Paul Mason: Prekarisierte aller Länder, vernetzt euch!

Nr. 16 –

Nach der Analyse die Utopie: Der britische Wirtschaftsjournalist Paul Mason zeigt in «Postkapitalismus», wie mit Sharing Economy die Monopole der Konzerne gebrochen werden können.

Kapitalismuskritik ist in. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 sind viele Analysen über die Funktionsweise des neoliberalen Wirtschaftens erschienen, die bekannteste ist Thomas Pikettys Bestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» über die Ungleichheit. Utopien, die einen Weg aus dieser Gesellschaftsordnung der deregulierten Märkte und des Konsumzwangs finden, sind dagegen rar. Das ist umso erstaunlicher, als sich die herrschende Ordnung nicht nur in abstrakten Zahlen ausdrückt, sondern auch in der Trostlosigkeit des konkreten Arbeitsalltags. Millionen von Menschen arbeiten in befristeten, unterbezahlten Jobs. Viele müssen zu UnternehmerInnen ihrer selbst werden, um sich auf dem entsolidarisierten Arbeitsmarkt zu behaupten. Und die erste Pflicht gegenüber dem Staat scheint häufig nicht mehr die eines Bürgers, einer Bürgerin zu sein, sondern die eines dauerkonsumierenden Avatars.

Für Visionen bleibt kaum Zeit. Wären da nicht AutorInnen wie der englische Wirtschaftsjournalist Paul Mason, der mit seinem Buch «Postkapitalismus» eines der interessantesten kapitalismuskritischen Werke der letzten Jahre vorgelegt hat. Der Untertitel «Grundrisse einer kommenden Ökonomie» macht bereits klar: Hier will einer nicht nur analysieren, sondern die Zukunft gestalten, was im angloamerikanischen Raum für rege Debatten sorgte.

Griechische Experimente

Mason ist kein linker Dogmatiker, sondern ein wacher Analytiker mit sozialistischer Neigung. Seine Kritik am neoliberalen System basiert auf Nikolai Kondratjews Long-Wave-Theorie, der zufolge alle kapitalistischen Wirtschaftszyklen von technischem Fortschritt vorangetrieben wurden, wie etwa die Revolutionswelle in Europa von 1848 durch die Entstehung der Eisenbahn. Die jetzige fünfte – von der Digitalisierung ausgelöste – Welle stecke jedoch fest, da Innovationen systematisch blockiert würden. Trotz der historischen Chance, dank einer zunehmenden Automatisierung im Überfluss zu leben, werde die Krise dadurch künstlich verlängert.

«Wir stehen auf einer Schwelle der Möglichkeiten: für einen kontrollierten Übergang jenseits eines freien Markts, jenseits von Kohlendioxid, jenseits von verpflichtender Arbeit», schreibt Mason. Das Potenzial für den Übergang zum Postkapitalismus liegt seiner Meinung nach im Informationskapitalismus. Der Begriff entstand in den sechziger Jahren, als ÖkonomInnen wie Nobelpreisträger Kenneth Arrow merkten, dass wirtschaftliche Aktivitäten nicht allein aus Kaufen und Verkaufen bestehen, sondern auch aus «Externalitäten», die hauptsächlich aus Informationen zusammengesetzt sind.

Die Widersprüche des heutigen Kapitalismus liegen entgegen der klassischen marxistischen Annahme nicht im Unvermögen, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern «im Gegensatz zwischen Technologie und Markt» sowie zwischen «freien, sozial produzierten Gütern und dem System der Monopole, Banken und Regierungen». Kostenlose Informationen erschweren die Preisfindung, weil der Markt seine Preise seit Jahrhunderten aus der Knappheit von Ressourcen bestimmt. Informationen wären dagegen im Überfluss vorhanden.

Ein Weg zum Postkapitalismus führt gemäss Mason über Open Source, also über öffentlich zugängliches Wissen und kollektiv produzierte Güter jenseits kommerzieller Interessen. Zu beobachten ist eine solche Sharing Economy zurzeit im krisengeschüttelten Griechenland, wo Essenskooperationen, Parallelwährungen und lokale Tauschsysteme, von kostenlosen Unterkünften über Autobörsen bis zu Kindergärten, entstanden sind. Die Währungen, mit denen dort gehandelt wird, sind freie Zeit, kostenlose Waren und Netzwerkaktivitäten.

