Kunst: Einladung in eine gar nicht so fremde Welt

Nr. 32 –

Die polnische Romni Małgorzata Mirga-Tas zeigt monumentale Textilkunstwerke und magische Statuen im Kunsthaus Bregenz. Sie erzählt damit die lange verdrängte Geschichte der Rom:nja-Gemeinschaft.

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Stoffcollagen von Małgorzata Mirga-Tas im Kunsthaus Bregenz
Willkommen in Czarna Góra: Małgorzata Mirga-Tas porträtiert mit Stoffcollagen das Dorf und das Leben ihrer Familie. Fotos: Markus Tretter

Im Foyer des Kunsthauses Bregenz ist es voll, Hunderte sind zur Eröffnung der Ausstellung «Tełe Ćerhenia Jekh Jag» der polnischen Romni Małgorzata Mirga-Tas gekommen. Und für einige könnte sich heute etwas Fundamentales ändern.

Denn Małgorzata Mirga-Tas zeigt die Rom:nja in ihrer Kunst, wie man sie sonst selten sieht – positiv, stark, stolz. Sie erschafft eine andere Erzählung als jene, die viele Bilder, Bücher – von Nichtrom:nja über Rom:nja  und Musik seit Jahrhunderten transportieren. «Mit meiner Kunst kämpfe ich für unsere Menschenrechte», sagt sie in Bregenz.

Das Ausmass und die Tiefe ihrer Arbeit entfalten sich nach und nach. Im ersten Moment wird man einfach aufgesogen von kräftigen Farben, Mustern und riesigen Textilcollagen.

«Sie betreten eine Rom*nja-Siedlung in Czarna Góra», empfängt einen der Ausstellungstext. An der Wand hängen mehrere Meter lange und breite Bilder aus verschiedensten Stoffen, zusammengenäht zu Menschen, Häusern, Bergen und Wiesen.

Czarna Góra ist die Heimat von Małgorzata Mirga-Tas, ein kleiner Ort am Rande des Tatra-Hochgebirges in Polen. Seit über 400 Jahren leben Rom:nja an diesem Ort, auch Mirga-Tas’ Familie seit vielen Generationen.

Die Künstlerin wurde 1978 geboren. Erst absolvierte sie eine Kunstschule im nahe gelegenen Zakopane, später studierte sie Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in Krakau. Bereits während des Studiums schloss sie sich einer Organisation an, die für die Rechte der Rom:nja kämpfte, und ist seither auch Aktivistin. Ihre Identität, die Kultur und Geschichte ihrer Gemeinschaft, zu der in Europa rund zwölf Millionen Menschen zählen, sollten zum Leitmotiv ihrer Kunst werden.

Stoffe erzählen Geschichten

Zu Beginn ihrer Laufbahn arbeitete sie vor allem mit Karton und Leim, schuf Tier- und Menschenskulpturen. Als sie schwanger wurde und nicht mehr als Bildhauerin arbeiten konnte, begann sie, Alltagsszenen aus ihrer Rom:nja-Siedlung zu malen. «Damals wurden mir meine Kleider zu eng, gleichzeitig wollte ich mich nicht von ihnen trennen, also integrierte ich sie in meine Bilder», schreibt sie per Mail über die Anfänge ihrer heute berühmten Textilcollagen.

In ihren Bildern verarbeitet Mirga-Tas heute Kleidungsstücke vieler Menschen aus der Rom:nja-Gemeinschaft, oft auch aus ihrer eigenen Familie. Immer wieder tragen die Porträtierten auf ihren Bildern Teile ihrer echten, auch zuvor getragenen Blusen, Hosen oder Jacken. «Die Stoffe transportieren die Energie der Menschen, die sie einst getragen haben, in ihnen steckt gelebte Geschichte», schreibt sie.

Selbstporträt aus einer Stoff-Collage von Małgorzata Mirga-Tas
Stoffe sammeln, zuschneiden und zu grossen Collagen vernähen: Dieses Selbstporträt zeigt Małgorzata Mirga-Tas bei der Arbeit.

Die Vorlagen für ihre Bilder findet sie meist in Fotoarchiven, jenen etwa von Museen oder der Familie. Sie vergrössert die Fotos, überträgt sie auf Papier, legt die riesigen Vorlagen am Boden aus, sucht die passenden Stoffe für die einzelnen Elemente, schneidet diese zu, vernäht die Teile. Eine immense Arbeit, um aus Stoffstücken von teilweise wenigen Zentimetern am Ende mehrere Quadratmeter grosse Collagen zu erschaffen.

Ihre Werke sind vielschichtig und verspielt. Nebst Kleidungsstücken vernäht Mirga-Tas Bettwäsche, Vorhänge, Tischdecken, Teppiche. In einem Wohnzimmer können echte Spielkarten liegen, die Frauen tragen reale Perlenketten, Näherinnen haben echte Nadeln in der Hand, mit aufgemalten Farben erhalten die Figuren Haare und Mimik.

