Krieg gegen die Ukraine: «Wir hoffen, Maxim wiederzusehen, bevor einer von uns stirbt»
Vom bekannten ukrainischen Menschenrechtler Maxim Butkewitsch fehlt jede Spur. Sein Schicksal stehe für das von Tausenden Kriegsgefangenen, warnt seine Mutter.
Maxim Butkewitsch, Menschenrechtler und überzeugter Pazifist, schloss sich nach dem Angriff Russlands den ukrainischen Streitkräften an. Im Juni 2022 geriet er in russische Kriegsgefangenschaft. Im März dieses Jahres verurteilte ihn ein Gericht in Luhansk zu dreizehn Jahren Haft unter verschärften Bedingungen, im August bestätigte ein Moskauer Gericht im Berufungsverfahren das Urteil. Ihm wurde vorgeworfen, zwei Zivilistinnen in Sjewjerodonezk verletzt zu haben – zu einem Zeitpunkt, als er sich noch gar nicht in Frontnähe befand.
WOZ: Frau Butkewitsch, wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Sohn direkt gesprochen?
Jewgenija Butkewitsch: Am 2. September 2022. Er befand sich im Zimmer eines Strafermittlers. Dieser gab ihm sein Telefon, damit Maxim jemanden bitten konnte, eine Kopie seines Ausweises zu schicken. Maxim sagte, gegen ihn würde ein Strafverfahren eingeleitet, um ihn später gegen einen russischen Offizier auszutauschen. Deshalb klang er recht optimistisch und gab seinen Lieblingssatz von sich: «Ich rufe euch in ein paar Tagen an.»
Seither ist mehr als ein Jahr vergangen. Kürzlich hat ein Journalist den Kremlsprecher Dmitri Peskow nach Ihrem Sohn gefragt. Peskow antwortete, die Strafvollzugsbehörde sei nicht verpflichtet, den Aufenthaltsort von Verurteilten mit hohen Haftstrafen mitzuteilen. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?
Für einen Moment haben wir vergessen, dass wir im 21. Jahrhundert leben, in einer angeblich zivilisierten Welt. So etwas kann doch nicht sein! Das Gesetz besagt, dass innert zehn Tagen nach der Ankunft in einer Strafanstalt die Kontaktperson eines Gefangenen zu benachrichtigen ist.
Was wissen Sie über seinen momentanen Verbleib?
Seit dem Berufungsverfahren im August wissen wir rein gar nichts mehr. Deshalb haben wir jetzt auch Alarm geschlagen. Über private Kanäle haben uns Gerüchte erreicht, dass Maxim aus dem Untersuchungsgefängnis verlegt wurde – aber niemand weiss, wohin. Sowohl die Anfragen eines in Russland lebenden Onkels wie auch seines Anwalts blieben unbeantwortet. Dieser hat nun Beschwerde bei der russischen Menschenrechtsbeauftragten eingelegt.
Maxim Butkewitsch ist in der Ukraine ein bekannter Menschenrechtler. Wie ist das für Sie als Eltern, plötzlich in die Rolle schlüpfen zu müssen, den eigenen Sohn vor offenkundigem Unrecht zu schützen?
Wir sind beide über siebzig und hatten vorher nichts mit Menschenrechtsaktivismus am Hut. Als Maxim in Kriegsgefangenschaft geriet, erklärte man uns, wo wir uns zu melden hätten. Es begannen die qualvollsten Tage unseres Lebens. Wir kannten ja die Bilder von Kriegsgefangenen – die Diskrepanz zwischen unserem Leben und jenem von Maxim war kaum zu ertragen. Zwei Wochen lang hielten wir still, wie es uns von den ukrainischen Behörden gesagt worden war, um mögliche Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch nicht zu gefährden. Gleichzeitig lasen wir russische Publikationen, in denen Maxim als Nazi und Spion verunglimpft wurde – er, der Pazifist und Menschenrechtler! Schliesslich kontaktierten wir den ukrainischen Geheimdienst: Man könne nicht schweigen, während sich die russische Seite in übelsten Beschimpfungen ergehe. Sie haben unsere Position kommentarlos zur Kenntnis genommen.
Daraufhin sind Sie selbst aktiv geworden?
Ja, wir haben Dutzende Interviews gegeben und von unserem Sohn erzählt, der sein ganzes Leben dem Schutz der Menschenrechte verschrieben hat. Irgendwann war uns klar geworden, dass er darin den Sinn seines Lebens sah. Wir waren im EU-Parlament zu Gast, haben mit deutschen Abgeordneten gesprochen. Wir schlossen uns auch mit anderen Angehörigen von Mitgliedern jener Einheit zusammen, die Maxim angeführt hatte und mit denen er zusammen in Kriegsgefangenschaft geriet. Wir haben alle gefunden – bis auf Maxim. Vier von achtzehn kehrten im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zurück.
Bei Ihrem letzten Gespräch sagte Ihr Sohn, auch er würde nach seiner Verurteilung ausgetauscht werden. Nun liegt ein Urteil vor, einen Austausch gibt es nicht. Was bedeutet das?
Die Stellen, die auf der ukrainischen Seite für den Gefangenenaustausch zuständig sind, kommunizieren prinzipiell nicht mit den Angehörigen. Stattdessen ertönt die immer gleiche Phrase: «Wir holen alle zurück.» Seit drei Monaten werden überhaupt keine Gefangenen mehr ausgetauscht.
