Korruption in der Ukraine: «Selenski ist eine Geisel des eigenen Systems»

Nr. 47 –

Hundert Millionen Dollar Schmiergelder, Involvierte bis in die höchsten Regierungskreise: Der Skandal rund um den staatlichen Energiekonzern Enerhoatom schlägt hohe Wellen. Eine Einordnung des ukrainischen Politologen Serhij Kudelia.

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Wolodimir Selenski und sein Stabchef Andrij Jermak
«Neuwahlen wären der einzige Weg aus der Krise»: Wolodimir Selenski und sein Stabchef Andrij Jermak am Dienstag vor einem Treffen mit dem spanischen König. Foto: Violeta Santos Moura, Reuters

WOZ: Herr Kudelia, vergangene Woche wurde die Ukraine von einem riesigen Korruptionsskandal erschüttert. Waren Sie überrascht?

Serhij Kudelia: Wer sich mit ukrainischer Politik befasst, kann kaum überrascht sein. In der Ukraine liegt die Exekutivgewalt zwar beim Präsidenten; gleichwohl hat das Präsidialamt – quasi dessen Büro – enorm viel Macht. Das begann nicht mit Wolodimir Selenski, sondern ist seit dreissig Jahren ein gängiges Merkmal der Politik. Der Leiter des Präsidialamts – bis auf eine Ausnahme bisher immer Männer – kann diese Macht für korrupte Machenschaften oder zur Unterdrückung der Opposition nutzen. Viele glaubten, unter Selenski habe es einen Bruch mit diesem klientelistischen Modell gegeben. Der aktuelle Skandal ist aber ein perfektes Beispiel für dessen Fortsetzung. Überraschend ist höchstens, wie selbstsicher sich die Beteiligten gefühlt haben. Sie wussten von den Ermittlungen – und sprachen weiterhin am Telefon freimütig über ihre Machenschaften, hatten keine Angst, gestoppt zu werden. Das lässt hochrangige politische Unterstützung vermuten.

Portraitfoto von Serhij Kudelia
Serhij Kudelia, Politologe

WOZ: Wie genau funktionierte das Korruptionsschema?

Serhij Kudelia: Meist läuft es in der Ukraine über eine Art Dreieck, bestehend aus dem Leiter des Präsidialamts – unter Selenski ist das Andrij Jermak –, einem Minister und einer Art informellem Vermittler zwischen diesem und Drittparteien. Diesmal ist Selenski-Freund Timur Minditsch die dritte Person – jemand, von dem die meisten Ukrainer:innen noch nie gehört haben und der kein politisches Amt ausübt. Der Minister wählt für eine bestimmte Aufgabe ein Unternehmen aus. Dieses zahlt Schmiergelder, die wiederum durch die Taschen des Ministers bis ganz nach oben zum Präsidialamt fliessen. Die grosse Frage ist: Welche anderen Machenschaften fanden noch statt, von denen wir bisher nichts wissen? Und handelte Jermak auf Eigeninitiative oder in Selenskis Namen?

Der Skandal

Letzte Woche haben das Nationale Antikorruptionsbüro und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung ein kriminelles Netzwerk rund um den staatlichen Atomenergiekonzern Enerhoatom aufgedeckt: Dieses soll den Lieferanten des Konzerns Bestechungsgelder im Umfang von hundert Millionen US-Dollar abgepresst haben.

Im Zentrum der fünfzehnmonatigen Ermittlungen, in deren Rahmen Tausende Stunden Gespräche abgehört wurden, steht Timur Minditsch (Deckname «Karlsson»), ein alter Freund und ehemaliger Geschäftspartner von Präsident Selenski, der sich kurz vor einer geplanten Hausdurchsuchung ins Ausland absetzte. Als Folge des Skandals kündigte Selenski einen Umbau im Energiesektor an: Zuerst soll Enerhoatom eine neue Führungsspitze erhalten, dann auch weitere Staatsbetriebe.

WOZ: Dass der Skandal ausgerechnet den Energiekonzern Enerhoatom trifft – in einer Zeit, da die Menschen unter den Stromausfällen leiden –, ist eine ziemlich bittere Ironie.

Serhij Kudelia: Aus den publizierten Gesprächsmitschnitten geht hervor, dass diese Leute Firmen, die Reparaturarbeiten an kritischer Infrastruktur durchführen, mit der Kündigung der Verträge drohten, wenn sie kein Schmiergeld zahlen würden. Von Selbstsucht getrieben, fehlten ihnen sämtliche moralisch-ethische Hemmschwellen – im Kontext des Krieges ist das natürlich umso zynischer. Dass es den Energiesektor traf, ist aber keine Überraschung. Die Einnahmen sind dort beträchtlich, und das Geld kommt aus dem Staatshaushalt. Zudem hat Enerhoatom nach Kriegsbeginn sehr viel Spielraum bei der Auswahl seiner Dienstleister erhalten. Es gab keinen strengen Auswahlprozess, keinen Wettbewerb, bei dem verschiedene Firmen um einen Regierungsauftrag bieten. Was mich überrascht hat: Enerhoatom ist befugt, Verträge zu kündigen, ohne die erbrachten Leistungen zurückzahlen zu müssen, solange der Krieg andauert, es hat also eine Art Notstandsmacht.

