Notizen einer Revolution (5): «Betet keine Helden an!»
Solmaz Khorsand über unbefriedigende Antworten und die fatale Sehnsucht nach einer Heilsfigur.
«Unsere mangelnde Bereitschaft, in einem offenen Zustand zu leben, unsere Sucht, sofort zur Schlusszeile überzugehen und augenblicklich festzulegen, was am Ende herauskommen soll – das sind doch die wahren Ursachen unserer politischen Inkompetenz», hat der israelische Schriftsteller Amos Oz in seinem Buch «Der dritte Zustand» geschrieben. Die wenigsten halten diesen Zustand aus – umso mehr, wenn die Dinge im Begriff sind, sich zu verändern. Daher waren auch die ersten Fragen, die auftauchten, als die Proteste im Iran Fahrt aufnahmen: Wohin geht die Reise? Wo endet sie? Und wer führt die Bewegung an?
Die Antwort, dass es eine dezentrale Bewegung ist, es keinen – oder noch keinen – «Führer» gibt, hat vor allem im Ausland wenige befriedigt. Sie wollen zur Schlusszeile übergehen, ansonsten ist es gar nicht wert, die Sache länger zu verfolgen. Dann bleibt so ein Protest ja nur, was er immer bleibt in solchen Ländern, nicht wahr? Lediglich ein mutiges Aufflackern wehrhafter Menschen, die keine Chance haben gegen eine Diktatur, die sich mit Zähnen und Klauen zu verteidigen weiss.
Im Exil bemühen sich Oppositionelle, dieses offenen Zustands Herr zu werden. Zum Jahreswechsel haben ein paar iranische Prominente zeitgleich denselben Tweet veröffentlicht: «Mit Organisation und Solidarität wird 2023 das Jahr des Sieges für die iranische Nation sein.» Gepostet haben den Satz Persönlichkeiten wie die Aktivistin Masih Alinedschad, der Fussballer Ali Karimi, Reza Pahlavi, Sohn des letzten iranischen Schahs, und die Schauspielerinnen Golschifteh Farahani und Zar Amir Ebrahimi. Letztere meinte im persönlichen Gespräch, dass es nur eine symbolische Geste war, nicht der erste öffentliche Auftritt einer neu gebildeten politischen Koalition, wie es später interpretiert wurde.
Niemand würde sich aus dem sicheren Ausland entblöden, sich zum «Führer» der Protestierenden zu ernennen. Zumindest nicht direkt, indirekt schon eher. Mit viel Koketterie erklärte sich Pahlavi, den seine Anhänger:innen als «Kronprinzen» bezeichnen, bereit, die Repräsentanz zu übernehmen, wenn man das denn wollen würde. Prompt startete sein Gefolge die Kampagne «Reza Pahlavi ist mein Anwalt» mit dem Wunsch, dass er fürs Erste das Ruder übernehme. Derzeit sorgt sie für viel Diskussionsstoff – von Befürworterinnen und Gegnern, die dezidiert nicht den Sohn des bei der Islamischen Revolution 1979 gestürzten Schahs in dieser Führungsrolle sehen wollen.
Diese Entwicklung ist ein Zeichen dafür, wie schwierig es ist, den «offenen Zustand» auszuhalten. Und wie sehr man gewillt ist, ihn unter der eigenen politischen Inkompetenz zu begraben in Zeiten der Unsicherheit, die so mürbe macht. Damit sich eine iranische Opposition formieren kann, ist dieser Zustand aber essenziell, wie die Autorin Mina Khani in einem Essay in der Zeitung «Analyse & Kritik» erklärt hat: «Die politische Alternative der Iraner:innen kann sich nur in historischen Momenten wie diesen weiterentwickeln, weil die Diktatur das zu anderen Zeiten systematisch verhindert.» Erst in Momenten des Umbruchs kann sich eine politische Alternative zum herrschenden System organisieren und wachsen.
Die Erwartung, dass es ein fertiges Programm in der Schublade gibt, das den Regimesturz der Islamischen Republik ebenso skizziert wie die Zeit danach, ist nicht nur naiv und gefährlich, sondern führt auch zu jenen Schnellschüssen, dass die Bewegung unbedingt «einen Führer» braucht.
Zu oft haben sich die Menschen im Iran nach einer Heilsfigur gesehnt und sich hinter ihr versammelt, die sie dann ins Verderben geführt hat, wie Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi 2004 in einem Interview beklagte: «Die Leute suchen einen Helden, und das ist der grösste Fehler.» Auch sie wollte man, unmittelbar nachdem sie den Preis gewonnen hatte, zur Heldin machen – Ebadi sollte im Namen aller sprechen. Die Menschenrechtsanwältin weigerte sich: Das müsste jede:r schon selbst tun. «Betet keine Helden an. Helden sterben, sie scheitern, und sie verraten euch sogar. Dieser Heldenkult hat uns hierhergebracht», sagt sie. «Wir müssen diesen Kult abschütteln!» Es ist ein Appell von weltweiter Gültigkeit.
Solmaz Khorsand (37) lebt in Wien und ist Journalistin (unter anderem für die «Republik»), Buchautorin und Podcasterin. 2021 erschien ihr Buch «Pathos» bei Kremayr & Scheriau.