Verkehrspolitik: Verdrehung des «Volkswillens»
Eine rechtsbürgerliche Allianz will das Nein zum Autobahnausbau aushebeln. Zum Beispiel in der Ostschweiz – und in Bundesbern.

Gigantische Projekte wären in der Ostschweiz realisiert worden, hätten die Stimmbürger:innen die Autobahnvorlage des Bundes am 24. November nicht versenkt. In Schaffhausen war die «Engpassbeseitigung A4 Schaffhausen-Süd–Herblingen» geplant, ein Ausbau auf vier Spuren, mitten in der Stadt. In St. Gallen sollten ein weiterer Zubringer in die Stadt und eine direkte Anbindung der Agglomeration im Appenzellerland ans Autobahnnetz entstehen. Projekte, die nun vom Tisch sind – oder etwa nicht?
Vier Monate nach dem Autobahn-Nein bläst in der Ostschweiz eine Allianz aus Politiker:innen und Verbänden zum Gegenangriff. Lanciert hat sie ihn Anfang März öffentlichkeitswirksam mittels Pressekonferenz. Die Kantone St. Gallen, Thurgau, beide Appenzell und Schaffhausen hätten geschlossen Ja gesagt zum Autobahnausbau, postulierten Vertreter:innen von SVP, FDP und Mitte sowie etwa des Hauseigentümerverbands, der Industrie- und Handelskammer und des Automobilclubs Schweiz. Folglich müssten die hiesigen Ausbauten zum Abschluss gebracht werden. Zudem seien zwei weitere langfristig angedachte Ausbauprojekte – der Zubringer Appenzellerland und die Bodensee-Thurtal-Strasse – mit «Priorität» zu berücksichtigen.
«Kein Votum gegen Autobahnen»
Es ist ein bemerkenswert demokratiefeindlicher Auftritt der Ostschweizer Autoallianz, zu deren führenden Köpfen Walter Locher zählt, ehemaliger St. Galler FDP-Kantonsrat und Präsident der IG Engpassbeseitigung. «Man darf das Ergebnis vom 24. November nicht missverstehen als ein generelles Votum gegen neue Autobahnen», sagt er. Von den vielen Projekten, die beim Strassennetz und beim öffentlichen Verkehr in Planung seien, habe die Stimmbevölkerung einfach zu einem Paket Nein gesagt. «Jetzt müssen wir beide Bereiche neu evaluieren und schauen, welches die optimalen Projekte sind.»
Die Ostschweizer Allianz hat in ihren Kantonsparlamenten Standesinitiativen auf den Weg gebracht, mittels derer man die eigenen Projekte in Bern wieder aufs Tapet bringen will. Den Abstimmungswillen der Städte St. Gallen und Schaffhausen, die deutlich gegen die Autobahnanschlüsse auf ihrem Gebiet stimmten, wischt Locher weg. Die Stadt St. Gallen habe 2016 schliesslich eine Initiative abgelehnt, die den Verzicht auf den Anschluss beim Güterbahnhof verlangt habe. «Dazu sagte die Stadtbevölkerung deutlich Nein, und die Stimmbeteiligung war zwanzig Prozent höher, weshalb für mich dieses Resultat mehr Gewicht hat.»
Für Peter Olibet, Kopräsident der städtischen SP, ist diese Argumentation «eine komplette Verdrehung der Tatsachen». Die städtische Initiative habe in der Gemeindeordnung festschreiben wollen, dass sich die Stadt gegen jegliches Autobahnprojekt auf dem Areal Güterbahnhof einsetzen müsse. «Das ging damals der Mehrheit zu weit, oder man befand es für das falsche Mittel. Aber je konkreter das Autobahnprojekt in St. Gallen ausgestaltet wurde, etwa mit dem direkten Anschluss ins Appenzellerland, desto stärker wurde der Widerstand.» Zudem sei seit 2016 auch das Bewusstsein für den Klimawandel gewachsen. Die Forderungen der Autobahnallianz seien eine «Trotzreaktion», man wolle nach der Abstimmungsniederlage «die Städte wieder aushebeln».
Röstis Plan
Locher und seine Mitstreiter:innen wollen indes weitermachen, als wäre nichts passiert – und geben dabei das Bild verkehrspolitischer Konterrevolutionär:innen ab. Die Allianz sei den jeweiligen Kantonsparlamenten entsprungen, erklärt Locher. Ihre Argumentation lässt sich aber auch als deutliches Echo dessen lesen, was wenige Wochen zuvor in Bern von höchster Stelle verkündet worden war.
Es war der Verkehrsminister höchstpersönlich, der der ostschweizerischen Autobahnallianz Ende Januar eine Steilvorlage lieferte. An einer Medienkonferenz präsentierte Albert Rösti sein Projekt «Verkehr ’45», in dessen Rahmen ETH-Professor Ulrich Weidmann Hunderte aktuell vorliegende Verkehrsinfrastrukturprojekte des Bundes einer Überprüfung und Priorisierung unterziehen wird. Und zwar, so Rösti, «einschliesslich der sechs vom Volk abgelehnten Projekte aus dem Ausbauschritt 2023». Das geschehe «natürlich absolut unter Achtung des Volksentscheids», behauptete er, denn das Verdikt vom 24. November sei «nicht für die einzelnen Projekte» gefällt worden. Als hätte dieser Urnengang bestenfalls appellatorischen Charakter gehabt.
