In mir die Wände (1) : Reise der Hoffnung

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Manchmal ist es nur ein Gerücht, ein Traum, eine Geschichte, die jemand erzählt hat: Dort drüben gibt es Arbeit. Dort drüben gibt es Frieden. Dort drüben gibt es eine Zukunft. Dort drüben kannst du Mensch sein. Dann kommt vielleicht eine Wüste, vielleicht ein Wald, vielleicht eine Stadt, vielleicht ein Meer, vielleicht ein Berg – sicher aber eine Mauer, eine Wand, ein Zaun, eine Grenze. Und mit ein wenig Glück dann: ein Bunker.

Den ganzen Weg trägt ein Versprechen: dass irgendwo ein Ort auftaucht, ein Hafen, ein Streifen Land, ein Fels, auf den man stehen kann. Es ist ein so verheissungsvolles Versprechen, dass alles Vertraute in einen Koffer gepackt, alle geliebten Menschen zurückgelassen, alle Lebensträume in Seidenpapier eingehüllt und vorsichtig verstaut werden – damit sie hoffentlich nicht zerbrochen sind, wenn man sie später auspackt.

Ende der achtziger Jahre herrschten im Südosten der Türkei Verbote, Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Dörfer wurden zerstört, Familien vertrieben, Stimmen unterdrückt. Viele sahen keine Zukunft und flohen nach Deutschland, Frankreich, Belgien, in die Niederlande oder in die Schweiz. Jede dieser Fluchten war eine Reise der Hoffnung.

Meine Mutter, mein Vater und ich kamen im Oktober 1988 auf einem Passagierschiff über das Meer nach Bari, in Schlepperfahrzeugen über Mailand an die Grenze zur Schweiz. Ich erinnere mich bruchstückartig: ein Schiff in Izmir, eine Autobahn in Italien, Mamas kalte Hände, die ich zu wärmen versuchte, eine rot-weisse Schranke auf einem Waldweg ins Tessin.

Das Verlassen der eigenen Heimat ist oft das Zurücklassen der Geschichte, an der man sein Leben verwurzelt und verankert glaubte, bis einem die Umstände die Wahrheit ins Gesicht schleudern: Menschen sind keine Bäume und schlagen keine Wurzeln. Und schon gar nicht sind sie Schiffe und lichten Anker. Menschen haben Beine und Füsse. Die einen können damit flanieren, schlendern, gehen – und die anderen laufen, rennen, flüchten.

Hinter dieser rot-weissen Schranke im Wald – dort drüben lag sie also, unsere Zukunft. Nur noch ein paar Schritte, und dann, dann waren wir angekommen auf den Kieselsteinen, auf denen wir stehen sollten.

In der kolumnistischen Serie «In mir die Wände» blickt WOZ-Redaktor Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Ankommen.