Mieter:innenbewegung: «Die haben Angst vor uns»

Nr. 51 –

Auch in den USA, dem Land der oft hochverschuldeten Hauseigentümer:innen, wohnen viele zur Miete. Sie organisieren sich in Form von Gewerkschaften und sind auf dem Weg, eine der wichtigsten linken Bewegungen im Land zu werden.

Tara Raghuveer, Leiterin des Dachverbands der Mieter:innengewerkschaften, mit weiteren Personen bei einer Demonstration gegen einen Immobilienkonzern
Mietsteigerungen trotz Schimmel und Ratten: Tara Raghuveer, Leiterin des Dachverbands der Mieter:innengewerkschaften, bei einer Demonstration gegen einen Immobilienkonzern in Spring Valley, NY.
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Kurz bevor der Protest losgeht, schaut Tara Raghuveer nochmals fokussiert in alle Richtungen, ihr Blick wie ein Radar. Vermutlich ahnt sie da schon, dass es heute Stress geben wird.

Rund fünfzig Menschen haben sich an einem bitterkalten Vormittag Anfang Dezember in Spring Valley, einem kleinen Ort nördlich von New York City, versammelt. Neben der 33-jährigen Raghuveer, die die Aktion mitorganisiert hat, stehen Rentnerinnen mit Rollatoren, junge Studenten, Familienmütter. Aus verschiedenen Regionen des Landes sind die Leute angereist, aus Montana, Kentucky, Connecticut. Viele kennen sich, doch einige sehen sich hier zum ersten Mal. Zusammengeschweisst ist diese Gruppe dadurch, dass fast alle denselben Vermieter haben. Der Konzern Capital Realty Group, seit Jahren bekannt dafür, seine Gebäude verwahrlosen zu lassen, hat in Spring Valley sein Hauptquartier.

Die Mieter:innen wollen ihren Frust über die Wohnbedingungen rauslassen, das ist der Plan. Schimmel an den Wänden, Ratten im Hof, extreme Mietsteigerungen – die Liste der Punkte ist lang. Doch noch bevor die erste Person zum Megafon greifen kann, kommt es zur Eskalation. Eine Gruppe von ungefähr dreissig Leuten taucht plötzlich vor dem Bürogebäude auf. Ein paar davon preschen sofort auf die Mieter:innen zu, schubsen sie und versuchen, ihnen die Plakate aus der Hand zu reissen. Raghuveer stellt sich dazwischen und kriegt einen Ellbogenstoss ab. Die Polizei greift ein und nimmt einen besonders aggressiven Mann fest. Mit Absperrband werden die zwei Gruppen schliesslich getrennt.

Der Gegenprotest ist von Capital Realty organisiert, wie sofort klar ist. Ein ziemlich bizarres Schauspiel. Die meisten in dieser Gruppe sind nämlich hispanische Migrant:innen in Arbeitsklamotten, die, wie sich herausstellen wird, gar nicht wissen, was sie hier tun. Mit etwas ratlosem Blick stehen sie herum, halten Israelflaggen hoch, die ihnen offenbar kurz zuvor in die Hand gedrückt wurden. Auf den Plakaten stehen Sprüche wie «No Tolerance for Antisemitism». Der jüdische Chef des Immobilienkonzerns hat sich entschieden, den Mieter:innen Antisemitismus vorzuwerfen. Anhaltspunkte dafür gibt es keine.

«Ein so aggressives Verhalten habe ich von einem Eigentümer noch nie erlebt», sagt Raghuveer, als sie zwei Stunden später in einer Hotellobby nahe Spring Valley sitzt. Ein paar der angeheuerten Gegendemonstrant:innen hätten ihr verraten, dass sie Geld für ihren Einsatz bekämen, erzählt sie. Raghuveer schüttelt den Kopf, als könnte sie immer noch nicht ganz glauben, was da gerade passiert ist. Dass ein Konzern wie Capital Realty nun zu solchen Mitteln greife, sei jedoch auch ein Beweis für die eigene Stärke. «Wir organisieren uns mittlerweile über Bundesstaaten hinweg», so Raghuveer. «Die haben Angst vor uns.»

eine Person mit Israel-Fahne versucht Tara Raghuveer ein Transparent zu entreissen
Erfundene Antisemitismusvorwürfe: «Ein so aggressives Verhalten habe ich von einem ­Eigentümer noch nie erlebt», sagt Tara Raghuveer.

Eine neue linke Kraft

Jeder linke Kampf ist anders. Verschiedene Orte und Akteur:innen, dadurch auch verschiedene Bedingungen und Aussichten. Am Ende aber stellt sich für jedes linke Projekt dann doch die etwa gleiche Frage: Wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen? Wie geht Macht? Und vor allem: Wie geht Macht von unten?

