Kommentar von Andreas Fagetti: Weit, weit weg von der sozialen Realität
Neuerlich steigende Krankenkassenprämien und die ungerecht verteilten Gesundheitskosten sind Symptome eines demokratiepolitischen Problems.
Jetzt steigen also auch noch die ohnehin hohen Krankenkassenprämien – und zwar exorbitant um 8,7 Prozent (vgl. «Die wahren Kostentreiber»). Eine Reform des Krankenkassenwesens allein im Interesse der Versicherten ist unumgänglich. Nicht nur die Prämienkosten laufen für die breite Mehrheit der in der Schweiz lebenden Menschen aus dem Ruder: Inflation, steigende Mieten, stagnierende Löhne, tiefere Renten und eine fehlgeleitete Steuerpolitik zugunsten der Wohlhabenden verschlechtern die Lebensbedingungen.
Die bürgerliche Parlamentsmehrheit arbeitet allerdings seit Jahren gegen die Interessen der Bevölkerung. Das ist keine linksextreme Behauptung. Kürzlich haben zwei unverdächtige Politolog:innen, Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus, mit Verweis auf eine aktuelle Studie in einer Wahlkolumne im «Tages-Anzeiger» festgehalten: «Überwiegend sind es die Präferenzen der finanziell Bessergestellten, welche die Legislativmitglieder in konkrete, für alle verbindliche Gesetze übersetzen – und diese so der Mittelklasse und den einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ‹aufdrücken›.»
Bürgerliche Politiker:innen in Bern haben offensichtlich den Kontakt zu sozialen Realitäten verloren, die sie selbst nicht betreffen. Denn sie gehören grossmehrheitlich zu den einkommensstarken Schichten. Allein die Entschädigung für ihr Milizmandat übersteigt ein Durchschnittseinkommen deutlich. Gegen diese angemessene Entschädigung ist nichts einzuwenden. Allerdings nutzen viele Parlamentarier:innen ihre Position zur persönlichen Bereicherung. Sie lassen sich als Lobbyistinnen einer Branche oder als Verwaltungsräte zum Teil fürstlich bezahlen. Zwar müssen die Politiker:innen diese Interessenbindungen offenlegen – wie viel sie dafür kassieren, darf aber ihr Geheimnis bleiben.
Das ist das erste Problem. Aber es gibt ein weitaus schwerwiegenderes: Das Parlament befindet sich in einer Repräsentationskrise. Denn gewählt ist es nicht von Konzernen oder Branchenverbänden, sondern von den Stimmbürger:innen. Repräsentieren sollte es allein diese Menschen. Sonst ergibt Demokratie keinen Sinn. Es ist ganz simpel: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Die Parlamentarier:innen sind von der Eidgenossenschaft dafür bezahlt, sich auch ein Bild von der Wirtschaft zu machen. Dafür müssen sie sich nicht auch noch von der Wirtschaft bezahlen lassen.
Die Resultate dieses korrumpierenden Systems kann man an vielen Beispielen zeigen. Während der Coronakrise setzten sich bezahlte Lobbyist:innen für die Immobilienbranche ein. Die Reform der zweiten Säule wiederum fokussiert auf Rentenkürzungen, unterlässt es aber, die gesetzlich garantierten Gewinne von Banken und Versicherungen, die die Vorsorgegelder anlegen, zu senken. Als die Linke Anfang dieses Jahres im Parlament bei den AHV-Renten den vollen Teuerungsausgleich forderte, wurde der Antrag von bürgerlicher Seite abgebügelt.
Die SP fordert jetzt angesichts der seit vielen Jahren steigenden Krankenkassenprämien, dass «sämtliche Mitglieder des Parlaments, oder zumindest der Gesundheitskommission», keine Mandate im Gesundheitsbereich führen dürfen. Das ist begrüssenswert, aber nicht ganz ehrlich. Es gibt natürlich auch linke Parlamentarier:innen, die bezahlte Mandate führen. Die Forderung müsste konsequenterweise lauten: Parlamentsmitglieder dürfen gar keine bezahlten Mandate mehr annehmen.
Das Parlament selbst wird dieser Forderung nicht nachkommen. Der einzige Weg: Die Stimmbürger:innen müssen an der Urne darüber befinden können. Verböten die Stimmenden bezahlte Mandate, stiegen die Prämien vielleicht tatsächlich in einem vertretbaren Mass. Und auch die Renten würden – wie es die Verfassung ja eigentlich verlangt – womöglich für ein anständiges Leben für alle reichen.