Durch den Monat mit Elisabeth Joris (Teil 2): Wollten Sie nie ganz ins Wallis zurück?

Nr. 45 –

Die Historikerin Elisabeth Joris aus Visp lernte als Kind, im Widerspruch zur katholischen Kirche zu leben, obwohl sie sich viel lieber angepasst hätte. Später wurde dieser Widerspruch eine wichtige Ressource.

Elisabeth Joris: «Meine Bewerbung im Wallis wurde nicht einmal beantwortet.»

WOZ: Elisabeth Joris, erzählen Sie uns etwas über den Tod von Theodor W. Adorno?
Elisabeth Joris: Es war im August 1969, als meine Mutter mir sagte, ein Verwandter aus Lausanne habe sie telefonisch gebeten, ins Spital in Visp zu gehen, um einen Herrn Adorno zu besuchen. Dieser Verwandte führte eine renommierte Buchhandlung in Lausanne. Er sorgte sich um den Patienten.

Ihre Mutter besuchte ihn?
Wahrscheinlich schon, ich kann das nicht mit letzter Sicherheit sagen. Mir war der Name Adorno noch nicht bekannt. Erst als ich mich später mit seinen Schriften beschäftigte, dachte ich: Diesen Adorno hat doch meine Mutter im Spital besucht! Ich schaute nach, und wirklich war er in Visp gestorben. Mein erster Kontakt mit Adorno besteht also darin, dass er dort gestorben ist, wo ich zur Welt gekommen bin.

Wer waren Ihre Eltern?
Mein Vater stammte aus Martigny. Er war Sohn eines Apothekers und eingebunden in eine politisch lange Zeit einflussreiche, radikale Verwandtschaft des Unterwallis. Gleichwohl ging er ins katholische Kollegium Saint-Michel in Fribourg. Danach studierte er in Lausanne und wurde Chemiker bei der Lonza in Visp.

Welchen Beruf hatte Ihre Mutter?
Meine Mutter lernte keinen Beruf. Sie ging einige Jahre ins Gymnasium und arbeitete dann gratis bei ihrem Vater, der ebenfalls Apotheker war. Dafür bekam sie eine Aussteuer zur Hochzeit.

Wie wichtig ist die Walliser Herkunft für Sie heute noch?
Es ist sehr zwiespältig. Kürzlich, am 1. November, fuhr ich nach Visp …

… wegen Allerheiligen?
Lange Zeit bin ich nicht mehr hingegangen. Aber wenn an Allerheiligen die Musik in Visp auf dem Friedhof spielt und alles nach Weihrauch duftet, dann rührt mich das. Als Kind habe ich mich damit abfinden müssen, dass ich im Widerspruch zum religiösen Mainstream lebte. In der Pubertät wurde gerade dieser Widerspruch zu einer wichtigen Ressource.

Warum standen Sie als Kind im Widerspruch zur Religion?
Man hätte sich den katholischen Vorstellungen anpassen sollen: zum Beispiel keine Kniesocken tragen als Mädchen, sondern lange Strümpfe. Doch meine Mutter wehrte sich entschieden dagegen, dass die Kirche ins Privatleben hineinredete. Verbot von Kniesocken und Hosen in der Schule? «Das geht die gar nichts an», sagte die Mutter, «ich entscheide, was ihr anzieht!»

Sie hätten sich viel lieber …
… angepasst! Das kann ich zumindest von mir selber sagen. Meine Schwester war fünf Jahre älter und kam noch viel stärker unter die Räder. Wir leisteten Widerstand gegen die Kirche, doch der Widerstand kam in Wirklichkeit von unserer Mutter.

Und der Vater?
Der Vater ging nie zur Kirche. Man wusste, wenn er stirbt, kommt er stante pede in die Hölle. Grauenhaft. Ich betete jahrelang für die Rettung meines Vaters. Oft musste er nachts ins Labor, und ich schlief fast nicht vor Angst, weil ich gehört hatte, dass es dort tödliche Unfälle geben konnte. Er wäre unrettbar verloren gewesen. Sagte ich dem Vater einmal etwas von meiner Sorge, dann antwortete er ironisch: «Prie pour moi! Bete für mich!» So war das. Und Mutter fluchte ständig auf die Klosterfrauen! Ich bin dann im französischen Unterwallis zur Schule gegangen, dort gab es keine Probleme mit Kniesocken. Bald verschwanden solche Probleme auch in Visp.

1965 verliessen Sie das Wallis, 1966 kamen Sie nach Zürich.
Nach Zürich zu kommen, war eine ungeheure Befreiung. Wie wenn ich endlich atmen konnte! Nicht mehr ständig einer Familie zugeordnet zu werden. Die kritische Hinterfragung der Kirche, die hier möglich war, auch ihrer sexuellen Vorstellungen. Bald gründeten wir das Kritische Oberwallis.

Von Zürich aus?
Studierende in Zürich, kritische Lehrlinge und Mittelschüler im Wallis. Wir organisierten zuerst zwei Tagungen in Brig, dann gaben wir eine Zeitung heraus, die wir gratis vor Fabriktoren verteilten. In der «Roten Anneliese» habe ich meine ersten Texte veröffentlicht.

Wollten Sie niemals ganz ins Wallis zurückkehren?
Seit 1968 bin ich mit Peter Seiler aus Brig zusammen. Nach einer Assistenz an der ETH in Zürich bewarb er sich als Mathematiklehrer im Wallis. Peter war der einzige Kandidat, der die Bedingungen erfüllte, doch er bekam die Stelle nicht. Er war ebenfalls beim Kritischen Oberwallis. Ein Jahr später bewarb ich mich selber. Meine Bewerbung wurde nicht einmal beantwortet. Die politische Aktion hätte uns zurückführen sollen. Ehrlich gesagt, wir waren nicht unglücklich, dass wir in Zürich bleiben konnten.

Elisabeth Joris (70) gehörte als Geschichtsstudentin zu den GründerInnen der Bewegung Kritisches Oberwallis. Später unterrichtete sie ein Berufsleben lang an einer Zürcher Mittelschule und forschte als feministische Historikerin. Sie hat einen Mann, zwei Söhne und zwei Enkelinnen.