Zweiter Weltkrieg: Verdrängen und Erinnern am Rhein

Nr. 34 –

Die einen glauben, sie seien alle Fluchthelfer:innen gewesen, die anderen erinnern sich vor allem an Anbauschlacht und Rationierung: Die Geschichten, die man sich im Dreiländereck Rheintal über die Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt, unterscheiden sich stark. Woher kommt das?

ein Zaun mit einer Gedenktafel für jüdische Flüchtlinge am Alten Rhein bei Diepoldsau
«Fluchtweg Rohr»: Am Alten Rhein bei Diepoldsau quert seit der Flusskorrektur 1923 ein Rohr die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz.
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Immer wieder rutschen die Füsse auf den glitschigen Steinen des Wanderwegs, der im Zickzack steil hinauf zur Burgruine über dem österreichischen Hohenems führt. Regen prasselt aufs Blätterdach. Das Gewitter hat schon den ganzen Tag drohend in der Luft gelegen, doch die Kühe oben auf dem Schlossberg grasen unbeirrt weiter. Über der Weide erhebt sich die restaurierte Ruine der Burg Alt-Ems. Mit ihren 800 Metern Länge einst die grösste Burganlage Mitteleuropas, wurde sie 1940 während des Nationalsozialismus unter Denkmalschutz gestellt. Von ihrer Wehrmauer aus geht der Blick weit über das ganze Rheintal.

Um sich einen Überblick zu verschaffen, steigt am 9. November 1942 Margarethe Eder auf den Schlossberg – so berichtet sie es später auf einem Schweizer Polizeiposten. Die zwanzigjährige Österreicherin hat bis dahin in einem bayerischen Rüstungsbetrieb gearbeitet, der Giftgas produziert. Im Oktober 1942 droht ihr die Verhaftung wegen kritischer Äusserungen über das nationalsozialistische Regime – sie entscheidet sich für die Flucht.

Nun betrachtet sie das Rheintal von der Burgruine Alt-Ems. Ein Flickenteppich aus grünen Feldern, einzelnen Baumgruppen, Scheunen und Häusern. Im Norden verliert sich der Horizont über dem verhangenen Bodensee. Im Süden liegt, von Baumkronen verborgen, das kleine Fürstentum Liechtenstein, das sich an die Eidgenossenschaft anlehnt und es sich doch nicht mit dem Deutschen Reich verscherzen will. Geradeaus, viel wichtiger für Margarethe Eder, erheben sich die geschwungenen Appenzeller Hügel und die schroffen Flanken des Alpsteins in der neutralen Schweiz.

Im Krieg segregiert

Der kanalisierte Rhein, ein mächtiger Strom, trennt das schweizerische Rheintal vom österreichischen Vorarlberg. Mit einer Ausnahme: Die Schweizer Gemeinde Diepoldsau liegt seit der Rheinbegradigung von 1923 auf der ansonsten österreichischen Flussseite. Die Landesgrenze verläuft entlang des Alten Rheins, des von Auwald und stehenden Gewässern geprägten, abgetrennten Flussarms. Die Zollbrücke zwischen Diepoldsau und Hohenems ist streng bewacht, also will sie es über den Alten Rhein versuchen, beschliesst Margarethe Eder.

Die erste Nacht ihrer Flucht verbringt sie auf dem Damm in der Mitte des Flussarms, die zweite bereits bei einer Scheune auf Schweizer Boden. Die dritte im Kantonsspital St. Gallen, wo sie aufgrund von Erfrierungen an den Füssen eingeliefert wird. Sie hat es geschafft. Später reist Eder allerdings wieder nach Österreich, 1944 wird sie in Berlin wegen Spionage hingerichtet.

