Proteste in Hongkong: «Diese Bewegung hat eine ganze Menge Energie»

Nr. 48 –

Die Bezirkswahlen am Sonntag gewannen offenkundig die Parteien, die der Bewegung nahestehen. Derweil kämpfen die «front-liners» weiterhin auf der Strasse – ein Interview mit einem Protestierenden.

Die Wahlergebnisse sind eindeutig: Am Sonntag errangen in Hongkong die der Protestbewegung nahestehenden Parteien einen Erdrutschsieg; die Kräfte, die die Stadtregierung und die chinesische KP unterstützen, erlitten starke Verluste. Monatelang hatte die Stadtregierung behauptet, dass die «schweigende Mehrheit» der Bevölkerung hinter ihr stehe und die Proteste ablehne – diese Behauptung ist nun widerlegt.

WOZ: Peter Kuo *, die letzten Tage vor den Wahlen sind ruhig verlaufen. Aber seit Mittwoch, dem 13. November, ist die Polytechnische Universität (PU) im Viertel Hung Hom besetzt …
Peter Kuo: Schon am Samstag davor hatte es Strassenschlachten gegeben, die am Sonntag weitergingen. Die «front-liners», die militanten Demonstranten und Demonstrantinnen, konnten sich auf dem Campus waschen, die Kleidung wechseln und sich medizinisch behandeln lassen. Einige füllten dort Molotowcocktails ab. Auch die Mensa war von Protestierenden in Betrieb genommen worden, dort konnte man Wasser, Essen und Handyladegeräte bekommen – das war gut organisiert. Ausserhalb der Uni gab es an zwei Orten Konfrontationen mit der Polizei. Diese griff immer wieder mit Wasserwerfern und gepanzerten Wagen an – ein solcher wurde aber auch mehrfach von Molotowcocktails getroffen.

Die Polizei konnte die Linien am nächsten Morgen gegen 5.30 Uhr durchbrechen. Wie haben Sie das erlebt?
Ich war vorne auf der Strasse. Plötzlich riefen Leute, dass die «Raptors», eine Sondereinheit der Polizei, kommen. Wir rannten in Richtung Unihaupteingang, nahmen dabei jedoch eine falsche Abzweigung. Die Polizisten waren nur noch drei Meter hinter uns. Aus dem zweiten Stock der Uni warfen Leute Molotowcocktails auf sie. Es war extrem gefährlich. Ein Raptor warf hinter mir einen anderen Protestierenden zu Boden, richtete seine Waffe auf mich und schoss. Ich wurde am Rücken getroffen – wahrscheinlich von einem Gummigeschoss oder einem sogenannten Bean-Bag.

Sie konnten aber in die Uni fliehen. Wie war es, als Sie merkten, dass der Campus umstellt ist?
Ich rechnete damit, dass die Polizei den Campus bald stürmen würde, deshalb wollte ich bleiben, obwohl ich Angst hatte. An diesem Tag hatten die Demonstrierenden dreimal versucht, die Polizeilinien zu durchbrechen, um eine Verteidigungslinie ausserhalb des Haupteingangs aufzubauen und eine Schneise zu schaffen, damit die Leute rauskommen können. Das scheiterte. Draussen versuchten zwar Protestierende, zur PU durchzukommen. Aber zur selben Zeit machten einige Proregierungspolitiker und Unidozenten einen Deal mit der Polizei. Alle Minderjährigen sollten rauskommen und sich registrieren lassen, dann könnten sie nach Hause gehen. Alle über achtzehn Jahre sollten mit den Politikern rausgehen und würden sofort verhaftet – allerdings ohne Gewaltanwendung durch die Polizei.

Auch die Polizei forderte die Besetzer und Besetzerinnen auf, die Uni zu verlassen, und drohte, dass alle wegen schweren Landfriedensbruchs verzeigt würden – worauf bis zu zehn Jahre Haft steht. Welche Auswirkungen hatte das auf die Leute in der Uni?
Die Drohungen der Polizei begannen bereits Sonntagnacht. Ich hörte zudem, wie die Polizei Lieder abspielte – mit Versen wie «Du bist schon umstellt». Das war lachhaft und beeindruckte niemanden. Aber andere Taktiken waren wirksam, etwa dass Politiker hineingeschickt wurden, die Mitgefühl vortäuschten und die Leute zum Aufgeben überredeten.