In den USA ist in den vergangenen Jahren eine neue linke Kraft gewachsen, die eine Antwort auf diese Fragen zu entwickeln scheint: die Bewegung der «tenant unions», Mieter:innen (tenants), die sich als Gewerkschaften (unions) organisieren. Und Raghuveer spielt für diese Bewegung eine besondere Rolle. Sie hat nicht nur in ihrer Heimat Kansas City, der grössten Stadt des Bundesstaats Missouri, die Organisation KC Tenants gegründet, sondern leitet auch die Tenant Union Federation, wie der landesweite Dachverband heisst. Das Magazin «Time» setzte Raghuveer 2024 sogar auf seine Liste von «100 aufstrebenden Persönlichkeiten der Welt».

Tenant Unions schiessen derzeit in fast allen Ecken des Landes aus dem Boden. Erst gab es sie vor allem in den Metropolen wie Los Angeles und New York, mittlerweile auch in ländlichen Bundesstaaten wie Montana und Arkansas. Manche der Organisationen agieren hyperlokal nur in einem Quartier. Andere bringen Mieter:innen auf Stadtebene zusammen. Wieder andere sind über einen ganzen Bundesstaat verteilt. Und dann gibt es noch Tenant Unions, die einen einzigen Immobilienkonzern im Visier haben. Im Prinzip funktionieren sie aber alle ähnlich: Mieter:innen verbünden sich eigenständig, um bessere Wohnbedingungen und bezahlbare Mieten zu erkämpfen.

Die Idee der Mieter:innengewerkschaft ist nicht neu. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten sich in einigen US-Grossstädten entsprechende Kollektive. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte des Landes gelang es Mieter:innen damals, gesetzlich gesicherte Rechte gegenüber den Landlords zu sichern. In New York City schlossen sich die Gruppen in jener Zeit sogar zu einer stadtweiten Organisation zusammen, dem «Tenant Council».

In den Sechzigern und Siebzigern erlebte die Mieter:innenbewegung parallel zur Bürgerrechtsbewegung ein zweites Hoch. In Städten wie Chicago und Pittsburgh fanden militante Mietstreiks statt. Ab den achtziger Jahren jedoch brach diese Art des Organisierens allmählich ein, auch unter dem Druck der repressiven Politik von Präsident Ronald Reagan, der die Privatisierung des Wohnungswesens vorantrieb und Gewerkschaftsarbeit grundsätzlich erschwerte. Für lange Zeit danach hatte das Konzept der Tenant Unions kaum mehr Relevanz.

Seit einigen Jahren nun findet eine Reaktivierung des Modells statt. Viel anderes bleibt den Leuten auch gar nicht mehr übrig. Die Durchschnittsmieten in US-Grossstädten steigen deutlich schneller als die Durchschnittslöhne. Von den rund hundert Millionen Mieter:innen in diesem Land gibt ein Viertel mittlerweile die Hälfte des Einkommens fürs Wohnen aus. Andere können sich eine eigene Unterkunft gar nicht mehr leisten. Nach aktuellen Schätzungen der Regierung sind mehr als 770 000 Menschen in den USA derzeit ohne feste Bleibe. Pro Jahr werden rund 3,6 Millionen Zwangsräumungen vollzogen, fast 10 000 pro Tag.

Die Wohnkrise hat sich nicht nur in den USA zugespitzt, Verdrängung ist ein globales Problem. Genau deshalb intensivieren sich vielerorts auch die Wohnungskämpfe. In Spanien etwa fanden im Sommer landesweite Mietproteste mit Hunderttausenden Teilnehmer:innen statt. In London nehmen zum ersten Mal seit Jahrzehnten Hausbesetzungen wieder zu. In Berlin arbeitet eine Initiative an der Vergesellschaftung grosser Immobilienkonzerne. So verstreut diese Bewegungen auch sind, haben sie doch alle gemeinsam, dass sich Mieter:innen als politische Subjekte wahrnehmen. Aus vereinzelten Nachbar:innen werden organisierte Wohnhäuser, werden grössere Massen. Und überall steht die Frage im Raum, wie eine grundsätzliche Transformation des Wohnungswesens gelingen kann.

mehrere Personen halten Schilder mit dem Aufdruck «YOU RETALIATE WE FIGHT HARDER» an einer Demonstration gegen den Immobilienkonzern Capital Realty Group in Spring Valley
«Wenn ihr Vergeltung übt, kämpfen wir noch härter»: Demonstration gegen den Immobilienkonzern Capital Realty Group in Spring Valley.