Portraitfoto von Margarethe Eder
Margarethe Eder (1922–1944)

Margarethe Eder war eine von Tausenden Geflüchteten, die nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 versuchten, über das Rheintal die Schweiz zu erreichen, um der Verfolgung und dem sicheren Tod zu entkommen. Darunter waren viele Jüdinnen und Juden, aber auch politische Gegner:innen der Nazis, Deserteure sowie Kriegsgefangene, Zwangs- und Fremdarbeiter:innen aus dem Osten. Die Grenzen wurden bei Kriegsbeginn dichtgemacht und streng bewacht. Das Rheintal, eine Region der zahlreichen persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen, wurde segregiert. Obwohl unmittelbar benachbart, erlebte die Bevölkerung links und rechts des Rheins den Krieg ganz unterschiedlich – und erinnert sich heute auch unterschiedlich an diese Zeit.

Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schliessen sich nun zum ersten Mal Museen aus Liechtenstein, Österreich und der Schweiz für ein grenzübergreifendes Gedenkprojekt zusammen: «Gemeinsam erinnern im Rheintal. 1938–1945». Initiiert hat das Projekt Sonja Arnold vom Regionalmuseum Prestegg im sankt-gallischen Altstätten. «Für die Grenzregion Rheintal, wo auch die Schweizer Bevölkerung den Zweiten Weltkrieg in unmittelbarer Nähe miterlebte, ist das Gedenkjahr 2025 besonders bedeutend», erklärt Arnold, während sie durch das Regionalmuseum führt. Sie finde es erstaunlich, wie wenig in der Schweiz über den Zweiten Weltkrieg gesprochen werde. Auch der zunehmende Antisemitismus bereitet ihr Sorgen. «Ich fand: Wir als Museen haben die Pflicht, etwas dagegen zu tun.» Arnold konzipierte daraufhin zusammen mit dem Jüdischen Museum Hohenems und dem Liechtensteiner Landesmuseum das Ausstellungsprojekt. Es soll die Erfahrungen der lokalen Bevölkerung während des Krieges in den drei Ländern thematisieren und sie auch als Spiegel globaler Geschichte begreifbar machen. Es sei ausserdem «eine Einladung, sich zu erinnern und gemeinsam nach vorne zu schauen», eine über die Grenzen hinweg verbindende Erinnerungskultur zu schaffen.

Doch wie entwickelte sich die Erinnerungskultur im Dreiländereck, einer Region, die stellvertretend steht für viele, die an der Schweizer Grenze liegen, in den vergangenen achtzig Jahren? Woran erinnerte man sich – und woran nicht?

Dorfkern von Hohenems
Hohenems hatte ab dem 18. Jahrhundert einen bedeutenden jüdischen Bevölkerungsanteil – weil Jüdinnen und Juden in Vorarlberg nur dort wohnen durften.

Synagoge wird Feuerwehrwache

Aus einem Eckzimmer der Villa Heimann-Rosenthal, wo heute das Jüdische Museum Hohenems untergebracht ist, blickt man auf hohe Platanen. Durch die Tür ist das laute Schwatzen der Schulklasse zu hören, die auf den Beginn einer Führung wartet. In diesem Zimmer lebte Clara Heimann-Rosenthal, die letzte jüdische Bewohnerin der spätklassizistischen Villa, nachdem sie den Familienbesitz 1936 an einen Arzt verkauft hatte. 1940 wurde sie nach Wien zwangsumgesiedelt, von dort erfolgte ihre Deportation ins KZ Theresienstadt, wo sie 1942 ermordet wurde.

Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums, sitzt an einem breiten Konferenztisch in ebenjenem Eckzimmer. «Spannend an diesem Ausstellungsprojekt ist, dass so unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte zusammentreffen», erklärt der Publizist und Ausstellungsmacher. «Die Erinnerungskulturen und Erinnerungspolitiken sind auf Schweizer und auf österreichischer Seite nicht identisch. Manche Dinge sind hier ein Tabu, aber drüben wichtig, und umgekehrt.» Loewy hat in den vergangenen Jahren unzählige Fluchtgeschichten aus der Grenzregion recherchiert – darunter auch die von Margarethe Eder. Zusammen mit seinen Kolleginnen Barbara Thimm und Christina Nanz kuratiert er die Ausstellung «Rettende Schweiz? Flucht im Rheintal», die ab Ende August im Museum Prestegg in Altstätten zu sehen sein wird (vgl. «Zu den Ausstellungen»).

