Wehrpflicht: In Norwegen für Frauen, in Dänemark per Los

Nr. 36 –

Nicht nur in der Schweiz, auch in den skandinavischen Staaten wird rege über die Wehrpflicht diskutiert. Dabei gibt es unterschiedliche Modelle. Eine entscheidende Frage ist die Gleichberechtigung der Geschlechter.

«Wahnsinn, Wahnsinn», twitterte Ingrid Marie Sylte Isachsen vor einigen Wochen, als sich sogar ausländische Medien bei ihr meldeten: «Gerade hat auch die BBC angerufen!» Was die fünfzehnjährige norwegische Jungpolitikerin zu so einer begehrten Interviewpartnerin machte: Norwegens Frauen haben ihr zu verdanken, was zumindest die meisten PolitikerInnen des Landes als ein bislang fehlendes Stück Gleichberechtigung verstanden wissen wollen: die Wehrpflicht für Frauen.

Die soll ab Anfang 2015 in Norwegen eingeführt werden. Und Sylte Isachsen hat den Anstoss dazu gegeben. Die Vorsitzende des Bezirks Trondheim der Sosialistisk Ungdom (Sozialistische Jugend) hatte im März auf dem Parteitag der Sozialistischen Linkspartei einen entsprechenden Antrag eingebracht und so engagiert begründet, dass die Partei, die in der sozialdemokratisch geführten Koalition in Oslo mitregiert, ihr bei der Beschlussfassung einmütig folgte: «In Norwegen soll die geschlechtsneutrale Wehrpflicht eingeführt werden.»

Das löste einen regelrechten Dominoeffekt aus. Nicht nur die übrigen Regierungsparteien, sondern auch die gesamte Opposition mit Ausnahme der Christdemokraten schlossen sich der Initiative an. Mitte Juni segnete das Parlament bei nur fünf Gegenstimmen den Vorschlag zu einer geschlechtsneutralen Wehrpflicht ab. Die sozialdemokratische Verteidigungsministerin Anne-Grete Ström-Erichsen sprach nach der Entscheidung von einem «historischen Tag»: «Wir begehen das Hundertjahrjubiläum des Frauenstimmrechts. Da wird es höchste Zeit, dass Frauen auch beim Militär gleiche Rechte, Pflichten und Möglichkeiten bekommen.» – «Ich bin stolz, dass Norwegen als erstes Nato-Land die geschlechtsneutrale Wehrpflicht einführt», erklärte ihr Parteifreund, Aussenminister Espen Barth Eide. «Und ich bin überzeugt, dass noch viele Länder diesem Beispiel folgen werden.» Werden sie?

Alle oder niemand

In Skandinavien steht Norwegen bislang alleine da. Aber möglicherweise nicht für immer. In Finnland löste das norwegische Beispiel eine eigene Debatte aus. Dabei wird ähnlich wie in Norwegen argumentiert. Dort sahen die BefürworterInnen weiblicher Wehrpflicht als einzig logische Alternative zu diesem Schritt eine Abschaffung der männlichen Wehrpflicht. «Man kann nicht auf der einen Seite gegen geschlechtliche Diskriminierung kämpfen und gleichzeitig an einer Wehrpflicht nur für Männer festhalten wollen», meint die sozialdemokratische Parlamentarierin Anette Trettebergstuen. Solange es eine «allgemeine Wehrpflicht» gibt, habe sie selbstverständlich auch für Frauen zu gelten.

«Das ist noch nicht aktuell, kann es aber werden», so der finnische Verteidigungsminister Carl Haglund auf die Frage, ob Norwegen ein Vorbild werden könne: «Theoretisch ist die Wehrpflicht, so wie sie jetzt besteht, natürlich nicht gleichberechtigt. Aber wir haben ja auch sehr viele Bereiche in der Gesellschaft, in der Männer eine gegenüber Frauen bevorzugte Position haben.» Finnland werde es deshalb vorerst bei der bisherigen männlichen Wehrpflicht belassen. Und wird damit neben der Schweiz einer der letzten Staaten der westlichen Welt bleiben, in dem diese nicht mehr nur auf dem Papier besteht. Als Begründung zur Aufrechterhaltung wird vor allem auf die 1400 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Russland verwiesen. Eine grosse Rolle spielt aber auch eine gefestigte militärische Tradition und Kultur, wie es sie so nirgends sonst in Skandinavien gibt.