Streiken bis zum Erfolg

«Die Wohnungskrise ist kein Problem, das gelöst werden muss; es ist ein Klassenkampf, der geführt und gewonnen werden muss», heisst es im Buch «Abolish Rent» (Schafft die Miete ab). Tracy Rosenthal und Leonardo Vilchis beschreiben darin sowohl die konkrete Arbeit der von ihnen gegründeten Los Angeles Tenants Union als auch die Wiedergeburt der Mieter:innenbewegung im Grossen und Ganzen. Wie der Titel verrät, sehen sie als langfristige Vision nicht nur eine Reform des jetzigen Systems, sondern auch eine Überwindung des Konzepts Miete. Die beiden Autor:innen bezeichnen Miete als «eine Strafe dafür, ein menschliches Bedürfnis zu haben».

Tara Raghuveer formuliert es etwas vorsichtiger: «Unser Ziel ist es, so viele Mieter:innen wie möglich als eine ökonomische und politische Klasse zu organisieren, die man nicht ignorieren kann.» Wohnungen sollten keine Profitobjekte sein, sagt sie, sondern gehörten demokratisch verwaltet. Dass die Bewegung davon noch weit entfernt ist, muss man Raghuveer nicht sagen, das weiss sie selbst. Im Gegensatz zu Politiker:innen und NGOs verfügten Mieter:innen jedoch über eine einzigartige Waffe, wie Raghuveer ausführt. Sie sind es schliesslich, die zahlen. Sie sind es auch, die Miete zurückhalten können.

Welche Wirkung ein Mietstreik haben kann, wurde in diesem Jahr in Raghuveers Heimat Kansas City deutlich. Insgesamt 247 Tage lang hielten die Bewohner:innen eines elfstöckigen Wohnblocks ihre Zahlungen zurück, ehe der Eigentümer im Juni nachgab. Die Mieter:innen sicherten sich einen Schuldenerlass für die acht Streikmonate, einen Mietpreisdeckel für die kommenden Jahre sowie Reparaturen und Verbesserungen des Hauses. Mietstreiks, so betont Raghuveer, seien allerdings immer auch ein Wagnis. «Es ist schon passiert, dass Leute ihre Wohnungen verloren haben. Dann müssen wir besonders da sein.»

Zu den Erfolgen der Gewerkschaft zählt neben neu ausgehandelten Mietverträgen auch der regelmässige Einsatz gegen Zwangsräumungen, wie Raghuveer erklärt. Sobald Mieter:innen akut von einem Rausschmiss bedroht sind, mobilisiert die Gewerkschaft Mitglieder für Proteste vor Ort und stellt unter anderem kostenlose juristische Beratung zur Verfügung. Das Thema liegt Raghuveer besonders am Herzen. Als Studentin untersuchte sie viele Jahre lang die Zwangsräumungspolitik in Kansas City. Doch die theoretische Erfassung des Problems war ihr irgendwann nicht mehr genug. So gründete sie 2019 mit einigen Mitstreiter:innen KC Tenants. Noch im selben Jahr verabschiedete der Stadtrat in Kansas City eine von der Gewerkschaft verfasste «Bill of Rights», die Standards für Mieter:innen festhält. Mit rund 10 000 Mitgliedern ist KC Tenants mittlerweile die grösste Mieter:innengewerkschaft der USA.

In vielen Regionen des Landes gehören die Tenant Unions inzwischen zu den wichtigsten progressiven Organisationen vor Ort. So sei es auch in Connecticut, erzählt Peter Fousek. Er gehörte 2021 zu einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der Democratic Socialists of America, die sich in der Universitätsstadt New Haven regelmässig trafen, um über Wohnungspolitik zu sprechen. Inspiriert von bereits existierenden Mieter:innengewerkschaften, gründeten sie 2023 schliesslich die Connecticut Tenants Union (CTTU). Heute hat sie über zwanzig Ortsgruppen, die auf den ganzen Bundesstaat verteilt sind.

Während manche Mieter:innengewerkschaften auf das autonome Wirken der Ortsgruppen bauen und kaum festgeschriebene Mechanismen haben, setzt die CTTU auf klare Strukturen. Es gibt gewählte Führungskräfte. Alle haben das gleiche Stimmrecht. Mitglieder zahlen grundsätzlich einen Beitrag, ausser sie können es sich nicht leisten. Festgehalten sind die Mechanismen in einer Verfassung. Auf diese Weise soll der demokratische Anspruch mit schneller Handlungsfähigkeit verbunden werden.

