Handelspolitik: Wen kümmern die Uigur:innen, wenn es ums Geschäft geht?
Die Schweiz handelt ein neues Wirtschaftsabkommen mit China aus. Dass sie die Menschenrechtslage ignoriert, hat Tradition.

«Seit über sieben Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner Familie», sagt Andili Memetkerim, «aus Angst, sie könnten wegen der Verbindung zu mir verhaftet werden.» Memetkerim ist Uigure und stammt aus der im Nordwesten Chinas gelegenen Region Xinjiang. Der Naturheilarzt und Vorsitzende des Uigurischen Vereins Schweiz kam vor 25 Jahren ins Land und setzt sich bis heute aus dem Exil für die Rechte der Uigur:innen ein. Ob seine Familie noch in Freiheit ist, weiss er nicht.
Seit 2014 hat China in Xinjiang mindestens eine Million Menschen, vorwiegend Uigur:innen, in «Umerziehungslagern» interniert. Berichte dokumentieren Zwangsarbeit, Misshandlungen, Folter, Zwangssterilisationen und die gezielte Vernichtung der kulturellen Identität. Während die USA die Vorgänge als Genozid einstufen, bezeichnet die Uno sie als mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Expert:innen sprachen 2019 von der grössten Masseninternierung einer ethnisch-religiösen Minderheit seit dem Zweiten Weltkrieg.
«Besorgter» Bundesrat
Derweil will der Bundesrat die Handelsbeziehungen mit China «intensivieren»: Er verhandelt mit dem Land über eine «Optimierung» des seit 2014 bestehenden Freihandelsabkommens (FHA). Laut einer im September veröffentlichten Medienmitteilung geht es dabei vor allem um die Ausweitung der Zollkonzessionen für Schweizer Produkte.
Artikel 54 der Bundesverfassung verpflichtet den Bund in seiner Aussenpolitik zur «Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie». In der Mitteilung zum FHA kommen Menschenrechte jedoch nirgends vor – lediglich im letzten Satz wird der Wunsch erwähnt, die Bestimmungen «zum Umweltschutz und zu den Arbeitsrechten» zu stärken. Offensichtlich haben wirtschaftliche Interessen Vorrang, eine Haltung, die in der Schweiz eine längere Tradition hat – insbesondere in Bezug auf China.
Die Schweiz erkannte 1950 als eines der ersten westlichen Länder die Volksrepublik China unter Mao Zedong an. Und 2007 war sie das erste kontinentaleuropäische Land innerhalb der Welthandelsorganisation, das China den Status der Marktwirtschaft verlieh und somit anderen Staaten den Weg für den Freihandel mit dem Land ebnete. Eine Einschätzung, die die USA und die EU bis heute nicht teilen. 2014 folgte als nächster Meilenstein das Freihandelsabkommen mit China, wiederum das erste seiner Art in Kontinentaleuropa. Seit Jahren bemüht sich die Schweiz also, ihren mächtigen Handelspartner zu hofieren.
Wie die Historikerin Ariane Knüsel und der Politikwissenschaftler Ralph Weber in ihrem Buch «Die Schweiz und China» schreiben, habe in Bundesbern in den neunziger Jahren noch viel Mitgefühl für die Notlage der Tibeter:innen unter dem chinesischen Regime geherrscht. Allerdings sei dieses «fast im Gleichschritt mit dem Zuwachs der wirtschaftlichen Bedeutung der Volksrepublik China für die Schweiz» geschwunden. Ähnliches habe für die Anhänger:innen der vom chinesischen Staat verfolgten Gruppierung Falun Gong sowie Uigurinnen oder Dissidenten gegolten, so die beiden Wissenschaftler.
2018 wurde das Ausmass der Masseninternierungen der Uigur:innen bekannt – doch erst ein Jahr später äusserte FDP-Aussenminister Ignazio Cassis seine «Besorgnis über die Situation in Xinjiang». Im März 2021 präsentierte er dann die bundesrätliche Chinastrategie für die kommenden Jahre. Darin hiess es ausdrücklich, die Menschenrechtslage in China habe sich verschlechtert und solle «in allen bilateralen und multilateralen Beziehungen mit China konsequent thematisiert werden». In dieser Zeit verhängte die EU als Reaktion auf neue Berichte über die Lage in Xinjiang Sanktionen gegen Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen; die USA, Kanada und Grossbritannien übernahmen diese umgehend. Norwegen folgte eine Woche später. Die Schweiz tat nichts.
