Auf allen Kanälen: Das Ende der Recherche

Nr. 6 –

Pauschalisierend, teils ausländerfeindlich: Der «Tagi»-Politblog veröffentlicht Vorwürfe eines anonymen Polizisten. Darauf folgt ein skurriles Hin und Her.

«Der Autor dieses Beitrags ist ein erfahrener Polizist aus dem Kanton Zürich. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wird sein Name nicht genannt.» Das steht im Politblog von «Tagesanzeiger.ch/Newsnet» unter einem Beitrag, der seit vergangenem Freitag für Irritation sorgt. Es geht in dieser Geschichte um einen Polizisten, der viel erzählen, aber unbedingt anonym bleiben will. Einen Redaktor, der das Diskussionspotenzial eines Textes über die Fakten stellt. Und einen Polizeisprecher, der zwar viel sagen dürfte, das aber genau nicht will.

Die «Carte Blanche» des Politblogs bietet GastautorInnen eine Meinungsplattform. In diesem Fall: einen Freipass für massive Vorwürfe, ganz anonym. Das «wahre Ausmass» der Gewalt in der Schweiz werde von den Behörden und der Politik «verschwiegen und verharmlost», schreibt der Polizist. «Die Frage, wer die Täter sind, versucht die Politik immer wieder elegant zu umgehen.» Mit der Identität der TäterInnen meint er ihre Nationalität beziehungsweise die Nationalität ihrer Eltern oder gar Grosseltern. Denn der Polizist zählt auch diejenigen Personen mit, die zwar Schweizer BürgerInnen sind, aber vermutlich weniger lang als er selbst.

Ohne Beispiele, ohne Fakten

Im Blogbeitrag des Polizisten treffen pauschale Verallgemeinerungen auf Ausländerfeindlichkeit. Keine konkreten Beispiele, keine Fakten. So brechen nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Familien kollektiv das Gesetz: Seit den neunziger Jahren sei «eine grosse Zahl an kriminellen Personen und Familienclans eingereist». Die Situation sei bald ausser Kontrolle: «Ignorieren wir diese negativen Entwicklungen weiter», so der Autor, «wird die Schweiz für uns Polizisten nicht mehr kontrollierbar. Wir sind auf dem direkten Weg dorthin.» Dabei verzeichnet die Statistik der Kantonspolizei das Gegenteil: Seit 2005 sinkt die Kriminalität stetig. 2014 war sie auf dem tiefsten Stand seit 1980, seit Beginn der Statistik.

Rassismus im Polizeikorps, lügende Politikerinnen und Bürokraten und PolizistInnen, die fürchten, die Kontrolle zu verlieren: Das wäre Stoff für eine packende Reportage. Aber bei «Tagesanzeiger.ch/Newsnet» hat man sich gegen die journalistische Arbeit entschieden. Als sich ein Polizist – just vor der Abstimmung über die Entrechtungsinitiative der SVP – meldet, um seine Sicht der Dinge darzulegen, ist das nicht der Anfang einer Recherche, sondern deren Ende.

Verschwunden – und wieder da

Ganz professionell ging die Veröffentlichung aber nicht über die Bühne: Als der Blogeintrag am Freitag online geht, verschwindet er noch am selben Abend wieder von der Website. Der inzwischen auf sozialen Medien herumgereichte Link dazu ist tot. Bis am Samstagmittag. Dann ist der Text plötzlich wieder online – und um zwei Sätze in der Fusszeile zum Autor ergänzt: «Die Redaktion hat den Mann getroffen und kennt seine Identität. Der Beitrag ist Teil einer Debatte, demnächst folgt eine Replik.»

Im politisch aufgeheizten Klima vor der Abstimmung über die Entrechtungsinitiative der SVP lässt sich ein solcher Beitrag nicht mehr ungeschehen machen. Das zeigt sich schon am Freitagabend in der «Arena» des Schweizer Fernsehens, wo sich SVPler auf den Blogeintrag des Polizisten beziehen. Rechtsradikale Foren wie der «SchweizerKrieger – Bruderschaft 1291» feiern den Kommentar: «Was WIR seit Jahren schreiben, wird eindeutig bestätigt!»

Die versprochene Replik erscheint am Dienstagmorgen, von einem weiteren anonymen Polizisten: Differenziert gedacht, präzise geschrieben, mit Bezug auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Kriminalität – und auf rassistische Ressentiments im Polizeikorps.

Auf Twitter äussern sich verschiedene JournalistInnen kritisch zum Vorgehen des zuständigen Redaktors Vincenzo Capodici. Dieser verteidigt seine Entscheidung: «Alle reden über Kriminalität, nur die Polizisten kommen nicht zu Wort», so der Leiter des Politblogs. Die Anonymität sei die Ausnahme. Der Blog sei ein offenes Debattenforum, die LeserInnen könnten einen Beitrag kommentieren und kritisieren.

Am Mittwoch erscheint der erste Blogbeitrag in der Printausgabe der «Basler Zeitung»: anonym und ohne Verweis auf eine «Debatte». Ob die Replik auch gedruckt wird, weiss man bei der «BaZ» nicht. Bei der Zürcher Polizei dürfen sich offiziell nur wenige öffentlich äussern: Polizeisprecher Marco Cortesi will zu den anonymen Vorwürfen nicht viel sagen: «Es ist nicht mal klar, ob es diese Quelle überhaupt gibt.»