An die Aushebung müssen alle achtzehnjährigen Finnen, und rund achtzig Prozent von ihnen leisten dann auch Wehrdienst. Frauen können ihn freiwillig leisten, ihr Anteil liegt gegenwärtig bei unter fünf Prozent.

Kleine Armee, hohe Attraktivität

Schweden hat als erstes skandinavisches Land seit Mitte 2010 auch formal keine Wehrpflicht mehr – in Friedenszeiten, so die von der konservativ-liberalen Regierung seinerzeit ausdrücklich gesetzlich verankerte Einschränkung. In der Praxis war die Wehrpflicht allerdings schon Mitte der neunziger Jahre, nach dem Ende des Kalten Kriegs, obsolet geworden. Wer bei der Aushebung Desinteresse zeigte, wurde von vornherein nicht eingezogen. In den Jahren vor der Abschaffung der Wehrpflicht leisteten weniger als fünfzehn Prozent der Ausgehobenen Militärdienst. Hauptargumente, die Wehrpflicht nach hundert Jahren ganz abzuschaffen, waren denn auch, dass diese sich überlebt habe, der Militärdienst sowieso schon freiwillig sei und die Aufrechterhaltung eines Wehrpflichtsystems die Staatskasse unnötig belaste.

Binnen zweier Jahrzehnte hat das schwedische Militär seinen Charakter grundlegend verändert. Herrschte bis in die neunziger Jahre das Credo vor, Neutralitätspolitik sei nur glaubhaft mit einem starken Militär, und verfügte Schweden mit einer Einsatzstärke von mehr als 600 000 SoldatInnen über die stärkste Militärmacht Skandinaviens, ist das Militärpersonal nun auf 32 000 geschrumpft. Die auf Abwehr eines möglichen Angriffs seitens der Sowjetunion konzipierte «Invasionstruppe» wurde unter dem Motto «kleiner, aber schlagkräftiger» zu einer «professionellen Einsatztruppe» vorwiegend für Auslandsaufträge unter UN-Mandat umgebaut. Der Anteil der gesamten schwedischen Militärausgaben am nationalen Bruttoinlandsprodukt ist seit Beginn der neunziger Jahre von 2,5 auf heute 1,2 Prozent zurückgegangen.

Eine Aushebung findet nicht mehr statt; wer Interesse an einer militärischen Berufslaufbahn hat, kann sich bei der Armee anmelden und – so als geeignet befunden – die dreimonatige «grundlegende Militärausbildung» (GMU) ableisten. Jährlich machen das etwa 4000 Männer und Frauen. Nach der GMU kann man sich wie bei jedem «normalen» Betrieb um freie Militärjobs bewerben. Für Frauen scheint das Militär in Schweden wesentlich attraktiver geworden zu sein: Zwanzig Prozent der Personen, die sich dieses Jahr für die GMU anmeldeten, waren weiblichen Geschlechts.

Genügend Freiwillige

Dänemark, neben Norwegen das zweite Nato-Mitgliedsland in Skandinavien, hält an der Wehrpflicht nach wie vor fest. Nach dem Wehrpflichtgesetz ist «jeder dänische Mann» der Wehrpflicht unterworfen. Die Praxis sieht etwas anders aus. Als erstes nordisches Land hatte Dänemark in den neunziger Jahren das Konzept einer Territorialverteidigungsarmee aufgegeben und durch eine Einsatzarmee mit Ausrichtung auf internationale Aufgaben ersetzt. Das hatte auch Auswirkungen auf die praktische Ausformung der Wehrpflicht.

