Zweistaaten-Diskussion: Lösung durch Teilung?

Nr. 32 –

Mit Frankreich, Grossbritannien und Kanada wollen erstmals auch G7-Staaten Palästina als Staat anerkennen. Welche Geschichte hat die Forderung? Und ist sie heute mehr als Symbolpolitik? Einschätzungen aus Jerusalem und Ramallah.

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Jitzhak Rabin, Bill Clinton und Jassir Arafat im Jahr 1993
1993: Jitzhak Rabin, Bill Clinton und Jassir Arafat. Foto: Imago

Um grosse Worte war Emmanuel Macron selten verlegen. «Frieden ist möglich», verkündete der französische Präsident vor zwei Wochen, «es gibt keine Alternative.» Bezogen waren die Aussagen auf Israels Krieg in Gaza, und begleitet wurden sie von einer aufsehenerregenden Ankündigung: «Ich habe entschieden, dass Frankreich den palästinensischen Staat anerkennen wird», schrieb Macron. Neben einer Waffenruhe, der Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln sowie «massiver» humanitärer Hilfe für Gaza forderte er eine Demilitarisierung der Hamas.

Offiziell machen will Macron seinen Entscheid erst bei der Uno-Vollversammlung im September – schon jetzt aber hat er eine Dynamik in Gang gesetzt. Was bei der israelischen Regierung und ihrem Hauptverbündetem, den USA, auf Empörung stiess, löste andernorts Zuspruch aus. Sollte Israel nicht die humanitäre Lage in Gaza verbessern, in eine Waffenruhe einwilligen, von einer Annexion der Westbank absehen und Schritte in Richtung einer Zweistaatenlösung unternehmen, werde Grossbritannien Palästina anerkennen, drohte Premier Keir Starmer. Eine Anerkennung Palästinas stellten auch Kanada, Portugal und Malta in Aussicht.

Damit ist die lange totgesagte Zweistaatenregelung wieder auf die Traktandenliste der internationalen Diplomatie gelangt. Aber was bezwecken Macron und seine Mitstreiter:innen? Und welche Folgen hätte eine Anerkennung Palästinas?

Drei Kriterien

Muriel Asseburg, Nahostexpertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, hat die Region seit Jahrzehnten im Blick – und entsprechend viele Versuche scheitern gesehen, den Israel-Palästina-Konflikt beizulegen. Die derzeitigen Vorstösse hätten drei Hauptziele, sagt sie: Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um die humanitäre Situation in Gaza zu verbessern; Israels Annexionsplänen für die Westbank und den Gazastreifen etwas entgegenzusetzen; wieder eine Perspektive für die Beilegung des Konflikts zu schaffen.

Zwar sind Frankreich, Grossbritannien und Kanada die ersten G7-Staaten, die Palästina anerkennen, eine Ausnahme bilden die drei Länder damit aber keinesfalls: Von den 193 Uno-Mitgliedern betrachten 147 Palästina als souveränen Staat – darunter die meisten Länder des Globalen Südens, mit Russland und China auch zwei Vetomächte des Sicherheitsrats. Zurückhaltend waren vor allem westliche Staaten, wobei Spanien, Norwegen, Irland und Slowenien den Schritt letztes Jahr machten, Schweden bereits 2014. Eine andere Position nimmt die Schweiz ein: Zwar spricht auch sie sich für eine Zweistaatenlösung aus; Palästina anerkennen will der Bundesrat aber erst im Anschluss an «konkrete Massnahmen» zu deren Umsetzung.

Für die Existenz eines Staates sei die Anerkennung durch andere Länder keine Voraussetzung, sagt Ralph Janik, Völkerrechtler an der Sigmund-Freud-Universität in Wien. «Sie bestätigt diese Existenz lediglich.» Juristisch machten drei Kriterien einen Staat aus: ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt mit effektiver Kontrolle über dieses Gebiet. Eindeutig umrissene Grenzen sind laut Janik hingegen nicht notwendig. «Die Frage ist: Gibt es Menschen, die dauerhaft auf einem Gebiet leben?»

In Palästinas Fall ist primär die Staatsgewalt umstritten. Als solche kommt derzeit einzig die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) infrage. «Diese kann zwar mit anderen Staaten in Beziehung treten», erklärt Janik, «sie hat aber kein Gewaltmonopol im Inneren, weil Israel sowohl in Gaza als auch in der Westbank die Besatzungsmacht ist.» Der Fall Palästina sei also dahingehend speziell, dass es mehrheitlich als Staat anerkannt werde, «de facto aber nicht besteht, weil es keine souveräne Staatsgewalt hat». Dennoch könne eine Anerkennung konkrete Folgen haben, sagt der Jurist: die Eröffnung einer Botschaft oder die Möglichkeit, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen, etwa über Visaabkommen oder Investitionen.

