«Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?»: Macht das Burn-out politisch!

Nr. 38 –

Die Gewerkschaften sollten sich besser mit dem Problem des Burn-outs statt mit dem Lohn beschäftigen. Denn das vorherrschende Effizienzdenken zerstöre auch die menschliche Psyche, meint der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher.

In den Road-Runner-Cartoons von Chuck Jones gibt es diese Szene, als der jagende Kojote plötzlich über eine Schlucht hinausrennt, einige Sekunden in der Luft hängt und erst beim Blick nach unten realisiert, dass er in die Tiefe stürzen wird. Es ist ein Sinnbild für die krisenhafte Gegenwart, die der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Essay «Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?» beschreibt. Eine Gegenwart, in der wir als von neoliberalen Zwängen Gehetzte immer weiterrennen, obwohl wir ahnen, dass der Weg in den Abgrund führt. Doch in einer Zeit, in der die Macht des neoliberalen Effizienzdenkens so gross ist, dass die europäischen Regierungen auf die Finanzkrise nicht mit der Regulierung der Finanzwirtschaft, sondern mit Kürzungen von Sozialleistungen und mit Steuererleichterungen für Gutverdienende reagieren, ist es einfacher, «sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus».

Umarmung

Schuld daran ist der kapitalistische Realismus, «eine Art alles durchdringender Atmosphäre», die unseren beruflichen und privaten Alltag infiziert hat und dabei wirkt «wie eine unsichtbare Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt». Selbst Subkulturen können sich der kapitalistischen Einverleibung nicht entziehen. So war der amerikanische Gangsterrap Fisher zufolge einer der ersten Musikstile, in dem die «naive Hoffnung, dass eine Jugendkultur irgendeine Änderung herbeiführen könnte, schon durch die nüchterne Umarmung einer brutalen, reduktionistischen Version von Realität ersetzt worden» ist. Mit dem Anspruch zu zeigen, wie es wirklich ist, gewöhnt Rap durch die Ästhetisierung von Reichtum und Erfolg an die herrschenden Verhältnisse.

Ein weiteres Symptom des kapitalistischen Realismus ist die «Ontologie des Unternehmens», durch die nahezu alle Bereiche der Gesellschaft nach Marktprinzipien umgestaltet werden, einschliesslich des Gesundheits- und Bildungssystems. Fisher, der lange als Lehrer arbeitete, analysiert die negativen Effekte dieser allgegenwärtigen Marktbürokratie anhand der eigenen Erfahrungen. Die Zielvorgaben und Prüfungen, die Bildung für die Lehrenden messbar machen sollen, zeigen sich auch bei der europaweiten Modularisierung von Studiengängen, die Universitäten in Kaderschmieden für Unternehmen verwandeln. Die Folgen sind zunächst vor allem auf der individuellen, psychischen Ebene spürbar. Denn durch das ständige Gefühl, kontrolliert und beobachtet zu werden, entwickelt sich eine Paranoia, die uns zu SklavInnen unseres eigenen oder besser: fremdbestimmten Anspruchs macht.

Die allseits beliebte Ironie führt demnach nur zur zynischen Konformität.

Privatisierung von Stress

Ein sichtbareres Symptom der gegenwärtigen Zustände ist die Tatsache, dass der Anstieg von psychischen Krankheiten in der westlichen Gesellschaft eng mit der neoliberalen Ausgestaltung von Arbeit zusammenhängt, die mit immer höheren Leistungserwartungen einhergeht. Da Depressionen vor allem als individuelles und nicht als politisch-ökonomisches Problem behandelt werden, erfolgt eine «Privatisierung von Stress». Die medizinische Pathologisierung, die mit einer Verkürzung auf die chemisch-biologischen Prozesse einhergeht, fördert zudem die Entpolitisierung von Gesundheit. Da Betroffene die Ursachen bei sich selbst suchen, verstärkt sich die individualistische Vereinzelung, während der Konsum von Antidepressiva einen der lukrativsten Weltmärkte füttert. Vor allem hier sieht Fisher ein hohes Politisierungspotenzial, und er fordert etwa eine thematische Neuausrichtung der Gewerkschaften. Es sei an der Zeit, sich von klassischen Lohnverhandlungen zu lösen – zugunsten einer Politisierung von Krankheiten wie Burn-out – sowie einen neuen Kampf um die Kontrolle von Arbeit aufzunehmen, etwa nach dem Vorbild der Arbeiterautonomie in lateinamerikanischen Fabriken.

Aufgrund der klaren Sprache und der virtuosen Verknüpfung von Philosophen wie Slavoj Zizek oder Jacques Lacan, Hollywoodfilmen und Romanen gelingt es Fisher, unsere Realitäten anschaulich zu sezieren und unseren Blick zu schärfen. Ob der Kojote mit einem solchen Durchblick auch über die Klippe gesprungen wäre?

Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?. Aus dem Englischen von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele und Johannes Springer. VSA Verlag. Hamburg 2013. 120 Seiten. Fr. 18.90