Wie haben die Anwesenden darauf reagiert?
Die Leute waren gespalten. Einige beschimpften diejenigen, die rausgehen wollten. Viele derjenigen wiederum weinten. In der Montagnacht und am Dienstag verliessen dann einige Hundert den Campus. Politiker, Sozialarbeiter und Schulleiter holten sie ab. Es war niederschmetternd. Es gab Leute, die bleiben wollten, aber als sie all die anderen rausgehen sahen, fühlten sie sich, als hätten sie keine Unterstützung mehr. Jene, die gingen, hatten Schuldgefühle.

Etwa hundert Protestierende sind in der Universität geblieben. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie den Campus schliesslich verlassen haben?
Ich hatte gemischte Gefühle, weil ja immer noch Leute in der Uni sind. Mittlerweile war zudem klar, dass die Polizei das Gebäude nicht stürmen würde, sondern abwartet, bis die Kräfte der Leute schwinden und sie aufgeben. Als ich rausging, musste ich nicht ins Gefängnis, aber ich wurde wegen schweren Landfriedensbruchs angezeigt.

Warum unterstützen Sie die Bewegung?
Am Anfang hatte ich Zweifel, aber dann dachte ich mir, dass ich mitmachen muss, um die Bewegung zu verstehen. Es geht nicht einfach darum, die Polizei zu besiegen. Innerhalb der Bewegung wird diskutiert, wie eine effektivere Kommunikation aussehen könnte und wie viel an Gewalt gegenüber der Polizei akzeptabel ist. Es geht um wichtige Werte wie Demokratie und gegenseitiges Verständnis. Und es geht um den Alltag, darum, welches Leben die Leute anstreben und aufbauen wollen. In gewisser Weise stellen die Protestierenden auch die herrschenden Werte und Verhaltensweisen infrage – und denken über Alternativen nach. Die Bewegung hat eine ganze Menge Energie. Ich frage mich, in welche Richtung das gehen wird.

* Peter Kuo ist ein Pseudonym für einen linken Aktivisten Anfang zwanzig, der seit Monaten Teil der Hongkonger Protestbewegung ist.

Urteil des Hongkonger Obergerichts : Vermummung kann «vollkommen legitim» sein

Am 18. November hat das Obergericht von Hongkong, der High Court, ein Urteil gefällt, das weit über die chinesische Sonderverwaltungszone hinaus interessant ist: Das Dekret über das Vermummungsverbot, das die Regierung am 4. Oktober, gestützt auf die Befugnisse des kolonialen Notstandsgesetzes von 1922, erlassen hatte, verstösst demnach in weiten Teilen gegen das Grundgesetz Hongkongs. Das Gericht hält nicht nur fest, dass Notverordnungen anlässlich blosser Störungen der öffentlichen Ordnung («public danger») definitiv «unvereinbar mit dem Grundgesetz» seien.

Das Gericht nimmt auch das Vermummungsverbot selbst auseinander. Die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit könnten zwar per Gesetz eingeschränkt werden. Und die Regierung verfolge mit dem Dekret durchaus berechtigte Ziele: die Bekämpfung von Gewalt und die Erleichterung der polizeilichen Ermittlungen. Aber das nahezu grundsätzliche Vermummungsverbot sei unverhältnismässig. Es treffe auch friedliche Kundgebungen und Demonstrationen. Zur Versammlungsfreiheit gehöre auch zu entscheiden, wie man sie ausübe. Mehrfach wiederholt das Gericht, dass auch friedliche TeilnehmerInnen öffentlicher Versammlungen «vollkommen legitime Gründe» haben könnten, Masken zu tragen und nicht identifizierbar sein zu wollen, seien es religiöse Motive oder einfach der Schutz vor Repressalien.

Im Januar wird sich zeigen, ob dieses liberale Urteil Bestand haben wird. Dann nämlich soll das Appellationsgericht über die Berufung der Regierung entscheiden.

Heiner Busch

Urteil des High Court: https://legalref.judiciary.hk/lrs/common/ju/ju_frame.jsp?DIS=125452&cur…