Rein ökonomisch betrachtet, ist die «Optimierung» des FHA für die Schweiz durchaus sinnvoll. China ist mit einem Handelsvolumen von 33 Milliarden Franken ihr drittwichtigster Handelspartner. Allerdings handelt es sich um lediglich 6,7 Prozent des gesamten Schweizer Warenhandelsvolumens. Zum Vergleich: Mit der EU beträgt das Handelsvolumen 296 Milliarden Franken (59,2 Prozent), mit den USA 63,4 Milliarden (12,7 Prozent). Gemäss einer gemeinsamen Auswertung der Universität St. Gallen (HSG), der University of International Business and Economics in Peking und der Universität Nanjing von 2018 ziehen vor allem einige wenige Branchen grosse Vorteile aus den niedrigeren Zöllen im bestehenden FHA, darunter die Uhren-, die Medizintechnik- und die Maschinenindustrie.
Informationen unterdrückt
Insbesondere die Schweizer Textilmaschinenindustrie profitierte bisher zusätzlich von der – durch Zwangsarbeit angekurbelten – Textilproduktion in Xinjiang. Laut dem Nachrichtenportal «Swissinfo» war die Schweiz 2017 die grösste Exporteurin von Spindeln und Ersatzteilen für Textilmaschinen in die Region. Trotz dieser problematischen Ausgangslage hat sich die Schweiz bislang nicht verpflichtet, die jüngst von der EU beschlossene Gesetzgebung gegen Produkte aus Zwangsarbeit zu übernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erklärt auf Anfrage, der Bundesrat werde «zu einem späteren Zeitpunkt mögliche Massnahmen als Reaktion auf die EU-Verordnung zur Zwangsarbeit prüfen».
Auf die Diskrepanz zwischen den aussenpolitischen Zielen des Bundes und dem FHA mit China angesprochen, betont das Seco, die Menschenrechtsthematik werde nicht von den Verhandlungen ausgeklammert. Die Schweiz wolle «zusätzliche Bestimmungen im Einklang mit der Agenda für menschenwürdige Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO)» einführen und somit die «Verpflichtungen im Bereich der Arbeitsnormen» stärken. Das FHA gehöre zu den Instrumenten, dank derer «die Einhaltung der Arbeitsstandards und die Menschenrechte im Zusammenhang mit dem Handel gegenüber China» zur Sprache gebracht werden könnten.
Ein 2020 von der NGO Public Eye in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kam jedoch zu einem ernüchternden Fazit: «Das aktuelle FHA zwischen der Schweiz und China bietet keinerlei Gewähr, dass keine Produkte aus Zwangsarbeit in die Schweiz gelangen; sie können sogar Zollvergünstigungen erhalten.» Ob die Optimierung des FHA in diesem Bereich wesentliche Verbesserungen bringt, bleibt fraglich. Um das Abkommen nicht zu gefährden, lehnte es die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats im August mit dreizehn zu elf Stimmen ab, «zusätzliche verbindliche Menschenrechtsbestimmungen anzustreben».
Über die jüngsten Entwicklungen in Xinjiang ist wenig bekannt. Einerseits sind die Verbrechen an den Uigur:innen durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten in den Hintergrund gerückt, andererseits unterdrückt die chinesische Regierung konsequent Informationen aus der Region. Die berüchtigten Umerziehungslager wurden Medienberichten zufolge in den vergangenen zwei Jahren zwar geschlossen, doch viele Insass:innen erhielten daraufhin hohe Haftstrafen und wurden in neu errichtete Hochsicherheitsgefängnisse verlegt. Tausende Kinder inhaftierter Eltern müssen staatliche Internate besuchen, wo sie bereits ab dem Kindergartenalter «umerzogen» werden.
Diese Internate würden auch «Engelsschulen» genannt, erklärt Andili Memetkerim vom Uigurischen Verein. Über seine Kontakte wisse er, dass sich die Situation in der Region kaum gebessert habe. Nach wie vor müssten nahezu alle Uigur:innen in den Gefängnissen Zwangsarbeit leisten, die Unterdrückung in der Region dauere unvermindert an.
Anders als Memetkerim, der seit Jahren nichts von seinen Angehörigen gehört hat, weiss Abduweli Ayup, dass seine Familie zum Ziel staatlicher Repressionen wurde: Bruder und Schwester sitzen derzeit lange Haftstrafen von vierzehn respektive zwölf Jahren ab. Aus dem norwegischen Exil leitet Ayup die Organisation Uyghur Hjelp, die anderen geflohenen Uigur:innen hilft, ihre Geschichten publik zu machen. Bei einem Videogespräch berichtet er, dass es seinen Informant:innen zufolge in Xinjiang zwar weniger Polizeikontrollpunkte und Überwachung gebe als früher, die Unterdrückung der uigurischen Kultur und Sprache jedoch anhalte. Uigur:innen dürften ihre Religion nicht ausüben, es gebe weiterhin Zwangsheiraten mit Han-Chines:innen und willkürliche Inhaftierungen.
