schwullesbische Jugend: «Wir wollen Leute sehen, spüren und hören»

Nr. 47 –

Das Internet hat den Alltag für Schwule und Lesben wohl noch stärker verändert als für andere Menschen. Erste Kontakte finden heute vor allem online statt. Doch eine junge Generation ist wieder im analogen Raum unterwegs.

«Ganz wichtig ist der selbstbewusste Zugang – stolz und befähigend»: Ledwina Siegrist und Flo Vock, engagiert bei der Zeitschrift «Milchbüechli».

«Für uns hat es sich alleweil gelohnt, dieses Projekt zu starten», sagt Michi. «Vor allem für mich», ergänzt Ricardo. «Ich habe ja nicht nur ihn gefunden, sondern auch einen ganz neuen Freundeskreis.»

Die beiden sitzen nebeneinander, halten sich an der Hand und geniessen es sichtlich, zusammen zu sein: Michi, 24, angehender Übersetzer aus Sargans, und Ricardo, 19, Berufsmittelschüler aus einem Dorf in der Nähe. Seit kurzem wohnt Michi in St. Gallen, fährt aber mindestens einmal im Monat zurück in die Kleinstadt seiner Jugend, denn hier hat er vor seinem Wegzug den Hobit-Treff gegründet: Die Abkürzung steht für homosexuell, bisexuell und Transgender.

Sargans kennen die meisten nur vom Durchfahren: das Schloss, die hohe Felswand, das nahe Skigebiet Pizol. 5500 EinwohnerInnen, eine winzige Altstadt, ein Gymnasium, Supermärkte. Die Gegend ist traditionell konservativ, heute allerdings im Talboden so zersiedelt wie irgendwo und mit Schnellzug und Autobahn an Zürich, St. Gallen und Chur angebunden: Man ist schnell weg, wenn man will.

Schock im Männerchat

Die Tiki-Bar, wo der Hobit-Treff einmal monatlich in einem separaten Raum stattfindet, liegt zwischen Bahnhof, Autobahn und Sportplätzen. Kinosessel, niedrige Tische, gedämpftes Licht. Aus den Lautsprechern säuselt «Dust in the Wind» der US-Rockband Kansas.

Michi erzählt: «Ich stellte die Idee eines Treffs auf unserer Internetplattform vor, und schon beim ersten Mal kamen zwanzig Leute.» Er stellt klar: «Wir sind keine politisch engagierte Gruppe, wir laufen nicht mit dem Fähnli durchs Dorf oder lancieren Petitionen. Und wir sind auch keine Selbsthilfegruppe, bei der sich jeder vorstellen und sagen muss, wie er sein Coming-out erlebt hat. Das darf man natürlich, aber es soll …» «… ungezwungen sein», ergänzt Ricardo. Er war der Erste, der sich auf Michis Idee meldete.

Ricardo wusste früh, dass er schwul ist. «Aber ich hatte kein Glück mit meiner Klasse. Wir waren nur fünf Männer: zwei Anführer, zwei Mitläufer und ich.» Er habe sich vehement dagegengestellt, das Wort «schwul» als Beleidigung zu brauchen. Diese Weigerung genügte, um als schwul abgestempelt zu werden. Doch Ricardo hielt sich bedeckt. «Ein Kollege aus dem Nachbardorf outete sich früh – und zeigte mir, dass das keine gute Idee war. Er wurde aufs Gröbste angepöbelt, in der Umkleidekabine herumgestossen.»

Ein Coming-out sei wohl heute noch auf dem Land schwieriger als in der Stadt, vermuten Ricardo und Michi. Aber es hänge extrem von KlassenkameradInnen und Lehrpersonen ab. «Bei mir kam das Thema kein einziges Mal im Unterricht vor», sagt Ricardo. Später lernte er zwar andere Schwule in der Gegend kennen und fand sogar einen Freund, aber die Erinnerung bleibt zwiespältig: «Es waren keine fröhlichen Bekanntschaften. Die fand ich erst hier.»

Unerwartet tauchen ein junger Mann und eine junge Frau in der Tiki-Bar auf. Sie kommen aus der Region Buchs und wirken vertraut wie ein Paar – doch er ist schwul, sie lesbisch. Das Gespräch kreist um Computerspiele und die Frage, warum heute fast niemand in den Treff kommt. Denn die Hobits sind eigentlich gut vernetzt, haben Gäste von Chur bis zum Bodensee, vom Walensee bis Vorarlberg.