Zweimal im Jahr werden alle Achtzehnjährigen zum «Tag der Streitkräfte» einberufen und über die Möglichkeiten beim Militär informiert. Männer werden einem Eignungstest unterzogen, Frauen können daran teilnehmen. Geeignete männliche Testabsolventen erhalten eine Losnummer, die darüber entscheiden kann, ob sie zum viermonatigen Wehrdienst – dem kürzesten innerhalb der Nato – eingezogen werden. Theoretisch. Aktuell würde das nur, falls sich nicht genügend Freiwillige zur Ableistung des Wehrdiensts melden. Seit 2010 muss niemand mehr unfreiwillig dienen, da das Quantum von jährlich rund 6000 Wehrdienstleistenden – etwa einem Fünftel eines männlichen Jahrgangs – freiwillig erreicht wurde. Eine Abschaffung der Wehrpflicht wird in Dänemark bislang ebenso wenig debattiert wie eine mögliche Ausdehnung auf Frauen.

Auch in Norwegen, wo das Militär 2015 die ersten wehrpflichtigen Frauen ausheben wird, dürfte sich an der bisherigen Praxis nicht viel ändern. Von den dannzumal 60 000 Jugendlichen pro Jahrgang werden jeweils nur etwa 9000 Wehrpflichtige gebraucht werden. In den eigentlichen Eignungstest werden nur die männlichen und die weiblichen Wehrpflichtigen vorrücken, die sich bei der ersten – schriftlichen – Aushebungsetappe motiviert zeigen. Der traditionell hohe Freiwilligenanteil dürfte dazu führen, dass in der Realität also auch in Norwegen keine Frau gegen ihren Willen Wehrpflicht leisten muss. Jedenfalls in Friedenszeiten.

Feministinnen für GsoA-Initiative : «Weg mit Ersatzvater und Beschützer»

Am 22. September stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Aufhebung der Wehrpflicht ab, die derzeit für alle männlichen Bürger gilt. Eine Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) fordert, dass künftig niemand gezwungen sein soll, Militärdienst zu leisten. An der Milizorganisation der Armee wird festgehalten, eine Berufsarmee ausgeschlossen. Der Zivildienst soll auf freiwilliger Basis weiter bestehen.

Die Wehrpflicht des einzelnen Bürgers wurde zwar in der ersten Bundesverfassung von 1848 festgeschrieben, entsprach aber weit mehr dem Wunsch als der Realität: Weniger als die Hälfte der Wehrpflichtigen leistete Dienst. Erst als die Organisation des Wehrwesens von den Kantonen zum Bund wechselte, konnte die Wehrpflicht tatsächlich durchgesetzt und ein Massenheer aufgebaut werden.

Über den Ersten Weltkrieg wurde die Wehrpflicht mythologisiert, der Staatsbürger und der Soldat als Einheit propagiert. Das Argument, dass nur ein wehrpflichtiger Bürger auch ein voller Bürger sei, wurde von konservativen Kreisen lange gegen das Frauenstimmrecht angeführt.

Fördert es heute eher die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, wenn die Wehrpflicht auch für Frauen eingeführt wird, wie in Norwegen diesen Sommer beschlossen, oder wenn sie für Männer aufgehoben wird? Der feministische Christliche Friedensdienst (CFD) unterstützt die Initiative zur Aufhebung der Wehrpflicht, weil das Militär weiterhin eine «Schule der Männlichkeit» darstelle. Der CFD schreibt: «Der sagenhafte ehr- und wehrhafte Haudegen wurde zwar abgelöst vom Soldaten, der Hightechwaffen abfeuert, vom Experten, der unter schwierigen Umständen wichtige Entscheidungen trifft und Leben rettet, vom Ersatzvater und Beschützer.» Doch dies seien «durchwegs machtstrotzende Mannsbilder, immer noch. Heben wir wenigstens die Verpflichtung dazu auf.»

Kaspar Surber