Abduweli Ayups und Andili Memetkerims Aussagen werden von Berichten von Menschenrechtsorganisationen und der Uno gestützt. Genaue Zahlen gibt es allerdings keine. Ayup sagt, er fühle sich verpflichtet, das Unrecht öffentlich zu machen, obwohl ihn seine Familie mehrfach gebeten habe, seine Arbeit einzustellen. So auch seine Nichte, sagt er mit Tränen in den Augen. 2020 kam sie im Alter von 29 Jahren in einem Internierungslager ums Leben. «Die Menschen leiden nicht nur, sie sterben», so der Aktivist.
Pekings Wording übernommen
Ralph Weber, Experte für schweizerisch-chinesische Beziehungen an der Universität Basel, erklärt, das FHA nütze China wirtschaftlich wenig, da die Schweiz ein kleiner Markt sei. Es ermögliche dem chinesischen Regime jedoch, sich als verlässlicher Handelspartner und Verfechter des Freihandels zu präsentieren. Für die Schweiz wiederum sei das Geschäft auch mit Kosten verbunden: Sie lasse sich «ein Stück weit» für dieses chinesische Narrativ instrumentalisieren. «Aber wenn es darum geht, sich Handelsvorteile zu verschaffen», sagt Weber, «ist die Schweiz, historisch betrachtet, schnell bereit, solche Erzählungen in Kauf zu nehmen.»
SP-Aussenpolitiker Fabian Molina formuliert es schärfer: «Mit dem Abkommen spielt die Schweiz Chinas ‹nützlichen Idioten›.» Statt ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, schaffe sie einen gefährlichen Präzedenzfall: Es sei kein Zufall, dass der Bundesrat als Lösung für das Menschenrechtsdilemma «Arbeitsnormen stärken» wolle und in der eingangs erwähnten Medienmitteilung lediglich von «Arbeitsrechten» spreche. Damit übernehme er das Wording Pekings – eine äusserst problematische begriffliche Verschiebung, die «voll im Interesse Chinas» liege. Nationalrat Molina fordert daher klare Menschenrechtsklauseln, Umweltstandards und den Ausschluss von Zwangsarbeit im Abkommen. «Andernfalls wird die SP das Referendum ergreifen.»
Das neue Abkommen sollte innerhalb der nächsten zwölf Monate zustande kommen, sagte der Zuger SVP-Nationalrat und Präsident der EU-Efta-Delegation Thomas Aeschi kürzlich gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Unterdessen erinnert die Haltung des Bundesrats an eine Episode aus der Vergangenheit. In ihrem Buch schildern Knüsel und Weber, wie der damalige chinesische Premierminister Li Keqiang 2013 zur Unterzeichnung des ursprünglichen FHA in die Schweiz reiste. Als acht tibetische Protestierende auf dem Bundesplatz ein «Free Tibet»-Transparent ausrollten, stürzten sich rund zwanzig Polizist:innen auf sie. Der Berner Polizeidirektor sagte im Nachhinein dazu, die freie Meinungsäusserung sei zwar sehr wichtig, aber im Moment sei die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens wichtiger gewesen.
Nachtrag vom 6. Februar 2025: Systematische Repression
Derzeit intensiviert die Schweiz die Handelsbeziehungen mit China. Dabei geht es um eine «Optimierung» des seit 2014 bestehenden Freihandelsabkommens. Ziel ist, das neue Abkommen bis Ende 2025 zum Abschluss zu bringen.
Könnten die Verhandlungen nun ins Stocken geraten? Laut Recherchen des «Tages-Anzeigers» liegt dem Bund seit längerem der Bericht einer Studie über Uigur:innen und Tibeter:innen in der Schweiz vor, die China systematisch überwacht und einschüchtert. Der Bundesrat hat den Bericht auf Druck der Gesellschaft für bedrohte Völker und im Auftrag des Parlaments extern in Auftrag gegeben.
Eigentlich wollte er ihn Anfang Jahr veröffentlichen, nachdem es schon zuvor zu Verzögerungen gekommen war. Nun aber wird der Termin weiter verschoben. Laut den Quellen, auf die sich der «Tages-Anzeiger» stützt, soll das dokumentierte Ausmass der chinesischen Repression von Tibeter:innen und Uigur:innen in der Schweiz erheblich sein. Die Ergebnisse des Berichts werden demnach sowohl im Wirtschaftsdepartement von Guy Parmelin wie auch im Aussendepartement von Ignazio Cassis als überaus heikel eingestuft. Offenbar will man China in dieser entscheidenden Phase der Verhandlungen nicht verärgern.
Derweil wartet das Parlament auf den Bericht. Wann und in welcher Form dieser letztlich tatsächlich vorliegen wird, ist unklar. Nicht nur soll der Autor der Studie vom Bund den Auftrag erhalten haben, Anpassungen vorzunehmen. Auch habe der Bundesrat den Entwurf seines eigenen Berichts zuhanden des Parlaments überarbeiten lassen. Inwieweit die brisanten Erkenntnisse der Studie Einfluss auf die Haltung der Schweiz gegenüber China und auf die Situation der Uigur:innen und Tibeter:innen haben werden, bleibt daher offen.