Bosnien-Herzegowina: Für viele noch immer Feindesland

Nr. 39 –

Die internationale Gemeinschaft fürchtet eine Abspaltung der Republika Srpska und ein Wiederaufflammen der ethnischen Gewalt. Doch die Bevölkerung hofft bei den Wahlen am Wochenende auf Fortschritte in der Verfassungsreform, auf mehr Gleichberechtigung der Frauen und auf ein Ende der politischen Blockade.


«Es hat gute Frauen hier», sagt der bullige, kahlköpfige Taxifahrer bei der Fahrt in die Innenstadt von Banja Luka – und verweist anerkennend auf die dunkelhaarigen Schönheiten, die an diesem lauen Frühherbstabend auf hohen Absätzen entlang der König-Petar-I.-Karadjordjevic-Strasse promenieren.

Sich mit der Attraktivität «ihrer» Frauen zu rühmen, ist das zweifelhafte Privileg von Männern, die ansonsten über den Zustand ihres Landes eine düstere Bilanz ziehen. Die Arbeitslosigkeit in Banja Luka ist gross, und die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten, die in der Verwaltung und im Dienstleistungssektor arbeiten, hat grosse Mühe, mit ihren mageren Löhnen über die Runden zu kommen. Bürgerkrieg und eine Privatisierungswelle haben einen Grossteil der einheimischen Industriebetriebe zum Erliegen gebracht. Die alten Leute können von ihren Renten kaum leben. Auch viele Kriegsveteranen, deren «Verdienste für das Vaterland» von allen Parteien bei jeder Gelegenheit gefeiert werden, fristen ihr Dasein hart am Existenzminimum. Abends sieht man Menschen, die Mülltonnen nach Essensresten durchsuchen.

Die geschichtsträchtige Stadt Banja Luka liegt idyllisch eingebettet in die Ausläufer des Dinara-Gebirges, dem der Fluss Vrbas entspringt, der die Stadt durchfliesst und nordwärts in die sich weitende Save-Ebene strömt. Die zweitgrösste Stadt Bosniens mit rund 225 000 EinwohnerInnen schmückt sich mit zahlreichen Parkanlagen und Alleen. Viele Menschen flanieren durch die Fussgängerzonen, die Kaffeehäuser sind voll besetzt. Die Atmosphäre ist familiär, auf Schritt und Tritt grüssen sich Bekannte, werden Hände geschüttelt.

Als Hauptstadt und administratives Zentrum des Teilstaates Republika Srpska (vgl. «Blockiert und fremdbestimmt» am Schluss dieses Textes) geht es Banja Luka besser als anderen Regionen des Landes. In den letzten Jahren wurde hier viel gebaut und saniert, und die Infrastruktur funktioniert vergleichsweise gut. Verdienste, derer sich Milorad Dodik, der Ministerpräsident der Republik, gerne rühmt – auch wenn ein kürzlich vorgelegter Revisionsbericht andeutet, dass über die Hälfte der für Bauprojekte bestimmten Gelder im Sumpf der Korruption versickert ist.

Platte Slogans, volkstümliche Musik

Es ist unübersehbar: Nächsten Sonntag wird in Bosnien-Herzegowina gewählt. An den Fassaden prangen Plakate, AktivistInnen verteilen Flugblätter, Wahlkampfmobile fahren durch die Strassen und beschallen die PassantInnen aus Lautsprechern mit einem eigentümlichen Gemisch aus platten Slogans und volkstümlicher Musik. Am 3. Oktober werden die Präsidialämter und Parlamentssitze neu bestellt.

Dem durch rigorose Visabestimmungen der Schengen-Staaten isolierten und fast vergessenen De-facto-Protektorat der EU stehe eine Richtungswahl bevor, wird allenthalben beteuert. Die politische Elite streitet heftig über eine Verfassungsreform. So forderte Haris Silajdzic, der bosniakische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, mehrfach die Auflösung der Republika Srpska und die Schaffung eines ungeteilten bosnischen Staates. Er argumentiert – letztmals vor Wochenfrist vor der Uno-Generalversammlung in New York –, die Republika Srpska sei ein Konstrukt, das durch den serbischen Genozid an den BosniakInnen (den bosnischen MuslimInnen) im Bürgerkrieg geschaffen worden sei. Durch eine Stärkung des Zentralstaates möchte Silajdzic das Land aus der institutionellen Blockade erlösen und endlich funktionsfähige Strukturen schaffen. Mit seinem undiplomatischen Vorgehen nährt er allerdings auch Befürchtungen, Bosnien würde in Zukunft vornehmlich der Nationalstaat der BosniakInnen sein und SerbInnen und KroatInnen würden zu Minderheiten degradiert.