Zu den Ausstellungen

Unter dem Titel «Gemeinsam erinnern im Rheintal. 1938–1945» finden ab Ende Sommer verschiedene Ausstellungen im Dreiländereck Rheintal statt: «Rettende Schweiz? Fluchtversuche im Rheintal» und «Im Schatten des Krieges. Alltag im Rheintal» laufen vom 31. August 2025 bis Ende Januar 2027 im Museum Prestegg in Altstätten SG. «Nah am Krieg. Liechtenstein 1939 bis 1945» ist bis am 11. Januar 2026 im Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz zu sehen. Verschiedene Lokalmuseen beteiligen sich mit Veranstaltungen.

Seit 2022 besteht ausserdem der vom Jüdischen Museum Hohenems konzipierte Hörradweg «Entlang der Grenze»: Über hundert Kilometer zwischen Lindau (D) und Partenen (A) sind an Audiostationen Fluchtgeschichten zu hören, darunter auch die der im Text erwähnten Margarethe Eder. 2025 wurde der Radweg um einige Geschichten erweitert.

Infos zum Ausstellungsprojekt: www.gemeinsam-erinnern.ch.

Interaktive Karte zum Hörradweg: www.ueber-die-grenze.at.

 

Auf einem Spaziergang durch die Hohenemser Altstadt lässt sich an verschiedenen Ecken beobachten, wie sich die Erinnerungskultur über die Zeit verändert hat – woran sich die Hohenemser:innen nach dem Krieg erinnerten und worüber sie lieber geschwiegen haben. Auf den ersten Blick fallen die ehemaligen jüdischen Häuser als solche kaum auf. Nur wer genau hinschaut, erkennt die Einbuchtungen für die Mesusa – eine Kapsel, die eine Pergamentrolle mit kurzen Thoraabschnitten enthält – an der rechten Seite des Eingangs einiger Häuser. Dicht an den Schlossberg gedrängt, teilt sich die Altstadt in zwei Strassen: Die früher als «Israelitengasse» und «Christengasse» bezeichneten Häuserzüge zeugen von der jahrhundertelangen Trennung, aber auch Koexistenz der beiden Religionsgemeinschaften.

Seit dem 17. Jahrhundert hatte sich eine grosse jüdische Gemeinde im Vorarlberger «Städtle» gebildet. Um 1862 wohnten 564 Jüdinnen und Juden in Hohenems. Es gab eine Mikwe – ein Badehaus –, eine jüdische Schule, eine Synagoge, einen Friedhof, ein jüdisches Armenhaus und ein Kaffeehaus. Ab 1867 verkleinerte sich die jüdische Gemeinde aber rasant – mit der Aufhebung der Wohnsitzeinschränkungen in Österreich und der Schweiz zogen viele Jüdinnen und Juden in grössere Städte. 1938 zählte die jüdische Gemeinde nur noch 16 Mitglieder, von denen 7 die Flucht gelang. Die Verbliebenen wurden nach Wien umgesiedelt und von dort in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Nach dem Krieg kommt die Erinnerung an das Schicksal der Hohenemser Jüd:innen in das Städtchen zurück. Hunderte Überlebende des Holocaust werden hier zwischenzeitlich untergebracht. Die Hohenemser:innen beäugen die zumeist streng religiösen Jüdinnen und Juden aus Osteuropa misstrauisch. Sie sind ihnen fremd und wecken unangenehme Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. «Niemand hier wollte sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen», erklärt Loewy. Lieber wollte man vergessen.

Gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit der Synagoge, die – mittlerweile äusserlich wieder weitgehend in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt – hellgelb getüncht, mit gewölbten Fenstern an einem kleinen Platz mitten in der Altstadt steht. Aus dem Dachstock erklingt Klaviergeklimper, heute ist hier unter anderem eine Musikschule untergebracht.­

Die 1772 erbaute, bedeutende Barocksynagoge hatte den Zweiten Weltkrieg relativ unbeschadet überstanden. Nach dem Krieg erwarb die Gemeinde die Synagoge und baute sie 1955 zu einem Feuerwehrhaus um. Es gibt Fotos aus dieser Zeit: Vom ehemaligen Sakralraum mit seinen Deckenbemalungen, den lichtdurchfluteten Räumen und hohen Fenstern ist nichts mehr zu erkennen. Stattdessen hängt im niedrigen, künstlich beleuchteten Raum Feuerwehrkleidung, stehen blaue Plastiktonnen herum und ein roter Wagen. An der Decke steht: «Gott zur Ehr – Dem Nächsten zur Wehr».

«Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beginnt hier eigentlich erst Ende der siebziger und dann vor allem im Verlauf der achtziger Jahre», sagt Loewy. Zu dieser Zeit flammt in Österreich die Debatte um die NS-Vergangenheit des späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim auf – eine Zeit der Aufarbeitung beginnt, nachdem man sich bis dahin vor allem als erstes Opfer der Deutschen dargestellt hatte.

In Hohenems, das 1983 zur Stadt erhoben wird, bildet sich zur selben Zeit «ein antagonistisches Bündnis», wie es Hanno Loewy nennt: «Jene, die kritische Geschichte von unten betrieben, und jene, die ein nostalgisches Interesse an der Bewahrung alter Bausubstanz hatten, schlossen sich zusammen.» In der Folge kaufte die Stadt die verfallende Villa Heimann-Rosenthal, in der im April 1991 schliesslich das Jüdische Museum eröffnet wurde.

Heute erinnern ein Brunnen, verschiedene Tafeln und Stolpersteine an das jüdische Erbe des Städtchens und die von hier in alle Welt aufgebrochenen Familien. Es seien auch sie, die die Erinnerung an ihre gemeinsame Geschichte auf besondere Weise pflegten, betont Loewy: «So kümmert sich beispielsweise ein Schweizer Verein um den Friedhof, ein Verein aus den USA unterstützt das Museum. Und regelmässig treffen sich die Familien zu Zusammenkünften in Hohenems oder anderswo.»

Was die Erinnerung in Hohenems über die letzten Jahrzehnte ebenfalls auszeichnet: Dass Menschen wie Margarethe Eder sich entschlossen, über den Alten Rhein zu flüchten, und dabei oftmals die Hilfe von Schleppern in Anspruch nahmen, entwickelte sich unter den Bewohner:innen der Stadt über die Jahrzehnte zu einer beliebten Erzählung. «Die Hohenemser haben immer so getan, als ob sie alle Fluchthelfer gewesen wären», so Loewy. Ganz im Gegensatz zur schweizerischen Seite des Rheintals, wo man das Thema Fluchthilfe lange Zeit lieber vergessen wollte.

Luftaufnahme des Rheintal mit Rhein, alten Rhein und der Gemeinde Diepoldsau
Der Rhein wurde verschoben, die Grenze blieb: Diepoldsau liegt heute als einzige Schweizer Gemeinde im Rheintal rechts des Rheins.

Spätes Gedenken

Es ist ein stetes Kommen und Gehen auf der Paul-Grüninger-Brücke. Der Zoll ist an diesem Sommertag auf beiden Seiten besetzt, Autos, Lastwagen, Fahrräder, ein Linienbus rollen dicht an dicht über die kleine Brücke zwischen Diepoldsau und Hohenems. Ein Hund der Grenzpolizei bellt, Grasmücken singen.