In Bregenz versinken die Besucher:innen in diesen sorgfältig assortierten Materialien und Stoffen. Sie sehen, wie Rom:nja Kartoffeln ernten, sich im Wohnzimmer zum Kaffee treffen, draussen Pferde beim Grasen beobachten. «Schau hier, der schlafende Hund», sagt eine ältere Besucherin. «Und das Kind, das ihn streichelt», sagt ihre Begleiterin. Minutenlang stehen die beiden Frauen vor einem Bild und entdecken immer wieder Neues.

Elemente aus dem gelebten Alltag

«Man ist sofort eingeladen in diese Welt», sagt Thomas D. Trummer, Direktor des Kunsthauses Bregenz, an der Eröffnung, «die Fremdheit, die viele gegenüber den Rom:nja fühlen, ist aufgehoben.» Fanni Fetzer, Direktorin des Kunstmuseums Luzern, hat schon im Frühjahr eine grosse Schau von Mirga-Tas kuratiert. Sie glaubt, dass es die Elemente aus dem gelebten Alltag seien, die die Arbeiten so zugänglich machten; «die Stoffe wirken vertraut, in ihrer Grösse aber gleichzeitig überwältigend», sagte sie im März in Luzern.

Diese Überwältigung erreichte ihren Höhepunkt an der Kunstbiennale in Venedig 2022. «Re-enchanting the World» heisst das Werk, das Mirga-Tas dort präsentierte und das für sie bis heute ein Meilenstein ist. Als erste Person aus der Rom:nja-Gemeinschaft gestaltete sie einen nationalen Pavillon in Venedig: den polnischen. Sie kleidete die vier Wände mit gigantischen Textilcollagen aus. Diese sind vertikal in zwölf Monate, horizontal in drei Ebenen unterteilt. Das oberste horizontale Band zeigt den Einzug der Rom:nja in Europa – als Ereignis voller Freude. Die mittlere Ebene zeigt Sternzeichen, flankiert von bedeutenden Rom:nja-Persönlichkeiten, die meisten von ihnen Frauen. Die unterste Ebene zeigt Alltagsszenen aus Czarna Góra.

Mit der Monatsstruktur und der Dreiteilung zitiert Mirga-Tas ein bedeutendes Werk aus der italienischen Renaissance: den Freskozyklus im Palazzo Schifanoia in Ferrara. Die Fresken stellen oben Gottheiten, in der Mitte Tierkreiszeichen, unten Alltagsszenen dar.

Stoff-Collage von Małgorzata Mirga-Tas welche eine Frau zeigt, die Wolle spinnt
Secondhand: Viele Porträtierte tragen im Bild Teile ihrer ehemaligen Kleidung.

Mirga-Tas eignet sich diese Struktur an und erzählt damit die Geschichte der Rom:nja über die Jahrhunderte hinweg. Sie bedient sich dabei vieler konkreter Motive aus der europäischen Kunstgeschichte, auf denen die Rom:nja rassistisch und stereotyp dargestellt wurden, etwa als «gefährliche Vagabunden». Sie überschreibt diese Bilder und zeigt, wie sie die Rom:nja sieht – positiv, stark, Mitmenschen zugewandt. Sie feiert ihre Gemeinschaft, porträtiert deren Exponent:innen, die sich für die Rom:nja eingesetzt haben und es bis heute tun. Sie erinnert an Verbrechen, die an den Rom:nja begangen wurden, zeigt die Resilienz, mit der die Gemeinschaft Verfolgung – auch den Holocaust, auf Romanes «Porajmos» – überlebt hat und sich bis heute der Marginalisierung widersetzt.

Dieses Werk ist so nicht nur in seiner Grösse, sondern auch in seiner Bedeutung monumental. Es hält eine Welt fest. «Gosia, du hast uns einen Palast, einen Wald, ein Zuhause gebaut», sagte die US-amerikanische Soziologin, Aktivistin und Romni Ethel Brooks, als an der Biennale in Venedig 2022 der polnische Pavillon eröffnet wurde. Anwesend waren auch viele andere Rom:nja. «Für uns war es ein Moment grosser Freude und grossen Stolzes», schreibt Mirga-Tas per Mail. Die Gemeinschaft sei so auch in der Kunstwelt sichtbarer geworden. In Bregenz sagt sie, dass sich bei vielen Besucher:innen in den Ausstellungen eine Art Scheuklappen öffneten. «Sie verstehen, dass man die Geschichte der Rom:nja auch durch die Rom:nja erzählen kann. Indem wir die Geschichten der Rom:nja erzählen, sensibilisieren und öffnen wir nicht nur die Augen anderer für unsere Gemeinschaft, sondern bauen auch die Barrieren von Vorurteilen, Abneigung und Stereotypen gegenüber Minderheiten ab.»

«Schön, sinnlich und kompliziert»

Thomas D. Trummer nennt Mirga-Tas’ Praktik eine Wiederaneignung. Sie schaffe eine Gegenöffentlichkeit zum Blick der Mehrheitsgesellschaft. Fanni Fetzer erlebte, dass man durch diesen Perspektivwechsel beginne, sich – als Nichtrom:nja – selbst zu hinterfragen. «Schön, sinnlich, aber auch anstrengend und kompliziert», so erlebe sie Mirga-Tas’ Werk, bei dem sie nebst prächtigen Farben auch mit einer dezidiert antikolonialistischen und antirassistischen Haltung konfrontiert werde. Mirga-Tas zeige auf, welche Erzählungen im offiziellen Kunst- und Geschichtskanon fehlten.