Die bösen SerbInnen

Silajdzics Gegenspieler Milorad Dodik nimmt solche Steilvorlagen dankbar an und schürt in der Republika Srpska die Angst vor muslimischer Dominanz. Medienwirksam drohte er mehrfach mit der Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit der Republik von Bosnien. Als völkerrechtlicher Präzedenzfall dient ihm die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Gegenargumente wehrt er damit ab, der «Westen» messe mit zweierlei Mass und stigmatisiere die SerbInnen weiterhin als «die Bösen».

Bereits im Herbst 2008 hatten der Brite Paddy Ashdown, 2002 bis 2006 Hoher Repräsentant in Bosnien, und Richard Holbrooke, der US-Chefunterhändler beim Dayton-Abkommen, in einem viel beachteten, im britischen «Guardian» publizierten Artikel auf die verfahrene Situation aufmerksam gemacht. Sie warnten vor dem «bosnischen Pulverfass» und befürchteten, die Welt schlittere in eine «neue Balkankrise», falls EU und USA nicht ein grösseres Engagement zeigten. Sie forderten unter anderem eine Stärkung des Hohen Repräsentanten, der seinen Einfluss vermehrt geltend machen solle. Die Warnung vor einem Wiederaufflammen der ethnischen Gewalt wie während des Jugoslawienkrieges von 1991 bis 1995 wird in der Berichterstattung über Bosnien gerne reproduziert.

«Die Rede von einem neuen Krieg ist analytisch falsch und politisch gefährlich», hält dem Boris Kanzleiter vom Belgrader Büro der linken deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung entgegen. Die traumatisierte Gesellschaft habe vom Krieg eindeutig «die Schnauze voll» – ein Eindruck, der durch das Gespräch mit PassantInnen in Banja Luka bestätigt wird. Das Schüren von Ängsten scheint einzig dem Machterhalt der klientelistisch organisierten und ethnisch orientierten Parteien zu dienen. Kanzleiter betont, dass sich die in letzter Zeit sehr konstruktive Rolle der Nachbarländer Serbien und Kroatien positiv und stabilisierend auswirke. So bekennt sich Serbiens Präsident Boris Tadic klar zur Souveränität und Integrität Bosniens – und erteilt somit den Sezessionsdrohungen Dodiks eine Abfuhr.

Der Druck der «internationalen Gemeinschaft», der bisher noch vor allen Wahlen in Bosnien aufgebaut worden sei, sei geradezu Wasser auf die Mühlen der nationalistischen PolitikerInnen, finden Natalija Petric und Lana Jajcevic. Die beiden arbeiten als Rechtsberaterinnen der nichtstaatlichen Organisation Udruzene zene (Vereinigte Frauen). Die Anwesenheit des Hohen Repräsentanten mache es nämlich einfach, in Bosnien schlecht zu politisieren, sagt Jajcevic resolut: «Unsere Politiker müssen keinerlei Verantwortung übernehmen.» Im Bedarfsfall könne man alle Schuld auf den Hohen Repräsentanten abschieben.

Die Büros von Petric und Jajcevic sind auf engem Raum im Parterre eines Wohnblocks ausserhalb des Stadtzentrums von Banja Luka untergebracht. Die beiden Juristinnen verorten die Probleme des Landes anderswo, als es die «grossen Männer» der bosnischen und internationalen Politik tun.

Die Vereinigten Frauen sind 1996 ursprünglich als Hilfsorganisation für Kriegsopfer und Flüchtlinge gegründet worden. Bald habe sich jedoch gezeigt, dass häusliche Gewalt gegen Frauen ein massives Problem in der Nachkriegsgesellschaft darstelle. Damals war das Thema in der Öffentlichkeit ein absolutes Tabu. Für die Polizei sei häusliche Gewalt eine private Angelegenheit gewesen, erzählen die beiden. Die Organisation richtete eine Beratungsstelle für Opfer und ein «sicheres Haus» ein, in dem Frauen und Kinder Zuflucht finden können und psychologisch sowie juristisch betreut werden. Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, eigene Missbrauchserfahrungen und durch den Krieg hervorgerufene posttraumatische Belastungen sind bis heute Hauptursachen für die Gewalt gegen Frauen. Von Behörden und Öffentlichkeit würden diese Ursachen jedoch oft als Entschuldigung akzeptiert. So schrecken viele Frauen noch immer davor zurück, sich an die Polizei oder an Beratungsstellen zu wenden.

Harte Grundlagenarbeit

Parallel zur Opferhilfe setzen sich Udruzene zene deshalb dafür ein, dass Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit thematisiert und Politik und Medien dafür sensibilisiert werden. Nach jahrelangem Kampf bestünden heute zwar rechtliche Grundlagen für die Gleichberechtigung der Geschlechter und ein Diskriminierungsverbot zum Schutz der Frauen, sie würden jedoch mangelhaft umgesetzt. Die politische Unterstützung für die Anliegen der Vereinigten Frauen bestehe nur in Worten, beklagen sich Petric und Jajcevic. Die Beteiligung von Frauen an gesellschaftlichen und politischen Prozessen müsse verstärkt werden, damit die Gesetze zum Schutz der Frauen tatsächlich angewandt würden.

