz.» Zwar mache «Klar! Schweiz» keinen fundamentalen Widerstand. «Aber wir stehen bereit, wenn es sein muss. Derzeit leisten wir konstruktiven Widerstand, indem wir unsere Forderungen in die Gremien einbringen und den Finger auf die wunden Punkte und die vielen, noch ungeklärten Fragen legen.»

So etwa kam 2005 die Initiative «Atomfragen vors Volk» zustande. Doch seit der Bund (als Reaktion auf ein mehrfach wiederholtes Nein der Nidwaldner Bevölkerung zum Standort am Wellenberg) das Kernenergiegesetz geändert und regionale und kantonale Abstimmungen über die Endlager verboten hat, ist sie obsolet geworden. Jetzt wartet «Klar! Schweiz» auf den Standortvorschlag der Nagra. Der Widerstand wird weiter­gehen und mit der kritischen Begleitung der Bewilligungs­prozesse in eine neue Phase treten. Sobald der Bundesrat die Standortfrage in eine Vorlage gegossen haben wird, gilt es ernst: Die Schweizer Stimm­bevölkerung wird dann das letzte Wort haben.

Astrid Andermatt, Nördlich Lägern

Am Bahnhof Kaiserstuhl AG warten Astrid Andermatt und Rosi Drayer. Sie präsidieren den Verein «Nördlich Lägern ohne Tiefenlager» (LoTi). Auch hier geht es in einem Elektroauto zu ­einem möglichen Standort für ein Atommülllager. In der Nachbargemeinde Stadel-Windlach könnte ein Oberflächenlager entstehen. Tangiert wären auch die Gemeinden Weiach, Glattfelden und Hohentengen. Die Fahrt durchs Zürcher Unterland führt an einem grossen Kiesabbaugebiet vorbei. Der Rhein und Deutschland sind auch hier nur etwa zwei Kilometer entfernt. Die grossen Grundwasservorkommen sind für die Trinkwasserversorgung wichtig, unter anderem für die Grossregion Zürich.

Rosi Drayer lebt in der deutschen Nachbarregion, die von den Lagerstätten genauso betroffen wäre. Radioaktivität kennt keine Grenzen. Auf der deutschen Seite warte man ab, der Landkreis Waldshut würde den Standort akzeptieren, stelle aber Bedingungen, sagt sie. Doch das Interesse an der Frage nehme in der deutschen Bevölkerung ab.

Ein grosser Acker, eingerahmt von Wald. Hier, am potenziellen Standort, stösst Werner Ebnöther dazu. Der Rentner arbeitet im Vorstand des Vereins LoTi mit. Als langjähriger Gemeinderat und Gemeindepräsident von Weiach kennt er Gegend und Mentalität der Menschen bestens. Von den Kiesgruben dringt Arbeitslärm herüber. Nur einen Steinwurf vom Standort entfernt steht ein Bauernhof. Die drei Vorstands­mitglieder zeigen das Modell eines möglichen Tiefenlagers. An der Erdoberfläche würde demnach eine futuristisch anmutende Industrieanlage entstehen, und darin, in einer sogenannten heissen Zelle, würden Roboter das hochgiftige Material ver­packen, ehe es tief in der Erde gelagert würde. Noch sind das bloss Szenarien. Viele Fragen sind noch offen. Ein grosses Thema auch hier: die Grundwasservorkommen und der Rhein.

Und auch hier findet sich tief unter der Erde eine Opalinus­tonschicht, die sich laut Nagra für einen dichten Einschluss eignen könnte. Der Verein LoTi sieht das anders: Erstens sei der Opalinuston hier zerklüftet und durch ein Korallenriff unterbrochen, und zweitens sei er als Wirtsgestein zu wenig erforscht. Selbst die Nagra ist vom Standort nicht restlos überzeugt. 2015 beantragte sie bei den Behörden, ihn aus der Evaluation zu nehmen. Vergeblich. Kantonale Behörden und das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat beharren auf der Auswahl.

Auch LoTi hat den Standortfindungsprozess aktiv begleitet und in Arbeitsgruppen mitgewirkt. «Wir sind gespannt, ob und wie das in die bevorstehende Entscheidung der Nagra einfliesst», sagt Andermatt, die bis 2014 für die SP im Aargaue­r Grossrat politisierte. Jedenfalls seien all ihre Kritikpunkte dank der Mitwirkung dokumentiert. Das jedoch sei anstrengend und mitunter zermürbend gewesen. «Die Nagra», so Andermatt, «hat es sehr geschickt gemacht, uns immer eingebunden und Informationen bereitgestellt, wenn wir sie anforderten. Aber dann haben die Expert:innen unsere Argumente entkräftet.» Dennoch fühlten sie sich insgesamt ernst genommen.