Nahostexpertin Asseburg sieht in Frankreichs Vorstoss – unabhängig von den völkerrechtlichen Folgen – ein «wichtiges politisches Signal»: «Auch wenn ein Ende der humanitären Katastrophe und die Freilassung der israelischen Geiseln jetzt natürlich absolute Priorität haben, ist es sinnvoll, bereits über den nächsten Schritt nachzudenken. Will man Gaza nach dem Krieg stabilisieren, braucht es eine Perspektive.» Das Pochen auf eine Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967 stelle dem israelischen Siedlungs- und Annexionsprojekt eine Alternative gegenüber. «Aber natürlich muss eine solche Ankündigung mit konkreten Massnahmen unterfüttert werden.»

Wie aber könnten diese aussehen? Ein möglicher Schritt ist laut Asseburg der Importstopp von in Siedlungen hergestellten Produkten, wie ihn Irland beratschlagt; denkbar wären aber auch Sanktionen gegen jene, die die Annexion der Westbank vorantreiben. Die Niederlande etwa haben kürzlich Einreiseverbote gegen die rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich verhängt. Zur Anerkennung Palästinas zwingen könne man Israel nicht. «Aber man kann die Regierung viel deutlicher als bislang vor die Alternative stellen: entweder ein Weg nach vorne mit einer international abgestützten Zweistaatenlösung, Sicherheitsgarantien und Israels Integration in die Region – oder eine immer stärkere internationale Isolation», so Asseburg.

Dass sich die israelische Regierung mit Rückendeckung der USA gegen eine Zweistaatenlösung stemmt, ist die grösste Hürde. Sie verfolgt gegenteilige Ziele: Soeben hat Premier Benjamin Netanjahu die Annexion des gesamten Gazastreifens angekündigt. Ohne Druck aus Washington wiederum dürften die Vorstösse der anderen Staaten nur wenig ausrichten. Aber auch davon abgesehen sind viele Fragen offen, etwa, wer die Palästinenser:innen künftig politisch vertreten soll: Während die Terrororganisation Hamas als Verhandlungspartnerin nicht infrage kommt, wird die PA mit dem 89-jährigen Mahmud Abbas an der Spitze von vielen Palästinenser:innen nicht als geeignet angesehen.

Umso bemerkenswerter, dass bei einer Uno-Konferenz zur Zweistaatenlösung von letzter Woche mehrere arabische Staaten ein Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza forderten und eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel in Aussicht stellten. Auch schlossen sie sich der Abschlusserklärung an, in der konkrete Schritte hin zu einer Regelung formuliert werden. Darunter sei auch eine Reform der PA, sagt Asseburg. Diese sowie regelmässige Wahlen brauche es, damit sie in der eigenen Bevölkerung wieder Legitimität bekomme.

So wacklig wie die internationale Unterstützung ist aber auch die Akzeptanz einer Zweistaatenregelung bei den Betroffenen. In den letzten Jahren – und erst recht nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und Israels Krieg in Gaza – hat die Zustimmung immer mehr abgenommen: Kaum eine:r in der Region glaubt noch an eine Umsetzung. Wie also werden die Vorstösse aus Paris, London und Ottawa dort wahrgenommen?

Auf Augenhöhe

Anruf in Jerusalem bei Historiker Moshe Zimmermann, seit Jahren ein scharfer Kritiker der Netanjahu-Regierung. Die Vorstösse seien «eine Art Protest» gegen Israels Palästinapolitik, sagt er – und als solche zu begrüssen. «Die Gründung eines palästinensischen Staates bringen sie aber nicht näher.» Entscheidend sei ohnehin etwas anderes: dass man die Palästinafrage nicht mehr vergesse. Lange Zeit sei sie vom Tisch gewesen, Netanjahu habe nicht verhandeln wollen, auch die USA hätten seit 2014 ihre Bemühungen aufgegeben – und die europäischen Staaten auf die USA gewartet, um nicht aktiv werden zu müssen. «Es ist eine tragische Tatsache, dass es den 7. Oktober brauchte, um das Thema wieder aufs Tapet zu bringen», so der 81-Jährige, der als prominenter Verfechter der Zweistaatenlösung gilt – einem Konzept mit einer so langen wie tragischen Geschichte.

Ihren Anfang nahm die Auffassung, der Konflikt um das Land zwischen Jordanfluss und Mittelmeer könne nur mit der Schaffung zweier gleichwertiger Staaten beigelegt werden, vor bald achtzig Jahren mit einer Uno-Resolution: Im November 1947 präsentierten die neu gegründeten Vereinten Nationen einen Teilungsplan für Palästina, der von den arabischen Staaten abgelehnt wurde. So entstand nach dem Ende des britischen Mandats ein jüdischer, nicht aber ein palästinensischer Staat. Im anschliessenden Krieg, den die arabischen Staaten begonnen, aber verloren haben, wurden 700 000 Palästinenser:innen vertrieben – im kollektiven Gedächtnis der Palästinenser:innen als Nakba in Erinnerung. Nach dem Sechstagekrieg 1967 wurden die palästinensischen Gebiete, die sich seit 1949 unter der Verwaltung Jordaniens und Ägyptens befanden, von Israel besetzt.

