Israel-Palästina: Jeder Tag zählt
Der Waffenstillstand in Gaza hängt an einem seidenen Faden. Statt alles zu tun, um weitere Geiseln zu befreien, versucht Netanjahu, die erste Phase zu verlängern – ohne Abzug der Armee.
Mit einer Sache hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu recht: Die martialischen Inszenierungen der Hamas bei der Freilassung von Geiseln in Gaza sind unerträglich. Geiseln, die die Köpfe von Hamas-Kämpfern küssen müssen. Oder einer solchen Zeremonie beiwohnen müssen, ohne selbst freigelassen zu werden. Auch die Übergabe der Leichen von Schiri Bibas und ihrer zwei kleinen Kinder war unfassbar makaber. Auf dem Banner hinter den Särgen: ein Bild von Netanjahu als Vampir. Zurück kam allerdings nicht die Leiche von Schiri Bibas, sondern die einer Bewohner:in des Gazastreifens. Eine «Verwechslung» laut Hamas, zwei Tage später übergaben sie Bibas’ Leiche.
Je mehr die Freigelassenen über die Bedingungen der Geiselhaft erzählen, desto grauenhafter ist die Vorstellung, dass mehr als sechzig Menschen noch festgehalten werden. Einige Freigelassene berichten, die gesamte Zeit ihrer Haft in Tunneln ohne Tageslicht in Fesseln festgehalten, einige, für Wochen in Käfige eingesperrt worden zu sein. Bilder von dreien haben in der israelischen Bevölkerung einen besonderen Schock ausgelöst. «Wie Holocaustüberlebende», titelten die Medien. Über lange Zeit hatten sie alle paar Tage eine verschimmelte Pita erhalten. Als sie zur Entlassungszeremonie auf die Bühne treten sollten, konnten sie kaum gehen.
Um so wichtiger wäre es, den Waffenstillstand fortzusetzen. In wenigen Tagen endet die erste Phase. Sollte sie nicht in die zweite Phase übergehen, wäre es nicht nur fatal für die Zivilbevölkerung in Gaza, sondern auch für die Geiseln. Rund die Hälfte von ihnen soll noch leben, doch nicht umsonst rufen auch die zuletzt Freigelassenen: Jeder Tag zählt.
Alle wissen, dass das Schicksal der Geiseln nicht nur von der Hamas, sondern auch von Ministerpräsident Netanjahu abhängt. Der aber scheut sich nicht, das ohnehin prekäre Waffenstillstandsabkommen zu gefährden und die Freilassung von über 600 palästinensischen Gefangenen auszusetzen. Die Hamas müsse versichern, die Peinigungen zu beenden, sagte Netanjahu, vorher würden die palästinensischen Gefangenen nicht freigelassen. Medienberichten zufolge sollen sich Hamas und Israel nun auf eine vorläufige Lösung geeinigt haben.
Kaum jemand zweifelt daran, dass die Demütigungen für Netanjahu ein Vorwand sind, um die Verhandlungen zu Phase zwei zu verunmöglichen. Schliesslich soll es darin darum gehen, dem Krieg langfristig ein Ende zu setzen, während die israelischen Truppen vollständig aus Gaza abziehen sollen – im Austausch gegen die Freilassung aller verbliebenen Geiseln.
Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner aber wollen den Krieg fortsetzen, viele von ihnen planen eine israelische Besiedlung von Gaza. Und Netanjahu braucht sie, auch um sich selbst vor einem möglichen Gefängnisaufenthalt wegen Korruption zu bewahren.
Der Deal, der schliesslich im Januar zum Waffenstillstand führte, lag schon im vergangenen Mai auf dem Tisch. Seitdem ist Netanjahu seinem Ziel zur vollständigen Zerschlagung der Hamas kaum näher gekommen, zumal die israelische Regierung nach wie vor – jenseits des irrwitzigen Rivieraplans von Donald Trump – keinen Vorschlag hat, was mit Gaza nach dem Krieg passieren soll. Wäre der Waffenstillstand im Mai in Kraft getreten, hätten viele Menschenleben gerettet werden können, auch die von israelischen Geiseln.
Es war wohl erst der Druck auf Hamas und Israel durch den neu vereidigten US-Präsidenten Donald Trump, der auch Netanjahu dazu gebracht hat, den Deal anzunehmen.
Statt Verhandlungen um Phase zwei zu führen, versuchen Israel und die USA nun, die erste Phase des Waffenstillstands zu verlängern. Soll heissen: Freilassung der Geiseln, ohne dass es zu einem langfristigen Waffenstillstand kommt – und ohne Abzug der israelischen Armee. Dass die Hamas dem zustimmt, ist äusserst unwahrscheinlich.
Die Verschleppten werden nicht nur von der Hamas, sondern auch durch das Verhalten Netanjahus als Geisel gehalten.