Quantenphysik: Die Zukunft wird nonbinär
Was hat es mit der Welt der Quantenphänomene zu tun, wenn uns die aktuelle Weltlage dazu drängt, die Wirklichkeit neu zu denken? Überlegungen anhand einer Ausstellung im Haus der elektronischen Künste Basel.

Sie kommt auf leisen Pfoten daher, anders als Chat GPT und der mit der Sprach-KI ausgelöste Lärm um künstliche Intelligenz – dabei gehört das Wissenschaftsjahr 2025 doch eigentlich ihr, so will es zumindest die Uno: Vor hundert Jahren revolutionierte die Quantenmechanik nichts weniger als das Verständnis von Natur und Realität, wie sie die klassische Physik bis dato beschrieben hatte. Denn im Mikroraum der Teilchen sind die Gesetze von Ursache und Wirkung, von Logik und Vorhersehbarkeit aufgehoben. Im Universum der Quantenphysik regieren stattdessen Zufall und Mehrdeutigkeit. Was ziemlich treffend den aktuellen Zustand der Welt umschreibt.
Doch was heisst Zustand? Im Singular gibt es ihn gar nicht in der Welt der Quanten, dort existieren einzelne Teilchen in verschiedenen Zuständen gleichzeitig. «Überlagerung» wird das Phänomen genannt. Ein Elektron, das gleichzeitig links- und rechtsherum dreht, sich auf verschiedenen Energieniveaus befindet oder an mehreren Orten gleichzeitig? Und, wer weiss, vielleicht sogar in mehreren Welten parallel, im sogenannten Multiversum?
Die Pfoten, die uns diese Welt erschliessen sollen, gehören einer Katze, Schrödingers Katze, um genau zu sein. Mit einem Gedankenexperiment veranschaulichte der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger 1935 einerseits die wichtigsten Prinzipien aus der Welt der Quanten – und führte diese gleichzeitig ad absurdum. Dafür steckte Schrödinger eine Katze in eine Box, die sinnbildlich für den Quantenraum steht, zusammen mit einer Art «Zeitbombe», einem radioaktiven Atom, das beim Zerfall einen Mechanismus auslöst, der die Katze tötet. Sobald man den Deckel öffnet und hineinblickt, wird der Zustand der Katze eindeutig, sie ist entweder tot oder lebendig. Es ist ein Schlüsselprinzip der Quantenwelt: Immer wenn man hinschaut respektive misst, gibt es nur noch einen Zustand – mathematisch ausgedrückt ist es der Wert 0 oder 1 –; aber beim nächsten Hinschauen kann er schon wieder gewechselt haben. Ist die Box jedoch zu, ist es ungewiss, ob die Katze tot oder lebendig ist – womöglich ist sie sogar beides.
Aber vielleicht ist es ja bereits eine neue, parallele Welt, in die wir blicken, mit einer identischen Katzenkopie drin? Sicher ist nichts, doch berechnen lässt es sich trotzdem, wie Schrödinger mit der nach ihm benannten Gleichung bewies. Was berechnet werden kann in der Welt der Quanten, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis eintritt, sobald man misst. Und das bedeutet wiederum, dass die Messung das System beeinflusst – oder anders formuliert: Wir als Beobachter:innen sind direkt in die Frage verstrickt, ob die Katze tot oder lebendig ist.
Psychedelisches Weltverständnis
Die Welt der Quanten wirft viele philosophisch interessante Fragen auf, die auch an aktuelle weltpolitische Unsicherheiten und daraus erwachsende Zukunftsängste rühren – zumal sie unser Vorstellungsvermögen immer wieder übersteigt. Mit der neuen Ausstellung «Quantum Visions. Erkundungen des Unbestimmten» versucht sich das Haus der elektronischen Künste (HEK) Basel als Vermittlerin mit aufklärerischem Anspruch: Die präsentierten Kunstwerke sollen Quantenphänomene nicht nur visuell und akustisch übersetzen, sondern den subatomaren Raum der Quanten auch sinnlich erfahrbar machen und uns so mit erweiterter Wahrnehmung für die uns umgebende Welt entlassen.
Das ist erst einmal seriös und sorgfältig umgesetzt, will heissen, wissenschaftlich fundiert. Viele der Künstler:innen haben sich intensiv mit Quantenphysik auseinandergesetzt. Manche gastierten an Laboratorien wie dem Cern in Genf, andere arbeiteten für die künstlerische Umsetzung mit Quantenwissenschaftler:innen zusammen oder kommen ursprünglich gar selbst aus der Quantenforschung, wie Libby Heaney aus London, die in ihrer Installation «Nibble My Multiverse» digitale Animationen sich überlagernder Bilder mit Spoken Word mischt und darin Live-Webcam-Übertragungen aus dem Publikum integriert. Dabei arbeitet sie mit eigens entwickelten Motiven wie Schleim oder Oktopustentakeln, um Quantenphänomene zu visualisieren. Im Verlauf der Inszenierung entspinnt sich so eine multiperspektivisch-fluide Form der Trauerarbeit, die um Heaneys verstorbene Schwester kreist.
