Europa und der Lohnschutz: Plötzlich Euphorie

Nr. 9 –

Zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften herrscht eine ungewöhnliche Harmonie. Das hat nicht nur mit der Wichtigkeit des EU-Abkommens zu tun – sondern auch mit der SVP.

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protestierende Bauarbeiter mit Unia-Fahnen
Ohne sie darf nicht verhandelt werden: Tausende Bauarbeiter protestierten im November 2022 für bessere Arbeitsbedingungen. Foto: Michael Buholzer, Keystone

Lange blieb der Wirtschaftsminister zu den Verhandlungen über den Lohnschutz auf Sicherheitsabstand – jetzt, wo sich ein Erfolg abzeichnet, sind sie plötzlich Chefsache. «Unter der Leitung von Bundesrat Guy Parmelin» hätten sich die Sozialpartner und die Kantone auf Massnahmen zur Absicherung des Lohnschutzniveaus geeinigt, liess Parmelin vor einer Woche mitteilen. Es klang schon ziemlich feierlich dafür, dass die Verhandlungen noch im Gang sind.

Tatsächlich scheinen wichtige Stolpersteine auf dem Pfad zum Bilaterale-III-Abkommen mit der EU aus dem Weg geräumt. Lösungen zeichnen sich demnach für die eher technischen Probleme bei der Wahrung des Lohnschutzes ab. Darunter fällt etwa die Sperre für fehlbare Firmen, die die EU so nicht kennt. Auch die von acht auf vier Tage verkürzte Voranmeldefrist für aus der EU in die Schweiz entsandte Angestellte soll mit neuen digitalen Tools und reduziertem Einsatz von Faxgeräten bewältigt werden können.

Doch die eigentliche Überraschung der Gespräche: dass der Arbeitgeberverband bei den Gesamtarbeitsverträgen, die wichtig für die Absicherung von Mindestlöhnen sind, einen Schritt auf die Gewerkschaften zugegangen ist. Bei den bestehenden GAVs sollen die Schwellen sinken, ab denen sie bei einer Verlängerung für allgemeingültig erklärt werden. Schon heute werden diese Quoren häufig unterlaufen, weshalb GAVs nur mit Ausnahmebestimmungen verlängert werden können. Seit zehn Jahren sei das Problem erkannt, sagt Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands, ohne dass man vom Fleck gekommen sei. «Was neu ist», sagt Müller, «ist das Interesse des Bundes, hier eine Lösung zu finden.» Oder anders gesagt: Kaum kommt Parmelin in die Gänge, gehts vorwärts.

Doch auch das Interesse des Arbeitgeberverbands an einer Verbesserung des Lohnschutzes ist neu. Offenbar hat eine Annäherung an die Gewerkschaften stattgefunden. Müller betont im Gespräch auffallend oft den «gemeinsamen Nenner» oder «die gleiche Grundhaltung», wenn es um die Beziehungen zu Europa und um die Wichtigkeit der flankierenden Massnahmen geht. «Deren Weiterentwicklung ist im Grundsatz unbestritten. Die Gewerkschaften und wir haben das gleiche Verständnis der Situation», sagt Müller. Man traut seinen Ohren kaum.

Minimal und maximal

Wie weit die Euphorie trägt, bleibt unklar. Keine Einigung gibt es bei der Forderung, auch neue GAVs leichter für allgemeingültig erklären zu können. Auch eine konsolidierte Meinung innerhalb des Arbeitgeberverbands fehlt. Dort gibt es Widerstände: Der Industrieverband Swissmem, die Baumeister, der SVP-nahe Gewerbeverband wollen den Gewerkschaften keinen Millimeter entgegenkommen.

Auch auf Nico Lutz, Geschäftsleitungsmitglied der Unia, warten schwierige interne Debatten, sollte man hinter den eigenen Forderungen zurückbleiben: «Aber man setzt sich nun mal nicht überall durch.» Die Gewerkschaften seien in einer guten Position in den Verhandlungen, so Lutz. «Wer ein Abkommen will, muss sich auf uns zubewegen.» Aber: Die Lösung müsse von den Arbeitgebern mitgetragen sein, sonst werde sie im Parlament abstürzen. «Wenn es eine Lösung gibt, dann eine, die für die Gewerkschaften minimal notwendig und für die Arbeitgeber maximal möglich ist.»

Die allgemeine Kompromissbereitschaft dürfte nicht nur mit den Bilateralen III zusammenhängen, sondern auch mit der Drohkulisse der sogenannten SVP-Nachhaltigkeits-Initiative: Sie verlangt die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU, sollte die Schweiz mehr als zehn Millionen Einwohner:innen aufweisen. Die Initiative kommt vermutlich in einem Jahr, also noch vor den Bilateralen III, vor die Bevölkerung. Roland A. Müller glaubt an eine tragfähige Allianz gegen die SVP-Initiative: «Die Gewerkschaften und wir können den Weg gemeinsam gehen – im Kampf gegen die Nachhaltigkeits-Initiative zudem im Verbund einer Allianz von Links bis Mitte-Rechts.»

Den Zusammenhang sehen

Weniger optimistisch ist Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds: «Gerade aufseiten der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände erkenne ich noch zu wenig Bewusstsein dafür, dass beide Geschäfte die Öffnung der Schweiz gegenüber der EU betreffen und somit zusammenhängen.» Aber auch der Bundesrat scheint den Zusammenhang nicht verstanden zu haben. Ende Januar präsentierte er ein Massnahmenpaket gegen die SVP-Initiative, das vor allem aus neuen Schikanen im Asylwesen besteht. Lampart ist verärgert: «Statt dafür zu sorgen, dass die Früchte des Wohlstands und der Öffnung der Schweiz bei allen ankommen, hat er ein in sozialer Hinsicht klapperdürres Massnahmenpaket verabschiedet.» Bis Anfang April muss der Bundesrat die Botschaft zur Initiative vorlegen. Für Lampart müssten darin mehr soziale Massnahmen berücksichtigt werden als bis jetzt kommuniziert. «Eine Öffnung muss der Bevölkerung nützen.» Sonst, so die Folgerung daraus, bringt auch die stärkste Allianz nichts.