Das Internet hat vieles vereinfacht. Aber es hat auch Schattenseiten. Michi erinnert sich: «Da gehe ich als Sechzehnjähriger zum ersten Mal in einen Männerchat, und sofort schreibt mir einer: ‹Wie gross ist deiner?›» Ricardo: «Und wenn du nach einem Foto fragst, kommen oft einfach Bilder von Schwänzen. Du musst schon explizit fragen: Hast du auch ein Bild von deinem Kopf?» Michi: «Ich dachte, o nein, was ist das für eine Welt? Als mir einer schrieb und fragte, wie es mir gehe, war das ein richtiger Lichtblick. Er zeigte mir Purplemoon, dort fand ich das erste Date – da merkte ich, dass es auch anders geht: Es gibt auch Liebe zwischen Männern!»

Nicht ohne Kopf

Purplemoon ist die Internetplattform, die im Leben vieler junger Schwuler und Lesben eine grosse Rolle spielt. «Uns ist es wichtig, dass die Leute nicht angemacht und belästigt werden», sagt Andreas Leathley. Zusammen mit Bekannten gründete er die Plattform vor elf Jahren. Auslöser war eine Studie über die hohe Suizidrate unter jungen Lesben und Schwulen. Anfangs sollte es eher um Beratung gehen, aber bald zeigte sich, was das wichtigste Bedürfnis war: sich austauschen, FreundInnen finden. 14 000 Menschen, fast gleich viele Frauen wie Männer und längst nicht nur Jugendliche, haben heute ein Purplemoon-Profil. Darunter auch zehn Prozent, die sich als hetero definieren. Purplemoon ist Teil einer GmbH, Andreas deren Eigentümer und einziger Angestellter. Er verdient knapp 3000 Franken im Monat.

Auf der Plattform gelten genaue Regeln, was als Belästigung gilt und welche Bilder man posten darf. So sind nicht nur Nacktbilder, sondern auch Fotos von Oberkörpern ohne Kopf verpönt. Wer sich nicht daran hält, wird verwarnt, bei gröberen Verstössen fliegt man raus. Natürlich komme es trotzdem vor, dass jemand auf der Plattform eineN SexpartnerIn suche. «Aber weil wir streng sind, was Belästigungen angeht, müssen sie dabei nett sein. Das hat Einfluss auf die ganze Atmosphäre. Ich finde es gut, dass man sich beim ‹Vorspiel› Mühe geben muss», sagt Andreas und lacht.

Ironischerweise nutze er selbst soziale Netzwerke relativ wenig. «Die Leute verschwenden viel Zeit im Internet. Der Kern von Kontakten zwischen Menschen ist für mich immer noch, dass man sich real trifft.» Dazu dienen zum Beispiel die Purplemoon-Partys. Sie finanzieren die Plattform mittlerweile zu 75 Prozent. Denn zu viel Werbung will Andreas nicht auf der Seite. «Wir sind immer noch ein idealistisches Projekt.»

In der Zeit vor dem Internet gab es in vielen Schweizer Städten schwullesbische Jugendgruppen – teils getrennt, teils gemischt. Der schüchterne erste Besuch in der Jugendgruppe war für viele der erste Schritt zum Coming-out. Dann kam das Internet und veränderte die Szene völlig. Ein Jugendtreff nach dem anderen ging ein, bis nur noch das Berner «ComingInn» übrig blieb. Doch Anfang 2011 entstand die neue Basler Jugendgruppe Anyway, dann folgten weitere in Zürich und Biel. Dazu kommen Gruppen an Universitäten und informellere Treffs wie in Sargans. Und etwas ganz Neues: das «Milchbüechli», die «Zeitschrift für die falschsexuelle Jugend». Ein fröhliches Heft, liebevoll gestaltet, mit Texten aller Art: Erlebnisberichte, Filmtipps, Sexberatung, Bastel- und Schminktipps, Artikel über Homosexualität als Fluchtgrund oder Mobbing in der Schule. Seit Sommer 2012 sind fünf Nummern erschienen.