Es gibt Tausende ukrainische Kriegsgefangene. Wie geht die Gesellschaft mit diesem Thema um – und wie tun es die Familien?
Frauen, Mütter, Schwestern und Töchter haben sich organisiert und vielfältige Aktionen umgesetzt: Wir haben in diversen Städten demonstriert, waren mit der Forderung nach einem Gefangenenaustausch bei der Präsidialadministration zu Gast, haben Videos der Gefangenen im Internet verbreitet. Bei unseren Reisen nach Europa wiesen wir darauf hin, dass Russland das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen nicht einhält. Die Ukraine hält sich an diese Regel. In Russland bewegen sich ukrainische Kriegsgefangene im rechtsfreien Raum, das ist uns deutlich vor Augen geführt worden.
Ihr Sohn ist also kein Einzelfall? Ihrem Vorgehen nach zu urteilen, ist die russische Seite sich ja sehr wohl darüber im Klaren, dass sie mit ihm ein Faustpfand in der Hand hält.
Auf Social Media hiess es damals, Maxim sei «ein fetter Fang» und solle nicht eingetauscht, sondern hart bestraft werden. Inzwischen höre ich aus den Kommentaren russischer Expert:innen heraus, das Strafvollzugssystem sei derart degradiert, dass Angehörige nicht über den Verbleib von Häftlingen informiert würden und ihre Suche oft erst nach Monaten erfolgreich sei. Mir fällt es schwer nachzuvollziehen, dass so etwas überhaupt möglich ist. Kyjiw stellt gerade den Bau eines zweiten, speziell für russische Kriegsgefangene errichteten Lagers fertig, plant ein drittes. Die Zahl der Gefangenen nimmt zu, ihr Unterhalt kostet den Staat umgerechnet rund 250 Franken pro Person im Monat, während meine Rente 135 Franken beträgt. Weil ich jetzt auch irgendwie zum Kreis der Menschenrechtler:innen zähle, leuchten mir die Argumente für die Einhaltung internationaler Konventionen ein. Menschen ohne Bezug zum Thema sind aber, gelinde gesagt, extrem wütend.
Was bleibt, ist also die Hoffnung auf einen Gefangenenaustausch. Was muss passieren, damit es doch noch so weit kommt?
Wir wissen nicht genau, nach welchen Vorgaben so etwas abläuft, warum die einen nach Hause durften und andere nicht. Wir Angehörigen haben unsere Aktionen eingestellt, es ist alles gesagt. Die Behörden haben innert eines Jahres 2000 Gefangene zurückgeholt, doch die Zahl der verbliebenen beträgt ein Vielfaches. Alle haben Verwandte, es sind also Hunderttausende Ukrainer:innen direkt betroffen. Mein Mann und ich hoffen, Maxim wiederzusehen, bevor einer von uns stirbt. Das erste Jahr haben wir uns noch gut gehalten, aber die Anspannung macht uns immer mehr zu schaffen. Doch wir müssen durchhalten, diese Einsicht allein hält uns am Leben.
Nachtrag vom 24. Oktober 2024: Maxim Butkewitsch ist frei
Für einmal kommen aus der Ukraine erfreuliche Nachrichten: Unter Vermittlung der Vereinigten Arabischen Emirate haben Russland und die Ukraine letzten Freitag je 95 Kriegsgefangene ausgetauscht. Unter diesen ist auch der profilierte Menschenrechtler, Journalist und «No Border»-Aktivist Maxim Butkewitsch, der nach fast zweieinhalb Jahren russischer Kriegsgefangenschaft nun wieder in Kyjiw ist.
Der bekennende Pazifist hatte sich im März 2022, kurz nach Beginn der russischen Vollinvasion, freiwillig für den Militärdienst gemeldet. Im Juni geriet Butkewitsch nach nur wenigen Tagen an der Front in Gefangenschaft; später verurteilte ihn ein Gericht in der von Russland annektierten «Volksrepublik» Luhansk zu dreizehn Jahren Haft unter verschärften Bedingungen – in einem konstruierten Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zur Last gelegt worden war ihm unter anderem, Granaten auf ein Wohnhaus in der Stadt Sjewjerodonezk abgefeuert zu haben. Wie ukrainische Journalist:innen herausfanden, war Butkewitsch zur angeblichen Tatzeit allerdings noch gar nicht im Einsatz, sondern noch in Kyjiw.
Er habe seine Freilassung noch nicht vollends realisiert, sagte Butkewitsch in einem Interview mit dem unabhängigen ukrainischen Radiosender Hromadske, den er einst selbst mitbegründet hat. Es sei wichtig, dass andere Kriegsgefangene vom Austausch erfahren würden und so um die Möglichkeit einer Rückkehr in die Ukraine wüssten. Allein in seiner Strafkolonie befänden sich vierzig weitere Kriegsgefangene mit jeweils fingierten Urteilen, so der 47-Jährige. «Ich hoffe, dass ihnen meine Freilassung Anlass zur Hoffnung gibt.»
Zeitgleich mit dem Gefangenenaustausch übergab Russland die sterblichen Überreste von rund 500 Gefallenen. Wie die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk auf X kritisierte, habe Moskau allerdings die Rückgabe des Leichnams von Viktoria Roschtschyna verweigert. Die preisgekrönte Journalistin war unter unbekannten Umständen in russischer Kriegsgefangenschaft gestorben.
Im Berliner Anthea-Verlag ist kürzlich der Sammelband «Maksym Butkevych. Am richtigen Platz. Ein ukrainischer Friedensaktivist im Krieg» erschienen.