Vor Ort: Was sind wir, wenn man sich nicht mehr an uns erinnert?

Nr. 33 –

Das Theater als Ahnenforschungslabor: Wie gut das funktioniert, zeigt «Ojo d’Oro», das neue Stück der Berner Theatergruppe Vor Ort, das auch zum Übernachten einlädt.

Bühnenfoto des Theaterstück «Ojo d’Oro»
Ein Tohuwabohu aus tabelauartigen Szenen: Hier wird ein Menschenknäuel geboren. Foto: Alexander Jacquemet

Als man am Morgen zu Vogelgezwitscher auf einer Matratze in einer Ecke der Grossen Halle der Berner Reitschule aufwacht und noch leicht verschlafen Kaffee, Porridge, Tee und Zopf angeboten bekommt, weiss man nicht so recht: Die Schauspieler:innen, die im geblümten Morgenrock das Frühstück servieren – stecken sie noch immer in einer Rolle?

Aber was heisst schon «Rolle» in «Ojo d’Oro», dem neuen Stück der Berner Gruppe Vor Ort: Acht Schauspieler:innen setzen sich mit ihren eigenen Vorfahr:innen auseinander und laden das Publikum ein, bis am nächsten Morgen zu bleiben. Die «Theatrale Ahnenforschung» beginnt um 22 Uhr und ist mit dem vermeintlichen Ende um Mitternacht noch lange nicht vorbei – die einen plaudern mit den Schauspieler:innen oder tauschen sich untereinander aus, andere ziehen bereits ihre Pyjamas an, gehen sich die Zähne putzen und richten auf einer Matratze inmitten der Theaterkulisse ihr Nachtlager ein. Sie hoffen auf guten Schlaf oder auf eine traumhafte Begegnung mit den eigenen Ahn:innen – während die laute Musik vom Vorplatz in die Räumlichkeiten dringt.

Wuchtig, poetisch, überbordend

Die 2010 gegründete Theatergruppe Vor Ort um Sonja Riesen, Mathis Künzler, Jonathan Loosli, Dominique Jann und Anna Blöchlinger ging in ihren aufwendigen und spektakelhaften Stücken bisher jeweils von einem Ort aus und bespielte diesen: In «Neuland» (2012) hauchte sie mit ihren Geschichten dem Berner Gaswerkareal neues Leben ein, in «Fellini’s totale Liebe» (2015) dem alten Tramdepot am Burgernziel, in «Winterkrieg» (2019) einem leer stehenden Hochhaus. In «Ojo d’Oro» gehen die Schauspieler:innen von sich selbst aus und füllen die Grosse Halle mit den Geschichten ihrer Vorfahr:innen. Das machen sie derart wuchtig, poetisch und überbordend wie in ihren bisherigen Stücken.

Die 1500 Quadratmeter der Halle sind zu einem surrealen Setting umgestaltet worden (Bühne und Kostüme: Heidy-Jo Wenger). Da ein pilzartiges Häuschen, dort eine Art Ausstellung mit gesammelten Erbstücken: eine Tracht, ein Waschbrett, alte Fotos, ein Schmuckkästchen, das Kohleporträt eines Kindes, eine alte Wanduhr. In der Mitte der Halle hängt ein riesiges weisses Tuch von der Decke herab, weiter hinten sorgt ein schwarzes für eine weitere Unterteilung des Raumes. Dazwischen steht ein brauner Baum aus Jutesäcken. Später wird eine Windmaschine die Tücher wild zum Tanzen bringen. Und unter dem Baum werden sich die Schauspieler:innen auf dem Boden wälzen und sich gegenseitig weisse Unterkleider anziehen – ein einziges grosses Menschenknäuel, das geboren wird (Choreografie: Anna Blöchlinger).

Wie sind wir verbunden mit denen, die vor uns da waren? Wie prägen ihre Schicksale unsere eigene Biografie? Es sind Fragen, die im Stück stets leise mitschwingen. Zum Teil weiss man gar nicht, wohin man schauen soll, weil so vieles gleichzeitig passiert und man sich frei bewegen kann. Da dreht Mathis Künzler, der auch Regie geführt hat, als Velofahrerin Runden durch die Halle. Dominique Jann knetet Zopfteig, Moritz Alfons, der die Musik verantwortet, spielt E-Gitarre, Jonathan Loosli vermisst den Körperumfang eines Besuchers. Anna Blöchlinger reibt sich auf die angefeuchteten Arme weisse Papierkonfetti, die von der Windmaschine in die Luft geblasen werden, der Zirkusartist Raphaël Perrenoud wirbelt gegen Ende des Stücks in einem Cyr-Rad über den Boden. Ein Tohuwabohu aus tableauartigen Szenen, aus dem sich im Lauf des Abends die unterschiedlichen Ahnengeschichten der Schauspieler:innen herauskristallisieren, die sie jeweils individuell und mithilfe der Eltern oder anderer Verwandter recherchiert haben.