Lange war die unauffällige Brücke namenlos gewesen, 2012 wurde sie nach dem Rheintaler Polizeihauptmann Paul Grüninger benannt. Der Beamte hatte 1938 und 1939 trotz der Bundesorder, Geflüchtete an der Grenze abzuweisen, Hunderten Juden und Jüdinnen die Einreise in die Schweiz ermöglicht, indem er Einreisestempel vordatierte oder anderweitig Dokumente fälschte. 1939 wurde er deshalb entlassen und fand bis zu seinem Lebensende nie mehr eine feste Anstellung. Rehabilitiert wurde er erst post mortem – nach der Veröffentlichen des Buchs «Grüningers Fall» von WOZ-Autor Stefan Keller –, 1993 von der St. Galler Regierung, 1994 vom Bundesrat.

Gedenktafel auf der Paul-Grüninger-Brücke
Der Schweizer Polizeikommandant Paul Grüninger wurde 1939 entlassen, weil er Hunderten zur Flucht verholfen hatte. Erst in den neunziger Jahren wurde er posthum rehabilitiert.

Das war auch die Zeit, in der der Bundesrat auf zunehmenden in- und ausländischen Druck eine unabhängige Untersuchungskommission unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier einsetzte, die erstmals umfassend die Schweizer Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg aufarbeitete. Nun begann sich auch die Schweizer Gedenkpolitik zu verändern. Noch 1989 hatte die Schweiz als einziges Land in Europa fünfzig Jahre Mobilmachung und damit den Beginn des Krieges gefeiert. In den nuller Jahren schloss sich die Schweiz schliesslich dem internationalen Gedenken an die Shoah an. Nun wurden nach und nach auch andere ehemalige Fluchthelfer:innen aus dem Rheintal rehabilitiert.

2023 beschloss der Bundesrat schliesslich, in Bern ein nationales Holocaustdenkmal zu errichten. Ausserdem – die Zollpolizisten vor Ort wissen auf Nachfrage zwar noch nichts davon – soll im alten Zollhaus von Diepoldsau, gleich an der Grenze, ein Vermittlungszentrum entstehen, das an die Schicksale der geflüchteten Menschen erinnert. Für das Jüdische Museum Hohenems, das dieses Zentrum gestalten wird, ist das Ausstellungsprojekt auch eine Möglichkeit, dafür erste Erfahrungen zu sammeln.

der Grenzübergang bei Diepoldsau
Grenzübergang Diepoldsau: Im alten Zollhaus soll künftig ein Vermittlungszentrum an die Schicksale der geflüchteten Menschen erinnern.

«Wir waren so arm»

Die Fluchtgeschichten zeigen nur eine Seite des Alltags während des Krieges. Für die Rheintaler:innen auf Schweizer Seite standen oftmals ganz andere Sorgen im Vordergrund. Wie sich die letzten Zeitzeug:innen heute noch daran erinnern, will Margit Bartl-Frank herausfinden.

Nicht weit von der Diepoldsauer Zollbrücke, im Alterszentrum Rheinauen – moderner roter Betonbau mit ausladenden Terrassen –, treffen sich an einem Junitag um zehn Uhr morgens Heimbewohnerinnen zum Erzählcafé mit der freischaffenden Künstlerin und Kuratorin. Bartl-Frank ist selbst im österreichischen Feldkirch, der grössten Stadt im Rheintal, aufgewachsen. Ihr Vater und ihr Onkel kamen traumatisiert aus dem Krieg zurück – «zu Hause wurde nicht darüber gesprochen».

Für die Ausstellung «Im Schatten des Krieges. Alltag im Rheintal», die ab Ende August im Museum Prestegg gezeigt wird und die sie zusammen mit Ursula Stadlmüller kuratiert, organisiert Bartl-Frank in verschiedenen Altersheimen im Rheintal solche Runden. Heute haben sich in Diepoldsau fünf Frauen, zwischen 84 und 89 Jahre alt, in der Kapelle des Heims versammelt, einem schlichten Raum mit kleinem, blumengeschmücktem Altar. Durch das Fenster sieht man über Bäume am Alten Rhein hinweg ins Vorarlbergische. Die Frauen erzählen lebhaft, sprechen durcheinander, unterbrechen sich immer mal wieder und berichten davon, wie sie die Zeit zwischen 1938 und 1945 als Kinder erlebt haben.