Am nächsten war man einer Zweistaatenlösung nach dem Ende des Kalten Kriegs. «Der grosse Durchbruch kam mit dem Oslo-Prozess», sagt Historiker Zimmermann. Noch immer präsent sind vielen die Bilder vom September 1993: Unter der Ägide des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton schrieben Jassir Arafat, der Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), und Israels sozialdemokratischer Premier Jitzhak Rabin die gegenseitige Anerkennung und die friedliche Koexistenz in einem Abkommen fest – und legten damit die Basis für Verhandlungen.

Zwei Jahre später – nachdem das zweite Oslo-Abkommen Israels Rückzug aus den besetzten Gebieten festgehalten hatte – wurde Rabin von einem rechtsradikalen Israeli erschossen. In den folgenden Jahrzehnten liessen Israels Siedlungspolitik und der Terror palästinensischer Extremisten jede Lösung in weite Ferne rücken. In Gaza kam die Hamas an die Macht, die Israels Existenz nicht anerkennt und somit die Zweistaatenlösung prinzipiell ablehnt. «Seither ist die Kluft zwischen den beiden Bevölkerungen immer tiefer geworden, die israelische Regierung immer weiter nach rechts gerückt», resümiert Zimmermann. Die Mehrheit der israelischen Jüdinnen und Juden sei heute gegen eine Zweistaatenlösung.

Zimmermann bezeichnet sie dennoch als «alternativlos»: «Entweder gibt es Verhandlungen, die zu einem friedlichen Nebeneinander führen – oder einen ewigen Krieg.» Ausgehend von einer Akzeptanz Palästinas, könne man über die Umsetzung sprechen: ob es zwei Staaten, einen gemeinsamen oder eine Föderation geben soll. «Am wichtigsten ist es, die Palästinenser:innen als Partner:innen auf Augenhöhe zu sehen und nicht nur mit Israel, sondern auch mit ihnen über eine zukünftige Regelung zu verhandeln.»

Ein Update des Plans

Rula Hardal sieht abgekämpft aus, als sie sich aus Ramallah per Videocall meldet. «Es war ein langer Tag», entschuldigt sie sich. Was hält sie, die sich seit Jahren für die Selbstbestimmung der Palästinenser:innen einsetzt und mit der jüdisch-israelischen Aktivistin May Pundak die Initiative «A Land for All» leitet, von der Diplomatieoffensive? Natürlich sei es gerade jetzt symbolisch wichtig, die kollektiven Rechte der Palästinenser:innen anzuerkennen, sagt Hardal. «Aber es ist nicht genug.»

«Im Vorstoss spiegelt sich ein Mangel an seriösem politischem Willen: «Statt ihre langjährige Komplizenschaft mit Israel aufzulösen und darauf hinzuarbeiten, dass die Bestrafung aller Palästinenser:innen für den 7. Oktober ein Ende hat, wählen sie den einfachsten Weg», kritisiert die Politologin. «Wir Palästinenser:innen haben diese symbolischen Schritte satt: Was nützen sie, wenn sie nicht in der Lage sind, den Tod eines Kindes in Gaza zu verhindern oder die Palästinenser:innen in der Westbank zu schützen?» Auch an der Zweistaatenlösung lässt Hardal kein gutes Haar. «Man kann nicht etwas, das vor dreissig Jahren aufgegleist wurde, aus der Schublade holen und behaupten, es brauche kein Update», so die 51-Jährige. Ohnehin seien die grossen historischen Streitpunkte in den Oslo-Verträgen ausgeklammert worden: der Anspruch beider Seiten auf Jerusalem als Hauptstadt, die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland sowie das Rückkehrrecht von Nachfahr:innen der durch die Nakba Vertriebenen.

Hardal und ihre Mitstreiterin Pundak gehören zu jenen, die sich um ein Update des Plans von damals bemühen. Was beiden vorschwebt, ist eine Föderation zweier Staaten – mit offenen Grenzen für Menschen und Waren und einem EU-ähnlichen supranationalen Gefüge, das gemeinsame Fragen regelt – von der Wirtschaft über Herausforderungen der Klimakrise bis zum Zugriff auf die natürlichen Ressourcen. «Unser Ausgangspunkt ist die Anerkennung der binationalen Realität, die jüdische Israelis und Palästinenser:innen miteinander verbindet: dass es keine Lösung durch Teilung geben kann», sagt Hardal. Zugleich könne man aber nicht von einem demokratischen Staat für alle sprechen, wie ihn viele Linke und Intellektuelle in der Diaspora forderten – auf beiden Seiten gebe es zu starke nationalistische Gefühle. «Wir wollen etwas schaffen, das beiden Bevölkerungen dient – und die Sackgassen von Oslo überwinden.»

Niemand verspreche, es gebe «schon morgen» eine Lösung oder es werde einfach. Die Alternative sei weiterzumachen wie bisher: «Eine Tragödie für beide», betont Hardal. Ihre Initiative hat zuletzt Auftrieb erhalten. Im April riefen Intellektuelle um Ökonom Thomas Piketty die EU zur Unterstützung eines Modells im Sinne von «A Land for All» auf. Und auch auf dem diplomatischen Parkett ist der Vorschlag angekommen: Im September, wenn Emmanuel Macron die Anerkennung Palästinas bei der Uno offiziell verkündet, werden auch die Initiant:innen in New York sein.