Notizen einer Revolution (2): Verfluchte Sonnenaufgänge

Nr. 2 –

Niloofar Rasooli über die jüngsten Hinrichtungen im Iran, stille Trauer und laute Wut.

Illustration der Artikel-Serie: drei in die Höhe gestreckte Frauen-Fäuste

«Der Morgen klammert sich fest um meinen Hals, und dann kommt das Ende.» Dies schrieb die Sängerin Shahrzad am Samstag in Teheran auf Twitter, nur wenige Stunden nach Sonnenaufgang. Im Iran beginnen die Wochen am Samstag und die Sonnenaufgänge mit Hinrichtungen. Durstige Schlingen befinden sich auf der ständigen Suche nach den Hälsen der Protestierenden, nach ihrem Blut. Schon in der zweiten Dezemberwoche hat das Regime Mohsen Shekari und Majidreza Rahnavard hingerichtet, um der Revolution eine Grenze zu setzen. Diese Grenze ist der Schatten der durstigen Schlinge, die über dem Nacken so vieler tanzt. Das Blut aber stillt ihren Durst nicht, sie giert ganz einfach nach mehr.

Am letzten Samstag schlange sich der Strick um den Hals von zwei Männern mit dem gleichen Vornamen. Seyed Mohammad Hosseini, 39 Jahre alt, arbeitete in der Geflügelindustrie, und Mohammad Mehdi Karami, 22 Jahre alt, wuchs unter den besorgten Augen seiner Mutter auf und hausierte zusammen mit seinem Vater auf der Strasse. Beide Mohammads wurden in Karadsch verhaftet, weil sie angeblich an der Ermordung eines Basidsch-Agenten am 3. November 2022 beteiligt gewesen waren. Beiden wurde das Recht auf einen Anwalt verweigert. Beide wurden erhängt, ohne sich von ihren Angehörigen verabschieden zu können. Zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung befand Mohammad Mehdi sich im Hungerstreik, und Seyed Mohammad hatte keine Angehörigen, die seinen Leichnam hätten in Empfang nehmen können. Seine Eltern sind vor fünfzehn Jahren gestorben, und sein Bruder wurde während der Proteste verhaftet und nach zehn Tagen freigelassen, dann verschwand er.

In der jüngeren iranischen Geschichte geht der Akt des Hinrichtens mit der Stummschaltung der Presse einher. Mit der Einsperrung von Journalist:innen, die den Verhafteten eine Stimme gaben. Stummschalten, um zu töten, und töten, um stummzuschalten. Milad Alavi, ein Journalist der Zeitung «Shargh», wurde am Morgen des 1. Januar in Teheran verhaftet. Wird ein:e Journalist:in festgenommen, dann zählen die anderen die Stunden, bis auch ihre Zeit gekommen ist. Nach Milad Alavi traf es Mahdi Beyk, den politischen Chefredaktor der Zeitung «Etemad», für die auch ich einst arbeitete. Vor ihrer Verhaftung hatten beide Gespräche mit Familienangehörigen jener geführt, die zum Tod verurteilt wurden. Durch die Berichte und Tweets von Mahdi Beyk lernten viele Menschen auch die weinende Stimme von Agha Mashallah kennen, dem Vater von Mohammad Mehdi. Stummschalten, um zu töten: Am Tag nach Mahdi Beyks Verhaftung wurde Mohammad Mehdi hingerichtet.

«An diesem traurigen Abend war es auf der Redaktion still», schrieb ein Kollege von Mahdi Beyk später auf Twitter über den Tag von dessen Verhaftung. «Aus dem Lautsprecher von Mahdi Beyks Telefon war die schmerzvolle Stimme des Vaters von Mohammad Mehdi zu hören. Die Stimme von Agha Mashallah war wie die Stimme eines jeden anderen Vaters. Manche weinten still. Ich konnte es nicht ertragen. Ich ging auf die Terrasse, um zu rauchen. Jetzt sind Mohammad Mehdi und Mohammad Hosseini nicht mehr auf dieser Welt.» Was geschieht mit inhaftierten Journalist:innen, die erfahren, dass die Menschen, für die sie schreiben, hingerichtet wurden? Was passiert, wenn sie diese Nachricht hören, ihre Hände im Gefängnis aber nicht eilen können, um zu telefonieren, zu schreiben, zu schreien?

Im Iran sind die Sonnenaufgänge verflucht, und der Morgen bringt schreckliche Nachrichten. Dieser Samstagmorgen klammert sich um die Hälse aller, wie die Sängerin Shahrzad geschrieben hat, so fest, dass er die Wut aus den Tiefen der Kehlen zieht. «Papa! Sie haben die Urteile gegen uns gesprochen; meins ist das Todesurteil, aber ich habe es Mama nicht gesagt. Und du sagst es ihr auch nicht», bat Mohammad Mehdi seinen Vater in einem seiner letzten Anrufe, «damit zu Hause nichts Schlimmes passiert.» Seine Mutter weiss alles. Jetzt bringt sie Blumen und Kerzen an die Gräber beider Mohammads, nennt sie beide ihre Söhne und schliesst sich einer ganzen Schar iranischer Mütter an, die nach Gerechtigkeit schreien.

Niloofar Rasooli (30) lebt seit 2021 in Zürich und doktoriert an der ETH in Architekturgeschichte und -theorie. Sie ist in Zandschan im Nordwesten des Iran aufgewachsen und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin in Teheran.