«Wir waren arm. So arm. Wir haben zweimal am Tag Riebel gekriegt.»

«Wenn man Bohnen gespitzelt hat, hat man einen Sack voll Bohnen geholt und musste die abgeschnittenen Bohnenspitzen zurückbringen in einem Sack als Beweis, dass man nichts weggenommen hat.»

In Diepoldsau war der Krieg immer sehr nahe – hier befand sich das lokale Auffanglager, in dem die Geflüchteten aus dem Dritten Reich endlosen administrativen Prozessen und einer ungewissen Zukunft entgegensahen, hier fuhren Bauern mit dem Traktor über die Grenze, um drüben ihren Acker zu bestellen, und hier erreichten im Mai 1945 auch Schüsse der Alliierten das Dorf, weil diese Diepoldsau versehentlich Österreich zugerechnet hatten.

«Ich bin in der Küche immer unter den Tisch gekrochen, wenn ich gehört habe, dass geschossen wird. Und ich weiss noch, wo sie zum Zoll mit einer weissen Fahne hinaus sind, um zu sagen: ‹Wir sind Schweizer.›»

Heilsfigur Guisan

Rationierung, Anbauschlacht, die nahen Gefechte – das waren auch die Geschichten, die Erich Gubelmann als Kind in den sechziger Jahren zu hören bekam. «Meine Mutter erzählte mir von der Bombardierung von Friedrichshafen, vom schaurigen Lichtspektakel und wie die Fensterscheiben zitterten.» Der Lokalhistoriker mit Jahrgang 1958 wohnt in Berneck, einem St. Galler Dorf mit knapp 4000 Einwohner:innen. Wie in vielen Rheintaler Gemeinden liegt der schmucke alte Ortskern etwas erhöht – vor der Rheinbegradigung kam es öfter zu Überschwemmungen –, unten in der Ebene reihen sich Einfamilienhäuser aneinander, mit Rasenmährobotern im Garten und Blick auf die Rebhänge.

Über Paul Grüninger, der im Nachbardorf Au begraben liegt, sei unter den jungen Bernecker Buben damals kaum gesprochen worden, «und das, obwohl ich einen seiner Urenkel kannte», erinnert sich Gubelmann, der sich seit zwanzig Jahren im Ortsmuseum Berneck engagiert und verschiedene Unterlagen zum Ausstellungsprojekt beisteuerte. Erst im Verlauf der achtziger Jahre sei das Schicksal der Geflüchteten und Fluchthelfer im Dorf vermehrt zum Thema geworden. Bis dahin hatten die Bernecker:innen einen anderen Helden. «Für uns war General Guisan eine absolute Heilsfigur, sein Name war immer in aller Munde», so der Lokalhistoriker.

Henri Guisan, Oberbefehlshaber und General der Schweizer Armee, besuchte die Gegend um Berneck mehrmals. Im Hügelzug nördlich des Dorfes, zwischen den Dörfern Au und St. Margrethen, baute die Schweizer Armee zwischen 1938 und 1941 die Festung Heldsberg, ein Artilleriewerk, das die Schweiz von Nordosten absichern sollte. Von aussen ist die Anlage – heute ein Museum – kaum mehr zu erkennen. Nur ein kleines rotes Chalet hat auf den zweiten Blick eine eigentümliche Fensterfassade im Erdgeschoss – ein ehemaliger Schiessstand.

An anderen Orten im Schweizer Rheintal sind die militärischen Spuren des Krieges noch besser zu erkennen. Etwa oberhalb von Altstätten, wo noch mancher Bunker neben Wohnhäusern steht und sich Zähne aus Beton dem Hang entlang aneinanderreihen. Esel und Kühe grasen neben den einstigen Panzersperren im ländlichen Idyll. Immer wieder reissen die Regenwolken auf und geben den Blick frei aufs Rheintal. Mitten hindurch fliesst der Rhein, der alles trennt und verbindet.