WOZ: Mit Blick auf diesen Machtzuwachs: Begünstigt der Krieg die Korruption?

Serhij Kudelia: Damit Korruption gedeiht, braucht es zwei Faktoren: die Zentralisierung der Macht und begrenzte Transparenz. Beides ist hier gegeben. Die Zentralisierung fand wie gesagt vor dem Krieg statt, der Rückgang der Transparenz in Bezug auf Staatsfinanzen und Regierungsentscheide wiederum ist eine Folge des Krieges – auch weil Geheimhaltung aus Sicherheitsgründen nötig sein kann. Die beiden Faktoren bieten politischen Akteuren Anreize zum Machtmissbrauch, um sich zu bereichern. Viele meinten, ethisch-moralische Überlegungen würden sie in Kriegszeiten von korrupten Machenschaften abhalten, Selenski stehe für eine neue Generation, die so etwas nicht tun würde. Leider sehen wir, dass das keine grosse Rolle spielt.

WOZ: Auf der anderen Seite zeigen die aktuellen Ermittlungen auch die Funktionsfähigkeit der Antikorruptionsbehörden.

Serhij Kudelia: Nach der Euromaidan-Revolution von 2014 haben die Zivilgesellschaft und ausländische Geldgeber diesen Behörden zum Durchbruch verholfen, vom damaligen Präsidenten Petro Poroschenko hingegen kam viel Widerstand. Heute ist es ähnlich. Die Antikorruptionsbehörden arbeiten nicht dank, sondern trotz Selenski. Sie stossen auf grossen Widerstand vom Staat – etwa vonseiten der Gerichte, die unter Korruptionsverdacht stehende Personen gegen geringe Kautionen auf freien Fuss setzen. Hinzu kommen die Parallelstrukturen der Strafverfolgungsbehörden, die Ermittler:innen der Antikorruptionsbehörden schikanieren. Ohne Druck aus der Zivilgesellschaft, von der EU und den USA würden diese wohl schnell geschlossen werden.

WOZ: Als Folge des Skandals mussten zwei Mitglieder der Regierung zurücktreten, darunter der jetzige Justiz- und ehemalige Energieminister, Herman Haluschtschenko. Wie beurteilen Sie Selenskis Umgang mit der Affäre?

Serhij Kudelia: Er versucht, die öffentliche Seite des Skandals zu managen, scheint aber nicht an den Ursachen interessiert zu sein. Darauf deuten Aussagen der Antikorruptionsbehörden hin: Sie seien bei ihrer Arbeit auf erheblichen Widerstand anderer staatlicher Stellen gestossen, insbesondere die Generalstaatsanwaltschaft habe Druck gemacht, die Ermittlungen zu stoppen. Im Sommer gab es Proteste gegen eine Gesetzesänderung, die die Antikorruptionsbehörden der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt hätte – und damit der Kontrolle von Jermak. Die Proteste haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Ermittlungen fortgesetzt werden konnten. Jetzt verstehen wir, warum Selenski und Jermak damals so nervös waren. Wäre ihre Gesetzesänderung in Kraft getreten, hätte es das Ende der Ermittlungen bedeutet.

WOZ: Selenski und sein innerer Zirkel stehen immer wieder wegen autoritärer Tendenzen in der Kritik. Ist die Vorgehensweise, die Sie beschreiben, typisch für seine Art der Herrschaft?

Serhij Kudelia: Das Ausmass der Machtkonzentration in seinem Amt ist beispiellos. Aber das liegt nicht an ihm persönlich, sondern an der Gelegenheit, die sich ihm bot, weil seine Partei 2019 die absolute Mehrheit im Parlament errang – etwas, was kein Präsident vor ihm hatte. So kam auch sein Regierungsstil zum Tragen: Befehle erteilen, die andere unabhängig vom Inhalt befolgen müssen. Ich beobachte einen Verfall der Institutionen: Das Parlament ist zur Absegnungsinstanz geworden, obwohl es laut Verfassung eigentlich viel Macht hätte. Wo vorherige Präsidenten auf Deals mit anderen Parteien angewiesen waren, hat Selenski die Regierung zur Erweiterung seines Amts gemacht. Dass zudem Leute aus dem Präsidialamt, die selbst nicht gewählt wurden, Ministerien und Wirtschaftssektoren überwachen, schadet der Demokratie.