Wesentlich für den schnellen Erfolg sei zudem die Zusammenarbeit mit der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, wie Fousek erzählt. Diese habe die CTTU nicht nur von Anfang an finanziell unterstützt, sondern stelle auch Räume und andere Ressourcen zur Verfügung. Bei grösseren Aktionen könne man auf das Erscheinen der SEIU bauen. Auch in Verhandlungen mit Politiker:innen verleihe es Gewicht, die mächtige Gewerkschaft im Rücken zu haben. Zu einem Mietstreik ist es in Connecticut noch nicht gekommen. «Oft reicht schon die Drohung», sagt Fousek.

Zur Miete wohnen ist verpönt

«Wir befinden uns an einem ähnlichen Punkt wie die Arbeiter:innenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts», sagt Raghuveer. Viele der Tenant Unions seien derzeit noch im Aufbau, Beziehungen müssten geknüpft und Prozesse eingeübt werden. Die von ihr geführte Dachorganisation hält deshalb Workshops ab, in denen Organizing-Grundlagen vermittelt werden. Ziel sei es, dass jedes einzelne Mitglied über die rhetorischen und taktischen Werkzeuge verfüge, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Raghuveers Hoffnung ist es, dass die Zahl der organisierten Mieter:innen auf diese Weise in den kommenden Jahren in die Millionen steigt. Zumindest einen Vorteil sieht sie sogar gegenüber der klassischen Arbeiter:innenbewegung: «Wir müssen niemanden davon überzeugen, dass sein Zuhause wichtig ist. Das wissen die Leute selbst.» Sie spricht von einem «intuitiven Arrangement».

Intuition ist das eine, Ideologie das andere. Und ideologisch ist dieses Land immer noch anders drauf. Ein Eigenheim mit Vorgarten, Garage und Auto, so wurde im 20. Jahrhundert der American Dream definiert. Über lange Zeit wurden vor allem weisse Mittelschichtsfamilien in die Vorstädte gelockt. Abenteuerliche Hypotheken sorgten dafür, dass mit der Zeit auch immer mehr Menschen mit niedrigen Einkommen Häuser kauften. Als viele Amerikaner:innen ihren Krediten nicht mehr nachkommen konnten, platzte die Blase – der Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007. Heute sind die USA ein suburbaner Flickenteppich mit Millionen von leer stehenden Häusern und verschuldeten Menschen. In vielen Grossstädten sind bezahlbare Wohnungen rar.

Die Identität «Mieter:in» sei in den USA immer noch mit einem Stigma besetzt, weiss Raghuveer. In den Tenant Unions würden viele jedoch die Scham ablegen. «Tenant worker» ist ein Begriff, den man in der Bewegung öfter hört. Er weist darauf hin, dass die allermeisten Menschen, die Miete zahlen müssen, eben zugleich Lohnabhängige sind.

«Flatbush, baby!»

Als im Frühjahr 2020 die Pandemie ausbrach, zeigte sich das ökonomische System der USA so nackt wie vielleicht noch nie. Wer weiter ausserhalb der eigenen vier Wände arbeiten musste, etwa als Pflegerin oder Lieferbote, riskierte die eigene Gesundheit. Millionen von Amerikaner:innen verloren derweil von einem Tag auf den anderen den Job, was viele in existenzielle Not stürzte. Aus dieser Gemengelage heraus entwickelte sich zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten der Ruf nach einem flächendeckenden Mietstreik. Über zwei Millionen Menschen unterschrieben eine entsprechende Petition. An einigen Orten des Landes kam es auch dazu. Doch für eine Massenaktion fehlte es schlicht an Infrastruktur.

«Wir haben es damals verpasst, einzelne Gruppen zusammenzuschliessen», erinnert sich Joel Feingold, einer der Mitgründer:innen der Crown Heights Tenant Union in New York City. So wichtig das lokale Wirken der Gruppen sei, so klar sei in dieser Situation geworden, dass die Fragmentierung auch bremsen könne. Feingold sagt, die Bewegung habe seither dazugelernt. Dennoch sei immer noch offen, wie eine effektive Bündelung funktionieren könne.

Ein Samstagvormittag Anfang Dezember. In der Church of the Village, einer Kirche im Westen von Manhattan, treffen langsam die ersten Leute ein. Von der Empore hört man Geschrei, es sind tobende Kinder. Eine Betreuung wurde organisiert, damit auch Eltern an diesem Treffen teilnehmen können. Essen wird später ebenfalls geliefert, Salate, Kebab, Kuchen. Niemand soll aus logistischen Gründen fehlen. Das ausdrückliche Ziel dieser zweiten «Tenant Assembly» ist es, die New Yorker Mieter:innenklasse zusammenzubringen.