Besonders wichtig ist es Mirga-Tas, die Geschichten von Frauen aufzuzeigen. Sie erhalten in ihren Werken viel Raum, gerade auch die Frauen aus ihrer Familie. «Listig, gefährlich, stehlend», so würden Romnja in bisherigen Kunstwerken und Liedern oft abgebildet, weiss Thomas D. Trummer. Bei Mirga-Tas aber sieht man selbst handelnde, stolze Frauen. «Ihre Rolle in der Community wird unterschätzt», so Mirga-Tas. Dank ihrer Mutter gehe sie heute ihren Weg als Künstlerin, sagt sie in der Dokumentation «Twist. Roma, zwischen Stolz und Vorurteil», die seit April bei Arte zu sehen ist. Sie selbst sehe sich aber nicht als Feministin, schreibt sie per Mail, sondern lediglich als unabhängig. Es seien eher die Kuratorinnen, die ihre Kunst in einen explizit feministischen Kontext stellen würden. Und doch wählte sie bei «Re-enchanting the World» selbst eine klar feministische Referenz. Den Titel hat sie vom gleichnamigen Buch der feministischen Philosophin Silvia Federici übernommen, die darin patriarchale, kapitalistische Strukturen hinterfragt.

In der Ausstellung in Bregenz setzt Małgorzata Mirga-Tas aber auch den Männern ihrer Familie ein Denkmal. Im mittleren Geschoss hat sie aus Stoffpaneelen die Schmitte ihres Grossvaters nachgebaut. Tritt man ein, steht man unter dem Himmel von Czarna Góra und kräftigen Schmieden gegenüber, die mal grobes Werkzeug, mal ein kleines Kind im Arm halten. «Aus einem Klumpen rohen Eisens schmiedet der Meister im Feuer neue Formen», heisst es im Gedicht dazu, das Jan Mirga, der Onkel der Künstlerin, geschrieben hat. Die Schmiede wird so auch im übertragenen Sinne zur Stätte, wo neues Leben und neue Widerstandskraft entstehen.

Wenn alles zusammenkommt

Die in Bregenz ausgestellten Werke gestaltete Mirga-Tas spezifisch für diese Ausstellung. «Ich möchte meine Zeit nicht damit verschwenden, Unwichtiges über die Rom:nja zu erzählen», sagt sie. Für jede Ausstellung recherchiere sie neue Geschichten, die jeweils spezifisch miteinander verbunden seien. Auch die drei Geschichten in Bregenz beziehen sich aufeinander.

Im unteren Stock stehen im Raum verteilt sogenannte Jangare, gesichtslose, menschenähnliche Wesen, die uns beschützen sollen, inspiriert durch die Mythologie der Rom:nja. Auf einer der Textilcollagen daneben sieht man, wie Mirga-Tas mit Frauen aus ihrer Familie eines dieser Wesen näht. Der Körper des Jangaro entsteht aus einem Stoff voller Sterne – wie es der Himmel in der Schmitte ist. Im Stockwerk über der Hütte begegnen einem Bärenskulpturen, wiederum mythische Wesen. Die dazugehörigen Stoffcollagen zeigen die Tiere nicht angekettet als Dressurtiere, wie sie oft auf alten Fotografien zu sehen sind, sondern als ebenbürtige Weggefährten der Rom:nja, als ihre Beschützer. Bären wie Jangare entstanden aus Wachs und Asche, von Mirga-Tas, ihrer Schwester und Mutter über dem Feuer geschmolzen – wie ihr Grossvater einst das Eisen formte. Der Titel der Ausstellung, «Tełe Ćerhenia Jekh Jag», lautet übersetzt «Unter dem bestirnten Himmel brennt ein Feuer».

Zwei Stunden nach Eröffnung steht ein junger Mann vor dem Kunsthaus, ein Bier in der Hand. Er sei mit seinen Freunden eher wegen des Apéros gekommen, sagt der Siebzehnjährige, über die Rom:nja wisse er wenig, habe bisher eher schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, stehe politisch rechts. Später schreibt er per Whatsapp, dass ihn die Ausstellung tief bewegt habe, insbesondere die Geschichten der Frauen. «Dieser Besuch hat mir geholfen, ein besseres Verständnis für die Herausforderungen und die Kultur der Roma zu entwickeln.»

Für ihn hat sich heute Abend etwas Wichtiges verändert – begonnen mit dem Betrachten farbenfroher Bilder. Es scheint, als habe der Schmied auch für ihn etwas Neues geschaffen. Einen neuen Blick.

Małgorzata Mirga-Tas: «Tełe Ćerhenia Jekh Jag» im Kunsthaus Bregenz, bis 28. September 2025. www.kunsthaus-bregenz.at