Opposition in der Türkei : Sie werden nicht schweigen

Nr. 13 –

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«Susma sustukça sıra sana gelecek» – an den Protesten nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu war vielerorts die alte türkische Parole zu hören: «Schweige nicht, denn wenn du schweigst, wirst du der Nächste sein.» Trotz Versammlungsverbot trauten sich Hunderttausende auf die Strassen des Landes. Das türkische Innenministerium vermeldete über 1400 Festnahmen. İmamoğlu selbst sitzt nun in Untersuchungshaft, von seinem Amt als Bürgermeister von Istanbul hat ihn Recep Tayyip Erdoğan entfernen lassen.

Der Angriff stellt einen Wendepunkt dar: Er verdeutlicht Erdoğans Bestreben, das Land nicht nur autokratisch, sondern offen diktatorisch zu regieren. Bisher konnte der Präsident gegenüber seinen Gegner:innen noch behaupten, durch Wahlen legitimiert zu sein, und mit dem konkurrierenden Oppositionsblock um die republikanische CHP zumindest den Anschein eines politischen Wettbewerbs aufrechterhalten. Die Festnahme von İmamoğlu sendet ein neues Signal: Demokratische Spielregeln existieren von nun an für gar niemanden mehr.

Stück für Stück hat Erdoğan in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Macht in der Türkei auf sich konzentriert. Er hat das politische System in ein autoritäres Präsidialsystem umgebaut. Bereits 2013 liess er die Gezi-Proteste niederschlagen, hat Korruptionsvorwürfe gegen ihn unter den Teppich gekehrt, sich Oppositioneller entledigt und den Machtkampf mit seinem langjährigen Weggefährten Fethullah Gülen gewonnen. Die Führungsriegen von Militär und Polizei sind seit dem Putschversuch 2016 mit Erdoğan-Getreuen besetzt.

Die Justiz ist in einem solchen Mass unter Erdoğans Kontrolle, dass İmamoğlu trotz abstruser Vorwürfe mit einer Haftstrafe rechnen muss. Seine Verhaftung hat ein äusserst durchsichtiges Motiv: Erdoğan fürchtet den charismatischen Politiker und dessen wachsende Popularität im Rennen um das Präsidentenamt 2028. So könnte İmamoğlu nun dasselbe drohen wie den kurdischen Spitzenpolitiker:innen Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die bereits seit acht Jahren inhaftiert sind.

Vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Tage erscheint auch der vom Ultranationalisten Devlet Bahçeli angestossene Friedensprozess mit den Kurd:innen in einem neuen Licht: Erdoğan lässt sich offenbar auf ein riskantes Manöver ein, um sich spätestens 2028 abermals zum Präsidenten zu machen. Anders ist die Gleichzeitigkeit der vermeintlichen Annäherung an die Kurd:innen und der Angriffe auf die Republikaner:innen nicht zu erklären. Das Verhältnis zwischen den Kurd:innen und den Republikaner:innen ist durch ihr unterschiedliches Verständnis von Gesellschaft, Staat und Nation nicht unbelastet. Was aber, wenn die Republikaner:innen ihre Abneigung gegenüber den Kurd:innen ablegen? Und was, wenn die Führung der prokurdischen DEM (Partei der Demokratie der Völker) aus dem Deal mit der Regierung aussteigt – im Wissen, dass es dieser nur um den eigenen Machterhalt geht?

Staatliche Gewalt ist nichts Neues in der Türkei: Linke, Kurd:innen oder Alevit:innen sind in ihrem Kampf um ein Mitspracherecht immer wieder zur Zielscheibe geworden, ebenso wie Strömungen innerhalb der CHP. Die Stille, die Erdoğan durch seine Repression zu erzwingen versucht, könnte sich lediglich als Ruhe vor einem grossen Sturm entpuppen. Seine Angst vor einer geeinten Opposition ist begründet: Die grösste Bedrohung für einen Despoten ist die Einigkeit der Unterdrückten.

Zivilgesellschaftlicher Widerstand ist in der Geschichte Anatoliens tief verwurzelt. Schon im 16. Jahrhundert widersetzte sich der Dichter Pir Sultan Abdal der Willkür der Obrigkeiten: «Warte nur, auch deine Pläne werden durchkreuzt. Dein Sultan, auf den du dich verlässt, auch er wird eines Tages gestürzt.» Der Legende nach führte seine Unbeugsamkeit zu seiner Hinrichtung. Verstummt sind seine Lieder aber bis heute nicht.