Die Arbeit in den Regionalkonferenzen ist gemacht. Doch sobald der Bewilligungsprozess laufen sollte, müsste sich der Widerstand wohl neu aufstellen. Doch wie? Und mit wem? Was hier wie auch in den beiden anderen als Standorte in­frage kommenden Regionen auffällt: Die Aktivist:innen sind alle nahe an sechzig oder älter. Es gibt zwar überall jüngere Vereinsmitglieder, aber sie engagieren sich kaum in den Gremien. Ohne Verjüngung könnte dieser Widerstand erlahmen – und schliesslich gar verschwinden. Werner Ebnöther sagt, im konservativen, bürgerlich dominierten Zürcher Unterland wehre sich die Bevölkerung kaum noch. Ausserdem spekulierten die betroffenen Gemeinden auf Entschädigungszahlungen. Die Rede ist von 800 Millionen Franken – verteilt allerdings auf Jahre, sodass der positive Effekt auf die Gemeindebudgets nicht besonders ergiebig wäre. Ebnöther, selbst kein Linker, will aber nicht klein beigeben: «Unsere Generation hat dieses Problem geschaffen, sie muss es auch lösen. Oder wie LoTi es möchte: den Mut haben, zuzuwarten, bis bessere Lösungen zur Ver­fügung stehen.»

Am Mittwoch, 7. September 2022, 19.39 Uhr liest WOZ-Autorin Annette Hug im Cheesmeyer-Haus in Sissach aus ihrem Roman «Tiefenlager». Anschliessend Diskussion mit Florence Brenzikofer (Nationalrätin Grüne, Vizepräsidentin NWA Schweiz). Moderation: Georg Geiger.

Unsichere Lagerung : Argumente gegen die Nagra-Vorschläge

Wer sich durch die Website der Nagra klickt, könnte den Eindruck gewinnen: Eine sichere Lagerung ist nicht wirklich ein Problem. Ganz anders sehen das die Widerstandsorganisationen. Hier einige ihrer wichtigsten Argumente.

Rückholbarkeit: Die Rückholbarkeit radioaktiver Abfälle ist für die kommenden Generationen entscheidend. Ab Beginn der Einlagerung nimmt die Möglichkeit zur Rückholung jedoch schrittweise ab – und ist nach Verschluss des Lagers kaum noch möglich. Ein Grobkonzept der Nagra soll erst 2024 vorliegen.

Wissenslücken beim Rahmengestein: Das Rahmen­gestein, das den Opalinuston enthält (darin soll der Müll eingeschlossen werden), wurde nicht standortunabhängig untersucht. Seine Barrierewirkung, aber auch seine Bedeutung für einen allfälligen Austritt von radioaktiven Nukliden in die Biosphäre oder die Sicherheit der Lagerbaustelle werden erst geprüft, wenn der Standort feststeht.

Unvollständige hydrogeologische Analysen: Da die Wahl des Standorts getroffen wird, bevor alle sicherheitsrelevanten Fragen wie etwa zur Hydrologie vollständig geklärt sind, fehlen transparente Analysen der bestehenden Untersuchungen und weitere Abklärungen.

Fehlende Verantwortlichkeit: Das Verursacherprinzip funktioniert nur, solange der Verursacher existiert. Daher braucht es griffige Lösungen dafür, dass die Verantwortung für den Atommüll nicht gleichzeitig mit den AKW-Betreibern verschwindet. Was wird mit der Nagra, wenn ihre ­Mitgliederorganisationen in ihrer heutigen Form nicht mehr existieren?

Volles Risiko für die Standortregion: Das Haftungs­beschränkungs- und das Kostenrisiko liegen nach der Verschlussphase (gemäss Nagra ab etwa dem Jahr 2125) vollständig bei der betroffenen Region. Das sei politisch inakzeptabel.

Ungelöste Markierungsfrage: Das Lager für AKW-Abfälle muss gemäss Kernenergiegesetz dauerhaft etikettiert werden: Kommende Generationen müssen wissen, wo der Untergrund für sie unbenutzbar gemacht wurde. Die Markierungsfrage ist allerdings noch völlig offen.