Doch wie lassen sich solche Alternativen auch allgemein umsetzen? Gerade in einer Zeit, in der es aufgrund neoliberaler Politik und der Zerschlagung von Gewerkschaften keine Arbeiterklasse mehr gibt? Diese wurde vom Prekariat abgelöst, dieser heterogenen Gruppe aus Millionen von unterbezahlten MinijobberInnen und AkademikerInnen mit befristeten Stellen. Da Solidarität heute durch Unbeständigkeit ersetzt wurde, sieht Mason alle in der Pflicht. Der Hauptkonflikt liege zwischen dem Aufbau von Netzwerken und der von globalen Banken und Konzernen repräsentierten Hierarchie. In einer vernetzten Welt sind die Agenten des Wandels nicht mehr nur die Staaten, Organisationen und Parteien. Vielmehr sind es die Netzwerke der vielen, die mithilfe frei verfügbarer Informationen eine zunehmende Dezentralisierung von Macht bewirken und Märkte jenseits von geldabhängiger Produktion schaffen könnten. Das Machtpotenzial des Prekariats als gut vernetztes und gebildetes Konglomerat ist nicht zu unterschätzen.

Technikoptimismus

Dennoch könne der Übergang nicht ohne, sondern nur mit dem Staat erfolgen. Für Mason ist Postkapitalismus weniger ein politisches Programm als ein «Verteilungsprojekt». Er weiss, dass innovative Projekte ohne staatliche Förderung nicht wachsen können. Der Staat soll wie Wikipedia agieren, Open-Source-Projekte fördern und für eine bessere Infrastruktur sorgen, die organisch weiterwachsen kann. Masons technikoptimistische Argumente stehen denen des Akzelerationismus nahe, der auf eine Beschleunigung der Technik setzt. Computer, die bereits in der Lage sind, Verkehrsflüsse und Epidemien zu simulieren, sollten in Zukunft auch für postkapitalistische Unternehmungen eingesetzt werden, nicht nur zur Analyse höchst profitabler Geschäfte.

Ein globales Institut könnte etwa testen, was passieren würde, wenn man den aktuellen Preis für ein Paar Nike-Schuhe von 190 auf 20 US-Dollar reduzieren würde. Für Mason wäre das mit folgenden Fragen verbunden: «Leidet die globale Sportindustrie, wenn Nikes Marketingausgaben nicht länger sprudeln? Sinkt etwa die Qualität, wenn im Herstellungsprozess kein Markenwert mehr bewahrt werden muss?»

Eine grundlegende Hürde für das ambitionierte Projekt ist die wachsende Schuldenlast der westlichen Staaten aufgrund der wachsenden Renten für die alternde Bevölkerung. Zentral seien kontrollierte Schuldenerlasse sowie die Notwendigkeit, die Zinsen geringer zu halten als die Inflation. Um das zu finanzieren und Ungleichheiten zu reduzieren, sollten die Märkte nicht einfach geschlossen, sondern besser kontrolliert werden. Verstaatlicht werden müssten hingegen die Energiekonzerne sowie ein Teil des Finanzsystems. Die Banken sollen in lokale Banken oder Kreditgenossenschaften aufgeteilt werden und zu ihrer historischen Rolle zurückkehren: der Verteilung von Geld zwischen Unternehmen, SparerInnen und LeiherInnen.

Um die Löhne von der Arbeit zu trennen und den Übergang zu einer kürzeren Arbeitswoche zu gewährleisten, plädiert Mason für ein Grundeinkommen. Die Löhne sollten jedoch stets höher sein, um den Anreiz zu Arbeit zu gewährleisten. Dieser Wandel, zu dem auch der möglichst rasche Übergang zu erneuerbaren Energien gehört, erfordere die Bereitschaft aller, sich mit lokaler Energiearmut abzufinden und einen Teil des gegenwärtigen Wohlstands zugunsten von Rentenkürzungen zu opfern.

Der Theoretiker Fredric Jameson sagt, es sei heute leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Mit «Postkapitalismus» kommt man dem besseren Ende einen Schritt näher.

Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016. 428 Seiten. 30 Franken