Jazz: Von der Nord- auf die Südsaite

Nr. 47 –

Dave Holland am Kontrabass, Lionel Loueke singend und an den Gitarren: Das ist fast alles, was es braucht, um bis Ende Jahr durchzuhalten.

Lionel Loueke und Dave Holland
Identitätspolitische Platzverweise sind hier nicht gefragt: Lionel Loueke und Dave Holland. Foto: Dave Stapleton

Duos sind eine Kunst der Zugewandtheit. Und zwar gegenüber allen Seiten. Das Publikum bekommt fast alles mit, und die Musiker:innen können sich nicht voreinander verstecken. Duos sind deshalb besonders fragil. An der Spitze der Kunst lassen sie aber gleichzeitig eine enorme Freiheit zu, weil man im Duo schneller reagieren kann als in einer grossen Band und so vieles spontan einsetzen kann, das man seit Jahrzehnten übt. Man muss im Duo nicht «free» spielen, um sich frei zu fühlen.

«United» von Dave Holland und Lionel Loueke ist Duokunst auf dem Gipfel, ohne dass die Luft dort oben je dünn wirken würde. Man folgt den beiden auf ihrer Route und hört mit Freude zu, was die aus ihren verschiedenen Rucksäcken auspacken. Es sind Dinge, die man mal eher World Music, mal eher Jazz nennen könnte, aber die sich so schnell abwechseln und gegenseitig durchdringen, dass die Genreklammern dauernd gesprengt werden.

Viele Tausend Sprachen

In «Strangers in the Mirror» hört man vieles davon in kurzer Abfolge. Loueke beginnt auf der Gitarre ein afrikanisierendes Muster, das, wenn man zählen mag, dreizehn Schläge hat und dabei aber schwebend und nicht schwierig wirkt. In welcher der vielen Tausend afrikanischen Sprachen Loueke hier singt? Meine afrikanische Gewährsfrau aus Kamerun sagt, als ich ihr das Stück «Yaoundé» schicke, benannt nach der Hauptstadt Kameruns: «Vermutlich eine Sprache aus Benin, aber es gibt so viele!» Das gilt auch für die musikalischen Wurzeln dieses Albums.

Im B-Teil vieler Stücke schleichen sich westliche Harmonien in die Form, bevor Holland die Melodien übernimmt. Das Solo von Loueke in «Strangers in the Mirror» beginnt nach gut vier Minuten und packt mit grosser Lässigkeit fast alles aus: von rhythmisch knappen, harmonisch einfachen bis zu komplexen Patterns, die auf einmal in Linien münden, die sich mit Halbtönen an die Akkorde anschleichen und sie umspielen, bevor die Motive wieder nahe ans Thema rücken. Was hier in 8 von 65 Minuten passiert, ist eine Weltreise, aber so easy abgesessen wie auf halbem Hintern zwischen zwei Tramstationen.

Andere Stücke nehmen einen gleich mit, sind funky, etwa «Hideland» und «Tranxit», oder springen einen mit Wucht an, wie «Essaouira», die unwiderstehliche Eröffnungsnummer des Albums. «Essaouira» ruft nicht nur im Namen die marokkanische Stadt auf, auch ihr Groove erinnert an die dort beheimatete Gnawa-Tradition, bevor im B-Teil jazzigere Akkordwechsel den Zug kurz umleiten. Niemand merkt, dass hier nur zwei die Komposition über den Berg ziehen, mit Gitarre und Bass von der Nord- auf die Südsaite und wieder zurück. Das ist viel mehr als Crossover oder andere Begriffe, die von einem Mischverhältnis erzählen wollen. Der Zauber gründet in diesen Musikern allein.

Holland, der Brite in den USA, ist bereits Ende siebzig und seit seinen Tagen in den elektrischen Bands von Miles Davis Ende der Sechziger einer der gefragtesten Bassisten der Welt. Auch seine Quartette und Quintette sorgen über die Jahrzehnte für Aufsehen, weil kaum einer wie er die Möglichkeit des Ausbruchs aus Harmonie und Zeit so entspannt mit einem Sinn für Grooves paaren kann. Ob er begleitet oder soliert, ist stets schwer zu sagen, doch seinen Ton erkennt man sofort. Lionel Loueke wurde 1972 in Benin geboren. Als Holland längst Profi war, studierte er in Côte d’Ivoire und Paris, bevor sich seine westafrikanischen Wurzeln in Boston auch musikalisch mit dem US-Jazz kreuzten. Ob als akustischer oder elektrischer Gitarrist oder als Sänger, Schnalzer, Mundraumkünstler: Loueke hat seine eigene Unverwechselbarkeit gefunden, wenn die Gitarre manchmal wie eine südafrikanische Maultrommel klingt und sein weicher, aber perkussiver Falsettgesang an eine entspannte Version von Bobby McFerrin erinnert.

Mit riesigem Rucksack

«United» entfaltet eine Ästhetik der wechselseitigen Einflüsse: von der komplexen Harmonik des Jazz über die Metren und Chants Westafrikas bis zum Blues ohne Formzwang. Hybrid, so hätte man dieses musikalisch-kulturelle Verhältnis wohl in den neunziger Jahren genannt, als es weniger um Aneignung ging als um eine Beschreibung von komplexen kulturellen Feedbacks. Musiker auf dem Niveau von Holland und Loueke können das gar nicht anders sehen, ein identitätspolitischer Platzverweis würde sie zu sehr beschränken. Und doch schimmern durch diese verschlungenen, so meisterhaft leicht gespielten Songs mindestens zwei Dinge hindurch: die Herkunft des Einzelnen sowie seine Klasse, verstanden als Könnerschaft, die die Herkunft in der Kunst eben überschreiten kann.

Lionel Loueke war in diesem Jahr für ein anderes Album mit der Sängerin Gretchen Parlato für einen Grammy nominiert. Auch toll. Aber mit Dave Holland im Duo kann er die Grenzen weiter stecken: von der Spielfreude wie etwa in «Celebration» bis zur letzten Jazznummer, die dem Album den Titel gibt: «United», einer Komposition des vor anderthalb Jahren verstorbenen Saxofonisten Wayne Shorter. Wenn der Rucksack so gross ist wie bei Holland und Loueke, hat am Ende auch fast «straighter» Jazz darin Platz.

Albumcover «United» von Lionel Loueke und Dave Holland
Lionel Loueke, Dave Holland: «United». Edition Records. 2024.