WOZ: Selenski war teilweise erfolgreich mit der Zerschlagung alter oligarchischer Strukturen. Ist in seinem Umfeld eine neue Oligarchenklasse entstanden?

Serhij Kudelia: Die traditionellen Oligarchen waren Unternehmer, die mit der Privatisierung von Staatsbetrieben reich wurden: Sie gründeten Parteien, bauten Medien auf, beeinflussten die öffentliche Meinung. Die meisten dieser Leute verloren mit dem Krieg einen grossen Teil ihres Vermögens, weil Vermögenswerte vorübergehend verstaatlicht wurden, und haben nur noch begrenzten Einfluss. Stattdessen stiegen die Staatsbeamten um Selenski auf. Ihre Kontrolle der Privatwirtschaft funktioniert nicht durch die Übertragung von Eigentumsrechten, sondern durch informelle Kontrolle über Staatsbetriebe. Das ist viel schwieriger nachzuvollziehen; Korruptionsskandale wie der aktuelle offenbaren nur einen kleinen Teil der Pyramide. Ich würde von einem staatlich gelenkten Kapitalismus sprechen, bei dem Staat und Privatwirtschaft verschmelzen, während im Fall des Oligarchenkapitalismus Oligarchen den Staat beeinflussen.

WOZ: Oppositionelle haben zwar die Auflösung der Regierung gefordert; Rücktrittsforderungen an Selenskis Adresse sind aber bisher ausgeblieben. Welche Auswirkungen wird der Skandal für ihn haben?

Serhij Kudelia: In gewisser Weise ist Selenski zur Geisel des politischen Systems geworden, das er selbst erschaffen hat. Der einzige Weg, das Problem anzugehen, ohne Neuwahlen abzuhalten, ist die Entlassung von Jermak. Soeben wurde bekannt, dass auch er auf den veröffentlichten Aufnahmen zu hören ist, unter dem Codenamen Alibaba. Ihn zu entfernen, ist aber äusserst schwierig: Jermak ist das Fundament von Selenskis System, hat viel Wissen über ihn, spielt in der Innen- wie in der Aussenpolitik eine entscheidende Rolle. Vermutlich wird Selenski also versuchen, Jermak so lange wie möglich zu halten – was die Krise bloss verschärfen wird. Und auch die ausländischen Partner, die Finanzmittel für die Ukraine bereitstellen, wollen eine Bestrafung der Verantwortlichen.

WOZ: Sie haben die Proteste vom Sommer erwähnt. Gehen Sie davon aus, dass der Druck aus der Zivilgesellschaft auch jetzt zunehmen wird?

Serhij Kudelia: Selenski reagiert sensibel auf jede Äusserung von Unmut, wie wir im Sommer gesehen haben, als er schliesslich einlenken musste. Und seit die Polizei während des Euromaidan Dutzende Demonstrant:innen erschoss, weiss jede ukrainische Regierung, dass die gewaltvolle Niederschlagung von Protesten sie ihre Legitimität kosten würde. Seither hat die Zivilgesellschaft viel Macht. Wie aber würde Selenski auf Proteste reagieren? Eine Möglichkeit wäre eine Art Fassadenwechsel – Premier und Minister:innen entlassen, aber den Verantwortlichen nicht anrühren –, was die Leute kaum zufriedenstellen wird. Proteste könnten die Krise also verschärfen oder den Wandel beschleunigen. Was sich bereits jetzt verschoben hat, ist der Diskurs: Gewichtige zivilgesellschaftliche Akteure fordern Neuwahlen. Natürlich ist das in Kriegszeiten schwierig, aber es wäre der einzige Weg aus der Krise.

WOZ: Aber braucht es nicht mehr als einfach den Austausch der Köpfe?

Serhij Kudelia: Angesicht des Krieges und der Bedrohung, die Russland auch nach dessen Ende darstellen wird, würden Reformversuche auf Widerstand stossen: Die Leute würden sagen, dass man damit bloss den Staat schwächt. Der Präsident war gerade zu Beginn entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf: Durch seine Entscheidung, in Kyjiw zu bleiben, wurde er zum Symbol des Widerstands. Ich halte es deshalb für unwahrscheinlich, dass die Ukraine eine parlamentarische Republik wird. Was es aber sicher braucht, ist ein grösseres Gleichgewicht innerhalb des politischen Systems, eine Schwächung des Präsidentenamts.

Der in Lwiw geborene Politologe Serhij Kudelia (49) gehört zu den profiliertesten Kennern der ukrainischen Innenpolitik; zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen institutioneller Reformen und politischer Gewalt. Nach Stationen an diversen Universitäten, darunter Kyjiw und Basel, ist er derzeit ausserordentlicher Professor an der Baylor University in Texas. In seinem neusten Buch, «Seize the City, Undo the State» (Oxford University Press, 2025), verhandelt Kudelia die Rolle russischer Akteur:innen und lokaler Eliten während des Krieges im Donbas.