«Viele von uns wollen schon seit langer Zeit, dass es eine stadtweite Organisation von und für Mieter:innen gibt», sagt Holden Taylor zur Begrüssung von der Bühne. Der 34-Jährige ist Mitgründer von Brooklyn Eviction Defense. Die Gruppe hilft Leuten, die von Zwangsräumungen bedroht sind. Als Taylor später in einer Ecke der Kirche über seinen Aktivismus und die Bewegung spricht, wird er alle paar Sätze unterbrochen. Hier eine schnelle Frage an ihn, dort eine Umarmung. Taylor scheint jede einzelne Person im Raum persönlich zu kennen.

Taylor gehört zur jungen New Yorker Linken, die mit Zohran Mamdanis Wahl zum Bürgermeister gerade einen historischen Sieg gefeiert hat. «Wir sind natürlich alle vom Wahlkampf begeistert», sagt Taylor, schickt dann aber eine Warnung hinterher: Man dürfe sich nicht mit allem, was ab sofort aus dem Rathaus kommen werde, zufriedengeben, nur weil ein Genosse das Sagen habe. Mamdanis Ziel, den Mietpreis der rund eine Million regulierten Wohnungen einzufrieren, sei zwar ein guter Anfang, so Taylor, doch längst nicht genug. Die Zahl der regulierten Wohnungen müsse deutlich wachsen, und deshalb müsse auch über Enteignungen diskutiert werden. «Druck von aussen», fordert Taylor.

Josie Wells diskutiert in einer Kirche mit mehreren Personen
«Ich war sofort angefixt»: Josie Wells (Mitte) fand zu einer New Yorker Mieter:innengewerkschaft, weil sie einen besseren Mietvertrag wollte. Inzwischen gehe es aber um viel mehr, um die Gemeinschaft und darum, wie das Zusammenleben in der Stadt für alle angenehmer sein könnte.

Dann tritt Josie Wells auf die Bühne, eine Schwarze Frau mit Hornbrille und Tuch um die Haare. «New York», steht auf ihrem hellgrauen Pullover. «Flatbush, baby!», ruft sie, so heisst das Viertel, aus dem sie kommt. Auf ihre Heimat, das merkt man schnell, ist Wells stolz.

Als Wells Anfang Jahr zurück in die Wohnung ihrer Kindheit zog, um dort mit ihrer Mutter zu leben, stellte sie fest, wie abgewirtschaftet das Gebäude war. Flure und Wände seien dreckig gewesen, so berichtet sie es der Assembly, die Heizung sei immer wieder ausgefallen. Im Frühsommer entdeckte Wells einen Flyer der Crown Heights Tenant Union an ihrem Türknauf. «Ich war sofort angefixt», sagt sie. Wells kontaktierte die Gruppe und lernte schnell, dass viele andere Leute in der Stadt unter demselben Eigentümer leiden, der Pinnacle Group. Seit diesem Moment widmet sie den Grossteil ihrer Freizeit der Union of Pinnacle Tenants.

Wells sagt, dass es ihr um mehr gehe, als einen besseren Mietvertrag auszuhandeln. Sie hat in der Gewerkschaft eine Gemeinschaft gefunden. Und sie hat ein neues Bewusstsein dafür entwickelt, wie anders das Zusammenleben in New York sein könnte. «Es fehlen öffentliche Orte», sagt Wells. Die Rentner:innen aus ihrem Haus beispielsweise würden aus Mangel an Alternativen den ganzen Tag an der Bushaltestelle sitzen. «Wäre es nicht schön, wenn sie einen Gemeinschaftsgarten hätten?»

Am Nachmittag bilden sich in der Kirche drei grosse Stuhlkreise, um die Zukunft der Tenant Assembly zu besprechen. Zunächst geht es um demografische Repräsentation. «Ich sehe nicht viele Schwarze hier», sagt Wells. Die anderen nicken. Im Kreis nebenan wird zur gleichen Zeit diskutiert, wie man migrantische Mieter:innen noch besser vor Abschiebungen schützen könne. In vielen Städten haben Tenant Unions in diesem Jahr dabei geholfen, Netzwerke aufzubauen, die vor Razzien warnen. Auch hier zeigt sich eine der grossen Stärken des Modells: Es werden Beziehungen aufgebaut, auf die man in Krisenmomenten zählen kann.

Als am Ende des Tages abgestimmt wird, entsteht ein deutliches Bild: Die anwesenden Mieter:innen wollen die Tenant Assembly formell verstetigen. Feste Strukturen, klar verteilte Aufgaben. Damit der nächste flächendeckende Mietstreik nicht nur eine Forderung bleibt.