Viele Schicksale erzählen vom Weggehen: Da der Grossvater, der nach Bogotá ausgewandert ist und als Handelsmann Erfolg hatte; dort die gescheite Marie, die so gescheit war, dass sie in ein Kloster geschickt wurde, wo sie von grossem Heimweh geplagt wurde (wunderschön-witzig erzählt von Riesen, Loosli und Ursula Stäubli); oder der italienische Partisanenkämpfer, vor dem sich sogar Mussolini fürchtete. Wahres und Erfundenes fliessen ineinander: In der Gegenwart verankerte und bewegliche Körper treffen auf historische, statische Gegenstände; die Schauspieler:innen hüpfen von der Rolle der Erzähler:innen in die Rolle der Ahn:innen und wieder zurück. Wie geeignet das Theater, in dem jede:r alles sein kann, als Labor für Ahnenforschung ist, zeigt sich an diesem Abend immer wieder.

Fragwürdige Figur

Für das Stück hat sich Vor Ort von der Familienbiografie «Wo ein Vogel am schönsten singt» (1992) des Kultfilmers, Autors und Okkultisten Alejandro Jodorowsky inspirieren lassen. Das Buch sei ihr 2012 von einem Besucher ihres Stücks «Neuland» empfohlen worden, erzählt Sonja Riesen am Morgen nach der Aufführung noch im Morgenmantel, und habe sie begeistert. Jodorowsky schreibt im Vorwort: «Unser Stammbaum ist einerseits die Falle, die unsere Gedanken, Emotionen, Wünsche und unser materielles Leben einschränkt, und andererseits ist er der Schatz, der die meisten unserer Werte birgt.»

Auf Jodorowsky geht auch der Titel des Stücks zurück – das goldene Auge –, und ein Bild von ihm ziert das Plakat zum Stück. Darüber ist Riesen im Nachhinein sehr unglücklich. Vielen gilt der heute 95-Jährige noch immer als Genie, tatsächlich aber ist er eine höchst problematische Figur, seine Arbeitsmethoden sind verstörend. In seinem 1972 erschienenen Buch zum Kultfilm «El Topo» etwa beschreibt er, wie er am Set vor laufenden Kameras die Protagonistin Mara Lorenzio vergewaltigte. Was damals niemanden zu kümmern schien, holte ihn Jahrzehnte später ein. 2019 sagte das Museo del Barrio in New York eine Retrospektive und eine Veranstaltung mit dem Regisseur ab und löste erstmals eine Debatte um Jodorowsky aus (er widerrief seine Aussage von 1972).

Als sie das Plakat gedruckt hätten, hätten sie von dieser Geschichte noch nichts gewusst, sagt Riesen. Auf der Website sowie auf Flyern, die im Theater aufliegen, informiert Vor Ort über Jodorowskys misogynen Übergriff und distanziert sich davon.

Das gleiche Waschbrett

Da die Gruppe schliesslich etwas ganz Eigenes geschaffen hat, schwebt Jodorowskys Geist zum Glück nur von fern über dem Projekt und beeinträchtigt weder das Stück noch den Schlaf in der Kulisse. Die Übernachtung sei von Beginn weg eingeplant gewesen, sagt Riesen, sie basiere auf einer Tradition im alten Griechenland: «Wenn man damals Fragen hatte, ging man in den Tempel. Dort wurden tagsüber Stücke gespielt, in denen die menschlichen Gefühle abgehandelt wurden.» Dann habe man im Tempel geschlafen und auf die Antworten aus einer anderen Welt gewartet – aus der Welt des Schlafes und jener der Götter.

Ob einzelne der übernachtenden Theatergäste Antworten gefunden haben, bleibt offen. Das Schöne am Aufwachen inmitten der Kulisse am Morgen danach (und nach erstaunlich gutem Schlaf) ist: Man kann in Ruhe nochmals alles anschauen und erinnert sich plötzlich, dass man vor kurzem das gleiche Waschbrett auf dem Dachboden der Schwiegereltern entdeckt hat. Wer damit wohl gewaschen hat? Welche Geschichten es dazu zu erzählen gäbe?

«Stell dir vor, du wirst einfach vergessen», sagt eine Stimme zu Beginn des Stücks. Was sind wir, wenn man sich nicht mehr an uns erinnert? Vor Ort rettet mit ihrem Stück nicht nur die eigenen Ahn:innen vor dem Vergessen, sondern regt auch das Publikum dazu an, dies mit ihren eigenen zu tun.

Weitere Vorführungen bis am Dienstag, 20. August 2024: www.vorort.be.