Andere Werke der Ausstellung bleiben hingegen in der Übersetzung stecken, da helfen auch interaktive Krücken wie Dolly Track oder Virtual-Reality-Brille wenig. Und warum huschen immer wieder abstrakte geometrische Formen und Farbmuster über Bildschirme? Leuchten auf, sind mit Sound verbunden, gerade so, als simulierten sie eine synästhetische Wahrnehmungserweiterung unter dem Einfluss von LSD? Ein augenzwinkernder Hinweis findet sich in der kleinen Bücherecke: ein englischsprachiger Band, der im Titel den Hippies für das wiedererwachte Interesse an der Quantenphysik dankt.
Dass die Welt der Quanten die Tore in eine bessere Zukunft öffnet, scheint für viele der Künstler:innen tatsächlich naheliegend. «Wir brauchen die Nullen und Einsen nicht länger», verkündet Joan Heemskerk aus den Niederlanden am Medienrundgang in Basel, «alles ist nonbinär!» Explizit queerfeministische Anliegen verbindet Heemskerk mit Heaney und weiteren Künstler:innen der Ausstellung, die grosse Mehrheit von ihnen weiblich gelesen. Frauen kapern eine bislang von Männern dominierte Wissenschafts- und Technikdomäne: Das ist erst mal eine gute Nachricht. So gesehen kann Heemskerks «Sat-Hex» vielleicht doch als subversiver Akt der Aneignung gelesen werden; weshalb sonst sollte sie für ihre farblich changierenden Sechsecken ausgerechnet auf Elon Musks Starlink-Satelliten als Basis zugreifen, um die quantenphysikalischen Grundlagen der modernen GPS-Kommunikation zu illustrieren?
Ein Quäntchen Trost
Überhaupt: Interessant wird die künstlerische Auseinandersetzung dort, wo sie über die Veranschaulichung hinausgeht und das ästhetische Spiel mit der Welt der Quanten beginnt; letztlich vielleicht sogar erst im Moment, wo dieses Spiel zu einer Geschichte, einer Erzählung gerinnt. Wo sie persönlich berührt, wie in Libby Heaneys Wunsch, ihrer Schwester im Multiversum der Quantenwelt wieder zu begegnen. Dort, wo eine quantenphänomenale Erzählung mit ihrer schillernden Ambivalenz auftrumpft, um unsere Wahrnehmung der Welt zu erweitern und zu vertiefen, sie auch politisch reflektiert, wie Ayoung Kim aus Südkorea in ihrem Video «Delivery Dancer’s Sphere» es tut.
Die Geschichte einer Lieferdienstfahrerin in einem dystopischen Seoul entfaltet sich als Vexierspiel mit der Idee des Multiversums und der Möglichkeit parallel existierender Versionen des eigenen Ichs und nimmt dabei ebenso die kapitalistische Ausbeutung und effizienzgetriebene Optimierungslogik ins Visier. Manchmal mündet die Reise in die Welt der Quanten auch in einen Horrortrip.
Die Ausstellung «Quantum Visions» offenbart als exploratives Experiment so vor allem, wie sehr die Wirklichkeit, gerade wo wir sie mit Phänomenen aus der Quantenwelt neu zu denken wagen, erst im Erzählen von Geschichten überhaupt entsteht und zugänglich wird. Etwa in Science-Fiction-Romanen wie der «Trisolaris»-Trilogie von Cixin Liu (siehe WOZ Nr. 13/24) oder Oscar-gekrönten Sci-Fi-Filmen wie «Interstellar» von Christopher Nolan oder «Everything Everywhere All at Once» von Daniel Kwan und Daniel Scheinert. Und, nicht zu vergessen, in der legendären Popularisierung von Teleportation als «Beamen» in der Serie «Star Trek».
Wobei schon Schrödinger wusste und mit der quantenphysikalischen Urerzählung seiner Katze deutlich machte: Was in der Mikrowelt der Quanten gilt, funktioniert nicht zwingend auch in der physischen Realität.
«Quantum Visions. Erkundungen des Unbestimmten» im Haus der elektronischen Künste Basel in Münchenstein. Bis So, 16. November 2025; Mi–So, 12–18 Uhr.