«Wir sind nicht gleich»

«Das Internet genügt nicht», sagt Flo Vock, der im «Milchbüechli» ironisch «Chefredaktor» genannt wird. «Wir sind Menschen, wir wollen Berührungen, wir wollen andere Leute sehen, spüren und hören. Das ist die menschliche Ebene. Dazu kommt die inhaltliche: Viele Websites werden nach einiger Zeit nicht mehr aktualisiert. Ein Heft eignet sich besser: Da weiss man, dass die Termine wirklich stattfinden.» Weil es lesbischen und schwulen Jugendlichen trotz Internet nicht besser gehe – auch er erwähnt die hohe Suizidrate –, habe er mit Bekannten das «Milchbüechli» gegründet. «Klar, man ist tolerant heute – aber ‹schon okay finden› reicht nicht. ‹Ihr seid genau gleich› reicht nicht. Es ist ein Fortschritt, aber es reicht trotzdem nicht. Wir sind nicht gleich, wir haben andere Bedürfnisse und Wünsche.» Etwa fünfzehn Leute engagieren sich ehrenamtlich intensiv für das «Milchbüechli», Texte einsenden dürfen alle.

Flo, 23, lebt in Baden, studiert Soziologie und Philosophie und ist auch noch ehrenamtlich Mitglied der Juso-Geschäftsleitung. Viel zu tun – aber keine Spur von Müdigkeit. Er wirkt begeistert, genauso wie Ledwina Siegrist. Sie, die «Textchefin», lebt in Basel, ist 25, studiert Pädagogik und Genderstudies. «Für mich ist es wichtig zu vermitteln, dass es viele Formen von Geschlechtlichkeit und sexuellem Begehren gibt. Und ganz wichtig ist der selbstbewusste Zugang. Stolz und befähigend.» Das gelingt den «Milchbüechli»-MacherInnen gut: Das Selbstbewusstsein ist auf jeder Seite spürbar. «Denn wir sind auch nicht normal. Und das ist wunderbar», hiess es in der ersten Nummer.

Ledwina lässt Themen aus ihrem Studium in ihre Texte einfliessen. Zum Beispiel hat sie über das «Kontrasexuelle Manifest» der spanischen Queertheoretikerin Beatriz Preciado geschrieben (der Dildo ist politisch!). Oder über «Pansexualität»: Pansexuelle Menschen verweigern Kategorien wie «lesbisch» oder «bisexuell» und lieben, wen sie mögen. Sie hat ein Lesbenpaar mit Kind interviewt und über eine «Bärenparty» berichtet, wo sich Männer treffen, die auf Bärte, Körperhaare und Leder stehen. Verständlich zu schreiben, sei aber trotz Theorie wichtig, sagt Ledwina, und Flo ergänzt: «Ein sechzehnjähriger Lehrling soll mit den Texten etwas anfangen können.»

Google sei Dank

Die Kritik an der «Homonormativität», den Klischees in der Lesben- und Schwulenszene, ist ein grosses Thema im «Milchbüechli». Ledwina: «Wenn eine Lesbe nicht dem Klischee entspricht, wird sie oft nicht als Lesbe wahrgenommen.» Flo: «Ich denke, die Mechanismen der Normierung sind bei Lesben und bei Schwulen ähnlich stark.» Ledwina: «Lesben sind einfach weniger kommerziell ausbeutbar.» Flo: «Wir treffen immer wieder Jugendliche, die genau diese Fragen stellen: Warum fühle ich mich in der Szene komisch? Warum machen wir die Pride so und nicht anders?» Ledwina: «Der Anspruch, sich an einer Norm zu orientieren, ist bei Jugendlichen stark. Wir sagen: Die Normen setzen wir selber.» Flo: «Darum sind die Jugendgruppen so wichtig. Und auch die Bilder. Auf unseren Bildern sind keine Models mit perfekten Körpern, sondern einfach Jugendliche, ungeschminkt …» Ledwina: «Aber mit Schminke!» Flo: «Jedenfalls soll die Bildsprache sich klar absetzen von Mainstreamschwulenheftchen.» Ledwina: «Der Do-it-yourself-Gedanke ist uns wichtig – auch wenn wir die Seiten nicht von Hand zusammenkleben. Das Heft ist nichts Fixes und Festes, sondern wandelbar.»

Sie seien nicht enttäuscht vom Internet, sagt Flo. «Ich war ja so froh, dass ich mit sechzehn zuerst einfach ein bisschen googeln konnte! Ich hätte mich noch nicht getraut, mit jemandem zu reden. Ich glaube, viele Jugendliche finden einen guten Umgang: Sie brauchen das Internet, um Kontakte zu knüpfen, aber treffen sich dann auch. Wenn jemand vierzehn ist, im hintersten Thurgau wohnt und nur einmal im Monat nach Zürich kann, ist er froh, dass er in der restlichen Zeit auch chatten kann.» Das Beste aus beiden Welten zu nutzen – das gelingt der schwullesbischen Jugend offenbar ganz gut.