Bei den Wahlen 2010 kontaktierten die Vereinigten Frauen deshalb die Kandidatinnen ausnahmslos aller Parteien und organisierten für sie Seminare und Workshops. Die traditionell patriarchalischen Strukturen in Bosnien führen laut Petric dazu, dass die Frauen auf tradierte Rollenbilder reduziert werden und sich gar nicht die Kapazitäten aneignen können, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Selbst wer die Fähigkeit hätte, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, schrecke aus Angst vor Unverständnis und Ablehnung davor zurück.

Die Vereinigten Frauen arbeiten mit NGOs aus ganz Bosnien zusammen. Dies ist in Bosnien auch fünfzehn Jahre nach Kriegsende alles andere als selbstverständlich. Viele SerbInnen betrachten die Bosniakisch-Kroatische Föderation immer noch als «Feindesland» – und umgekehrt. Auch wenn die Kooperation mit Bosniakinnen und Kroatinnen gut funktioniere, seien gewisse Themen noch immer heikel – so die Beurteilung der verschiedenen Bürgerkriegsparteien. «Wir sind ein schizophrenes Volk», sagt Petric. Während sie in Bosnien nie schlicht als Bürgerin, sondern in erster Linie als Serbin (und Frau) wahrgenommen werde, gelte sie im sogenannten «Mutterland Serbien» als Bosnierin. Ein übergeordnetes staatsbürgerliches Bewusstsein sei ein «leider rein theoretisches Konzept». Das Engagement für Bürgerrechte gleiche einem «Kampf gegen Windmühlen». Das Ideal einer Gesellschaft, in der weder die ethnische noch die geschlechtliche Identität eine Rolle spielen, liegt noch in weiter Ferne.

KandidatInnen aus nicht weniger als 47 Parteien bewerben sich bis Sonntag um die Stimmen der WählerInnen. Kaum eine der Parteien hat ein klares politisches Profil. «Es gibt zu viele davon in Bosnien», sagt Jajcevic. «Alle nennen sie sich demokratisch, sozialdemokratisch oder Volkspartei, haben aber weder mit dem Volk noch mit Demokratie oder Sozialismus auch nur das Geringste zu tun.» Seit der Staatsgründung 1995 habe es noch keine Partei gegeben, die, während sie an der Macht war, nicht eine politische Kehrtwende vollzogen habe. Als Paradebeispiel dient der charismatische Dodik, der sich vom liberalen Reformpolitiker zum nationalistischen Polterer gewandelt hat. Eine echte Perspektive vermag der frustrierten Bevölkerung niemand zu bieten. So bleibt zu hoffen, dass am Sonntag zumindest eines gewählt wird: gute Frauen.


Ein Staat, zwei Teilländer, zehn Kantone : Blockiert und fremdbestimmt

Durch das auf der US-Luftwaffenbasis in Dayton ausgearbeitete Friedensabkommen, das die Staatschefs von Bosnien, Serbien und Kroatien im Dezember 1995 in Paris unterzeichneten, wurde die Nachkriegsordnung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina festgelegt. Entlang der Frontlinien des Bürgerkriegs wurde der Staat in zwei Teilländer (Entitäten) – die (Bosniakisch-Kroatische) Föderation Bosnien-Herzegowina und die Serbische Republik (Republika Srpska) – sowie den gemeinsam verwalteten Distrikt Brcko unterteilt. Beide Entitäten verfügen über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Die Föderation ist zudem nach schweizerischem Vorbild in zehn Kantone gegliedert, die über weitgehende Kompetenzen verfügen. Das Staatspräsidium in Sarajevo, der Hauptstadt des Zentralstaates, teilen sich drei männliche Vertreter der drei konstituierenden Ethnien – der BosniakInnen, SerbInnen und KroatInnen. Eine Verfassungsreform ist dringend notwendig, da bisher Hunderttausende von Personen, die aus Mischehen stammen oder Angehörige einer Minderheit sind, von diesen Ämtern ausgeschlossen bleiben. Der Gesetzgebungsprozess verläuft in Bosnien sehr schleppend, da sich die verschiedenen Institutionen gegenseitig blockieren und der aufgeblähte und weitgehend korrupte Verwaltungsapparat riesige Finanzmittel verschlingt.

Die eigentliche Macht in Bosnien liegt in den Händen des Hohen Repräsentanten der «internationalen Gemeinschaft» und EU-Sonderbeauftragten, momentan des Österreichers Valentin Inzko, dessen Amt mit umfassenden Vollmachten ausgestattet ist. Es liegt in seinem Ermessen, Gesetze zu erlassen und Mandatsträger zu ersetzen. Österreich stellt auch das grösste Kontingent an Einsatzkräften der EU (Eufor) im Land und ist der wichtigste ausländische Investor.

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