Rösti will im Nachgang der Autobahnabstimmung nicht nur Strassen- und Agglomerations-, sondern gleich auch sämtliche vom Parlament beschlossenen Schienenprojekte neu evaluieren. Auch das eine eklatante Verdrehung der Bevölkerungsmeinung. Die Mehrheit hat Bahnausbauten stets unterstützt. Rösti behauptet jedoch, es bestehe dringender Priorisierungsbedarf, seit im Herbst bekannt geworden sei, dass die Kosten der in den nächsten Jahrzehnten geplanten Projekte um Milliarden Franken höher lägen als bislang budgetiert. Während sich bei den Nationalstrassen die Frage stelle, welche Projekte «überhaupt mehrheitsfähig» seien, stelle sich bei den Schienenprojekten die Frage der Realisierbarkeit.
Kurzerhand stellt der Verkehrsminister damit den demokratischen Entscheid gegen den Autobahnausbau in einen direkten Zusammenhang mit den technischen und finanzpolitischen Herausforderungen in der Bahninfrastruktur. Zwar nicht in budgettechnischer Hinsicht, denn die Finanzierung von Bahn- und Strasseninfrastruktur ist mit dem BIF und dem NAF über zwei verschiedene Fonds geregelt. Sein Ziel sei aber, so sagte Rösti, «dass es gleichzeitig diskutiert wird». Dass also das Parlament künftige Ausbauschritte für Schiene, Strasse und Agglomeration nicht mehr zeitverschoben berät.
Was von Röstis Departement als «moderne, gesamtheitliche und verkehrsträgerübergreifende Planung» beworben wird, hat Gefahrenpotenzial. In welcher Form Verkehrsprojekte künftig vorgelegt werden, darauf wollte Rösti sich noch nicht festlegen; nicht ausgeschlossen ist aber das Szenario, dass einzelne Regionen notwendige ÖV- und Schienenprojekte vom Parlament dereinst nur zugesprochen bekommen, wenn sie gleichzeitig unbeliebte Strassenausbauten schlucken. Auch Röstis überaus freihändige Interpretation der Niederlage vom November lässt wenig demokratisches Gehör erahnen: «Die Projekte für die Nationalstrasse wirkten offensichtlich unausgewogen und teils zu umfangreich», sagte er. In anderen Worten: Nicht alle Landesteile hätten vom Ausbauschritt gleichermassen profitiert, und man habe vielleicht etwas übertrieben.
Dabei haben zwei Nachwahlbefragungen übereinstimmend gezeigt, dass bei einem Grossteil der Nein-Stimmen Umweltanliegen das Hauptmotiv waren. «Der 24. November war eine verkehrspolitische Zäsur», sagt Silas Hobi, Geschäftsleiter des Vereins Umverkehr. «Die Bevölkerung will grundsätzlich keinen Ausbau der Autobahn.» Man werde die Situation «jetzt als Chance nutzen für die zukünftige Infrastrukturplanung», sagt Rösti aber unverblümt. Als Chance, um einen Abstimmungsentscheid und demokratisch beschlossene Bahninvestitionen in einem Wisch zu delegitimieren?
Festgefahrenes Parlament
Dass das Demokratieverständnis in Bundesbern gerade in Umwelt- und Verkehrsfragen dehnbar ist, ist nicht neu. Das zeigte sich auch im vergangenen Jahr, als das Parlament einen Angriff auf lokale Tempo-30-Limiten lancierte. Oder als der Bundesrat seine Sparwut auf die Klimapolitik lenkte.
Tatsächlich reichen die Kontinuitäten noch weiter zurück: bis in die siebziger Jahre, als Umweltanliegen erstmals den Weg aufs politische Parkett fanden. Seither lasse sich eine beachtliche Diskrepanz zwischen Parlamentsentscheiden und Abstimmungsresultaten nachverfolgen, sagt Politologe und VCS-Projektleiter Edward Weber. Gegen dreissig Abstimmungen seit 1977 hat er analysiert, und es lasse sich ein deutliches Muster erkennen: «Vor allem der Ständerat, aber in geringerem Ausmass auch der Nationalrat positioniert sich in Sachfragen in den meisten Fällen deutlich auto- und weniger umweltfreundlich als die Stimmbevölkerung.» Die Abweichung betrug oft viele, mitunter entscheidende Prozentpunkte: Davon zeugen etwa die Alpen- und der Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative, die gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen respektive abgelehnt wurden.
Über die Gründe für die anhaltende Diskrepanz lässt sich spekulieren. Auf jeden Fall aber ist Vorsicht geboten, wo immer Autopolitiker:innen «den Volkswillen» für sich und ihre Sache in Anspruch nehmen.